Kapitel 33 – Katharsis
Als Lucius in den Gemeinschaftsraum hinunterkam, musste er feststellen, dass nur eine weitere Person anwesend war. Dabei war er nicht wirklich früh aufgestanden, es war schon nach neun Uhr. Er hoffte darauf, dass die anderen oder wenigstens Potter bald nachkommen würden, denn er wollte so wenig Zeit wie möglich allein mit Hermine verbringen. Diese saß zurechtgemacht auf einem der rot-goldenen Sofas. Hochkonzentriert blätterte sie in einem Buch, bevor sie dieses auf den Bücherstapel, der sich auf dem niedrigen Couchtisch gebildet hatte, legte.
Ächzend ließ er sich im ausgesessenen Sessel nieder und beobachtete sie. „So früh schon in der Bibliothek gewesen?" Eine dämliche Frage, die Antwort war offensichtlich. „Ich wollte noch einmal an das Gespräch über die Aufrichtigkeit anknüpfen", kündigte er ihr an.
Hermine hob die Augenbrauen. Sie sah ihn an, als könne sie nicht glauben, dass er es wagte. Doch es hatte ihm schwer im Magen gelegen.
„Ich war ein Gefangener meiner Vorurteile", begann er und beobachtete, wie sich Verwunderung in ihrem Gesicht bereitmachte. Gespannt klappte sie das Buch zu, aber behielt es in den Händen. „Du bist jung und zwischen uns bestand eine gewisse Antipathie, sodass ich deine Worte als überzogen abgeschmettert habe. In der Nacht hatte ich Zeit, darüber ausführlich nachzudenken."
Unwissend wohl, wie sie reagieren sollte, klappte sie das Buch wieder auf und fühlte mit den Fingern das raue Papier. Doch sie schwieg und ließ ihn weiter nach Worten ringen.
„Du hast mich durchschaut." Die Worte fielen wie Schüsse. Nun konnte er sie nicht mehr zurücknehmen, er konnte sie nur noch bei Bedarf leugnen. Die ganze Nacht hatte er über ihre garstigen Vorwürfe nachgedacht und sich geärgert. Er war zornig gewesen, dass sie so mit ihm gesprochen hatte und wütend, weil er für einen Moment gedacht hatte, sie habe recht. Er sei selbst schuld an seiner Misere. Dabei hatte er sich den Großteil seines Lebens nicht einmal einsam gefühlt. Nichts hatte er falsch gemacht. Das Streben nach Einfluss war etwas Natürliches, jeder sah sich danach um. Dass er diesbezüglich talentierter war als die meisten … – dass er durch seine Einfühlsamkeit schnell wusste, was er jemandem versprechen musste, um zu bekommen, was er wollte, konnte er sich nicht vorwerfen lassen.
Hermine legte das Buch zur Seite.
Er lehnte sich zurück, fluchte innerlich und rückte mit dem Sessel näher an sie heran. „Ich kann nicht versprechen, dass ich mich ändern werde. Selbst wenn ich das tun würde, hättest du daran deine Zweifel … – Deine berechtigten Zweifel." Er kam nicht umhin, Hermine auch zu bewundern. Sie war eine der wenigen, die sein Schauspiel durchschaut hatten. „Gestern habe ich dich für deine Ehrlichkeit verflucht." Sein erster Instinkt war es gewesen, sie zu meiden oder gar gegen sie zu intrigieren, sobald sich die Gelegenheit dafür bieten wollte. Doch da hatte er gemerkt, dass sein Zorn kein Zorn war, sondern Schmerz. „Ich denke immer noch, dass du aus einer hohen, idealistischen Position zu mir gesprochen hast, aber mit der Quintessenz hattest du nicht Unrecht."
„Was war denn die Quintessenz meiner Worte?", wollte sie prüfend wissen.
Er schluckte und beugte sich nach vorn, doch von der plötzlichen Nähe waren beide irritiert. Hermine hatte Recht gehabt, in allem, was sie ihm aufgezeigt hatte. Er war stur seinen Weg gegangen. Er hatte sich so verhalten, dass es auf Außenstehende egoistisch erscheinen musste. Das erst hatte ihn in diese Zwickmühle geführt. „Dass ich nicht berechnend mit meinen Mitmenschen umgehen und weniger auf meinem eigenen Vorteil bedacht sein sollte."
Sie nickte, wich aber seinem Blick aus.
„Und dass ich ziemlich einsam deswegen geworden bin." Wenn er wieder weiterkommen wollte, dann war er auf Verbündete angewiesen. Doch momentan hatte niemand ein Interesse daran, für ihn ein gutes Wort einzulegen. Er war ein Todesser.
„Ich muss mich auch bei dir entschuldigen", flüsterte sie. Es war offensichtlich, dass sie sich überwinden musste. „Du strebst nach Einfluss und dein Verhalten finde ich scheinheilig. Wenn ich aber ehrlich bin … – Wer weiß, wie ich mich verhalten würde, würdest du die Dinge zu meinem Besten manipulieren."
Kaum einer würde ihm so viel Einfluss wie sie verschaffen können. Was noch wichtiger war: Sie handelte rational, basierend auf ihrem Verstand. Er musste alles auf eine Karte setzen und versuchen, die Kluft, die zwischen ihnen bestand, zu überbrücken. Nicht nur zum Schein, sondern wirklich.
„Aber ich sollte es nicht gutheißen", fügte sie harsch an.
„Ich verstehe." Wenn er an die Gespräche mit Hermine zurückdachte, waren diese nervenaufreibend und im höchsten Maße fordernd gewesen. Doch er musste einsehen, dass das nicht nur an ihr lag. Es hatten sich zwei gefunden. „Ich wollte dir nur mitteilen, dass ich ab jetzt von Grund auf ehrlich zu dir sein werde. Kein Schmeicheln mehr, keine berechnenden Handlungen."
Sie kaute auf ihren Lippen. „Dann fangen wir gleich an. Was erhoffst du dir davon?"
Er schluckte, auch wenn die Frage wenig überraschend war. „Die Erfüllung einer Notwendigkeit. Ich werde wohl oder übel mit dir auskommen müssen. Zu den Todessern kann ich nicht zurück und der Rest des Ordens ist mir nicht wohl gesonnen."
„Und du glaubst nicht, die anderen bezirzen zu können? Du umgarnst lieber mich?"
Bei solcher Überheblichkeit hätte Lucius beinahe gegrinst, doch er biss sich auf die Zunge. „Die anderen sind viel zu emotional. Ich kann keine Wunder wirken. Du hörst stark auf deinen Verstand, dass es mir am möglichsten erschien."
Sie schnaufte abfällig und betrachtete ihn grimmig. „Da hast du dich geschnitten." Ihr Blick glitt über sein Gesicht bis zu seinen Händen, die ruhig seinen Gehstock, den er sich über seine Beine gelegt hatte, drehten. Sie errötete und widmete sich wieder ihrem Buch.
Erst jetzt merkte Lucius, dass er lächelte.
„Warum hast du all die Jahre Vol-… Ihn, dessen Name nicht genannt werden darf, unterstützt?"
Er seufzte. Schon war der Moment vorbei. „Die Antwort wird dich nicht erfreuen."
„Damit rechne ich auch nicht. Sag, warum willst du Muggelstämmige verfolgt sehen? Warum willst du sie umbringen?" Ihre Hände verkrampften sich und unter ihrer Haut schien es zu kochen.
Lucius wusste, dass er sich auf dünnes Eis begab. Er schüttelte verlegen mit dem Kopf. „Ich habe nie einen Menschen umgebracht. Vor den meisten Morden, Raubzügen und Folterungen bin ich durch die gute Stellung meiner Familie bewahrt worden. Ich war eher der Schreibtischtäter … gewesen."
Wütend ließ Hermine das Buch zuschnappen und warf es lieblos auf den Bücherstapel, der mit Grollen umfiel. „Wage es ja nicht, deine Taten kleinzureden!"
Reflexartig griff Lucius seinen Zauberstab. Er hatte mit Vielem gerechnet, aber mit einem solchen Wutausbruch? Anscheinend war er geradewegs in ein Minenfeld gelaufen? In Gedanken schollt er sich als Idioten. Gern sah er sich selbst als Diplomat, momentan glich er aber eher einem Elefanten im Porzellanladen. Dabei hatte er doch endlich auf Hermines guter Seite landen wollen.
Beschwichtigend hob er die Arme und wollte einen Persilschein nachschieben, doch Hermine war schneller: „Es ändert nichts daran, dass du die Grausamkeit der anderen Todesser geduldet hast. Nein, du hast sie sogar unterstützt und gefördert." Wehleidig und ein wenig über sich selbst erschrocken, blickte sie dem Buch hinterher. „Das ist unverzeihlich..."
„Ich weiß."
Verwundert sah sie dann doch zu ihm hoch. „Ich dachte jetzt, du würdest meine Zweifel und meinen Unwillen wegdiskutieren versuchen ..." Schmerzvoll verzog Hermine das Gesicht. „Aber … – Du musst doch … – Ich weiß nicht … – Was willst du eigentlich von mir? Warum behelligst du mich überhaupt damit?"
Lucius zuckte zusammen. „Du hast doch gefragt?"
„Wie konntest du die Reinblutideologie vertreten?", warf sie ihm vor.
Lucius starrte auf seine Hände und sagte nichts.
In diesem Moment kam Dennis Creevey herein. Er sah aufgeregt und erleichtert aus, sie hier zu sehen. „Hermine!" Mehrmals wiederholte er ihren Namen und hielt verwirrt inne, als er Lucius als ihren leidenschaftlichen Diskussionspartner identifizierte. Nach einem Augenblick hatte er sich wieder gefangen. „Ich bin heute einem Mann in der Winkelgasse begegnet, der mit dir reden möchte. Er hat wohl eine Bedienungsanleitung, die er dir überlassen möchte. Es war ein komischer Kauz … – zugegebenermaßen ..."
Hermine sprang auf. „Tomasz?"
„Äh, ja?" Dennis musterte sie eindringlich. „Du kannst damit was anfangen?"
Sie nickte energisch.
Dennis war noch verwirrter als zuvor. „Von was für einer Bedienungsanleitung hat er denn gesprochen? Er wollte mir die Nachfrage nicht beantworten."
„Äh … – Es ging um einen Handstaubsauger, alles gut. Er ist eben ein komischer Kauz ..."
Augenblicklich hatte Dennis das Interesse verloren. „Gut, dann geh ich jetzt frühstücken." Mit einem letzten Blick auf Lucius dackelte er davon.
Hermine sah ihm hinterher und wartete, bis er außer Hörweite war. „Wenn du nicht antworten möchtest, dann denke ich mir meinen Teil."
„Es ist nicht so, wie du denkst, aber es ist nicht einfach." Es war wirklich kompliziert. „Ich bin damit aufgewachsen. Ich habe sie meinem Sohn angedeihen lassen."
„Oh, ja! Und nicht zu wenig!"
„Ich habe sie nie hinterfragt. Zum einen, weil man Leute, die einem sagen, man sei etwas Besonderes, nicht in Frage stellt und zum anderen, weil schon etwas Wahres dran ist."
Ihr pfiffen die Ohren. „Wie kannst du das behaupten? Ich bin eine der talentiertesten Hexen, meine ZAG-Ergebnisse weisen kein einziges E oder schlechter auf und meine Eltern waren Muggel!"
„Das meine ich nicht!", beeilte sich Lucius. „Du bist die Ausnahme! Viele Muggelgeborene lernen langsamer als du und halten die anderen Schüler auf, weil man bei ihnen von Null anfangen muss. Ihnen fehlt das Grundverständnis für Magie, das sie sich erst mühevoll erarbeiten müssen. Du hast doch deine Nase immer zwischen Buchseiten gehabt, nicht?"
„Deswegen unterstützt du ihre Verfolgung? Weil sie zu langsam lernen?", fragte sie mit zynischer Stimme.
„Das ist noch nicht alles. Durch die Muggelgeborenen und ihren Familien lernen immer mehr Muggel von der Existenz der Zaubererwelt. Die Mund-zu-Mund-Weitergabe ist schwer zu unterbinden und auch viele Eltern sind nicht erfreut, wenn sich ihr Kind als Magier entpuppt. Die meisten Großeinsätze der Vergiss-mich werden durch die Unvorsichtigkeit eines Muggelstämmigen ausgelöst. Viele von ihnen ziehen sich mit Verbitterung wieder aus der Zaubererwelt zurück."
„Weil wir in der Zaubererwelt benachteiligt werden!", rief Hermine.
„Weil es nicht euer Platz ist. Ihr wurdet in eine andere Welt geboren. Ihr kommt in unsere und spielt euch auf, als hätte ihr alles erschaffen. Als gehöre euch alles. Ihr habt noch eine zweite Welt, in die ihr euch nach Belieben zurückziehen könnt, aber ihr wollt unbedingt die unsere."
Hermine schnaufte. Sie hatte keine Zeit für so etwas. Seine Ideologie war nur ein Nebenkriegsschauplatz, der bis zum Fall Voldemorts eine untergeordnete Rolle spielen konnte. „Wir werden keine Freunde."
Lucius ergab sich. „Es ist Politik. Wärst du bereit, über unsere unterschiedlichen Ansichten hinwegzusehen?"
„Wofür?"
„Um die Maschine zusammenzubauen … – Um Draco, Ron und all die anderen zu finden … – Um den dunklen Lord zu besiegen. Wir sind ein gutes Team und ich würde mich geehrt fühlen, nach all diesem wieder mit dir über die Selbstwahrnehmung der Reinblüter zu diskutieren."
„Hm." Hermine reichte ihm die Hand und zog ihm aus dem Sessel hoch. „In Ordnung. Wir haben noch eine Menge zu erledigen. Tomasz wartet mit der Bedienungsanleitung." Voller Vorfreude rieb sie sich die Hände. „Dann reden wir später über die Stellung von Muggelstämmigen wie mir."
„Muggelstämmig ist wirklich nicht die korrekte Bezeichnung für dich. Wir wissen beide, welches Wort auf Menschen wie dich besser zutrifft."
„Wie bitte?", fragte Hermine alarmiert. Dieser Angriff kam aus dem Blauen für sie.
Er lächelte verwegen und sie konnte seine Gesichtszüge nur fasziniert beobachten. „Du hast schon gehört, was ich gesagt habe." Er deutete zu den Bücherhaufen. „Das Wort ist ‚Streber'."
oOo
Die Sonne kitzelte an seiner Nasenspitze. Er merkte, dass er niesen musste und wachte dadurch auf. Verstohlen blickte er sich um und wusste im ersten Moment nicht, wo er war und wie er dorthin gekommen war. Dann fiel ihm alles wieder siedend heiß ein.
Riddle.
Krum.
Dolohov.
„Du bist wach, gut so." Dolohov saß an seinem Bett und sah so aus, als hätte er in dem Stuhl geschlafen.
Draco richtete sich auf und merkte, dass er noch seine Sachen vom Vortag anhatte. Durch das Fenster schien die Mittagssonne herein.
„Bist du aufnahmefähig, ja? Dann müssen wir reden." Dolohov rückte näher an ihn heran. „Dir brennen sicher einige Fragen auf der Zunge. Ich weiß noch, dass du bei unserem letzten Treffen gefragt hast, warum ich so auf dich fixiert gewesen bin."
Er spürte wie sein Herz gegen seine Brust klopfte und rieb sich den Schlaf aus den Augen. „Einen Moment." Nein, so konnte er mit Dolohov nicht dieses Gespräch führen. Er schwang sich auf die Füße und lief testweise zum Fenster und zurück. „Nun."
Dolohov zeigte auf den Stuhl neben ihn und Draco folgte diesem Wink. Ihm wurde mulmig, als er an die Unterhaltung mit Grindelwald zurückdachte. Im Grunde führte er jetzt die Fortsetzung mit Dolohov. Er entschied sich für den Angriff statt für die Defensive. „Während du weg warst", ‚weg' war eine fabelhafte Umschreibung für gefangengenommen, „habe ich mit Grindelwald gesprochen."
Der Russe sah nicht im Geringsten erstaunt aus, er nickte lediglich.
„Du weißt also, dass du mit Grindelwald zusammenarbeitest?" Die Frage war reichlich dämlich, aber Draco ging einfach nicht die merkwürdige Reaktion Riddles, dessen Unglaube, aus dem Sinn.
Seinem Gegenüber schien die Absurdität jedoch nicht aufzufallen. „Ja."
„Dieser Riddle hatte steif und fest daran geglaubt, dass Grindelwald tot sei, obwohl ich ihn mit eigenen Augen gesehen habe."
„Riddle ist paranoid. Du solltest nicht viel auf ihn geben." Die Lippen hatte er zu einer dünnen Linie zusammengepresst.
Draco wusste, dass da noch mehr sein musste. Immerhin sah Dolohov geradezu verbissen aus. „Riddle schien für diesen Grindelwald aber wichtig zu sein. Ansonsten hätte er mich nicht nach ihm geschickt."
„Manche Menschen sind unergründlich", knurrte Dolohov. „Ich muss mit dir noch über andere Dinge reden."
Nun war es an Draco zu nicken. Die Frequenz seines Herzschlages erhöhte sich nochmals. Beinahe befürchtete er, dass es ihm aus der Brust springen würde. Die Anspannung hielt ihn gefangen. Er vergaß zu atmen und krächzte unter allergrößter Anstrengung: „Du denkst, du seist mein Vater."
Dolohov lehnte sich vor und griff nach seiner Hand. Seine Fingerspitzen berührten Draco und lösten einen kalten Schauer aus. Reflexartig zog Draco seine Hand weg und versteckte sie unter dem Tisch. Der nächste Teil des Gesprächs würde schwer werden und er wünschte sich weit weg. Trotzdem war er in seiner Neugier gefangen und konnte die nächsten Warte gar nicht abwarten. Es zerriss ihn und er wusste nicht, was er tun sollte. Sein Gegenüber wiederum schien enttäuscht über seine intuitive Reaktion zu sein. Ausgestreckt, in einer protestähnlichen Pose, ließ er seine in der Mitte des Tisches liegen. Seine groben Finger zeigten auf ihn. „Du weißt es also."
„Ja." Draco trommelte von unten gegen die Tischplatte und auch seine Füße wollten plötzlich nicht mehr ruhig sein. Er ballte seine Hände zu Fäusten und zwang sich, langsam ein- und auszuatmen. Schweiß perlte auf seiner Stirn.
Gerade als er dachte, das Gespräch könnte nicht mehr unangenehmer werden, wurde er gefragt: „Was denkst du darüber, Draco?"
Hilflos zuckte er mit den Achseln. Er schüttelte den Kopf und knetete seine Finger, damit sie aufhörten, gegeneinander zu klopfen. Auch Dolohov sah angespannt aus. Was würde sein, wenn er das Falsche antwortete? Was erwartete sein Gegenüber für eine Reaktion? „Ich weiß es nicht."
„Es ist in Ordnung. Ich weiß, es ist viel."
Draco begann gegen seine Schläfe zu hämmern. Müde wie er war, spürte er, dass seine Mauern langsam zu bröckeln begannen. Die Verzweiflung wuchs, je länger er darüber nachdachte. „Ist es wirklich wahr? Wie? … Also wie kann ich sicher sein, dass es die Wahrheit ist, Antonin?" Der Vorname lag seltsam auf seiner Zunge … – seltsam schwer.
„Hm." Dolohov fuhr über seinen frisch gestutzten Bart. „Du könntest mit deiner Mutter reden?"
„Warum hat sie nie etwas gesagt?", schoss es aus ihm hervor.
„Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich dachte sie, Lucius wäre dir ein besserer Vater, als er ihr ein Ehemann ist." Er sah Draco an, schlug auf den Tisch und schnaubte. „Es tut mir leid. Das hätte ich nicht sagen sollen. Er hat dich großgezogen. Sicher willst du ihm gegenüber loyal sein und … – " Wieder ächzte er ein wenig.
„Ich habe die blonden Haare der Malfoys." Gleich, wie weh es tat und wie seltsam es sich anfühlte, nun musste Draco dadurch. Argwöhnisch betrachtete er Dolohovs schwarze Haare.
Dolohov begann zu lachen. „Nicht nur Lucius hat aschblondes Haar. Blond ist nicht nur eine für die Malfoys typische Haarfarbe. Ich würde noch nicht mal sagen, dass es eine besondere Haarfarbe ist. Meine Mutter war auch blond. Ich muss das Gen dafür rezessiv an dich weitergegeben haben."
Draco musste schlucken. Er hatte nicht gedacht, dass sein Gegenüber eine halbwegs plausible Erklärung dafür haben würde. „Hast du ein Foto von ihr? Ich will sehen, ob ich ihr noch in anderen Merkmalen ähnlichsehe."
„Leider nicht zur Hand."
Er nickte und war geistig schon bei der nächsten Frage. „Wie hast du meine Mutter kennengelernt?"
„Bei einem der Bälle im Herrenhaus der Malfoys. Alle Todesser waren zugegen, so auch ich. Sie muss zu diesem Zeitpunkt noch nicht lange verheiratet gewesen sein."
„Wusste mei… – ihr Ehemann von der Affäre?" Draco biss sich auf die Lippe. Nach allem, was er wusste, war Dolohov ein alter, traditionsbewusster Mann. Dass er überhaupt so frei sprach, glich einem Wunder, er wollte ihn keineswegs provozieren.
„Ich denke nicht."
Mit mildem Lächeln antwortete er. „Nein. Sie hatte mich für Lucius verlassen. Auch wenn ich denke, ganz vergessen hat sie mich nie." Er zögerte. „Es könnte aber sein, dass Lucius es mittlerweile herausbekommen hat. Er dürfte momentan nicht gut auf sie zu sprechen sein." Dolohov fasste ein zweites Mal nach seiner Hand und diesmal ließ Draco ihn gewähren. Die Berührung war sanft und ein Kribbeln erfasste seinen Körper. Nun erst spürte er, dass sein Innerstes sich zusammenzog. Der Druck der letzten Stunden machte sich wieder bemerkbar.
„Warum bist du dir so sicher, dass du mein Vater bist? Ist meine Mutter es sich auch?"
„Das ist ein Gespräch, dass du lieber mit deiner Mutter führen solltest."
Draco schluckte, doch fasste allen Mut zusammen. „Ich frage aber dich. Wenn sie mit euch beiden geschlafen hat, ist sie sich vielleicht selbst nicht sicher."
Dolohovs Gesicht verzerrte sich zu einer Grimasse. „Du hast danach gefragt, beschwere dich also nicht, wenn du mit der Wahrheit nicht umgehen kannst. Die Sache ist so: Narzissa und Lucius haben lange versucht, ein Kind zu bekommen, es wurde so erwartet und es hat nicht geklappt. Und dann, als ich eine Affäre mit ihr hatte, wurde sie plötzlich schwanger." Dolohov grinste. Draco fand, es hatte etwas Diabolisches an sich. „Lucius ist zeugungsunfähig, ich bin dein Vater."
Der Boden drehte sich und ein stechender Kopfschmerz zuckte durch Dracos Stirn. „Nein. Weiß mein Vater davon? Weiß er, dass er zeugungsunfähig ist? Wohl nicht! Sonst hätte er doch kaum ein Kuckuckskind großgezogen ... Er weiß es nicht, … – weil es nicht stimmt."
„Du verschließt deine Augen vor der Wahrheit. Lucius kann kein Kind in die Welt setzen. Dass du hier bist, hast du mir zu verdanken." Dolohov lehnte sie nach vorn und suchte seine Nähe.
„Im wahrsten Sinne des Wortes", murmelte Draco verstört.
Die Tür schlug auf und Astoria kam hineingeschneit. Kaum hatte sie einen Fuß über die Schwelle gesetzt, rief sie schon unter Tränen: „Draco! Hier bist du endlich! Ich brauche deine Hilfe!"
Fassungslos starrte er sie an. Zitternd wie Espenlaub stand sie vor ihm. Seine Hand zog er langsam aus Dolohovs Griff. Er dachte an ihre letzte Begegnung, dachte daran, dass sie ihn angegriffen hatte. Seine Begeisterung über das Wiedersehen hielt sich in engen Grenzen.
Wie angewurzelt rührte er sich nicht vom Fleck, während sie aufgeregt im Dreieck sprang. „Es geht um Daphne!"
Dracos Herz machte einen Aussetzer. Alle negativen Gefühle, die er gegenüber Astoria empfand, waren vergessen. „Was ist?"
Astoria japste nach Luft. „Ihr Zustand hat sich verschlechtert. Sie atmet nur noch ganz flach und ..." Sie hechelte schwer. „Gestern schien es ihr noch besser zu gehen..."
Seine eigenen Familienverhältnisse konnten warten. Aus Dolohovs Aussage wäre er eh nicht so schlau geworden. An einem Gespräch mit seiner Mutter führte kein Weg drumherum.
Seine Umwelt verblasste. Nur noch der Aufprall des Stuhles auf den Boden drang auf sein Ohr. Dolohov und Astoria, beide waren unwichtig im Vergleich zu diesem Notfall. Innerhalb von Sekunden stand er an ihrem Bett und blickte auf das bleiche, schweißbenetzte Gesicht herab.
Daphne würde sterben.
Draco zitterte am ganzen Körper. Er würde ihren Tod mitverursacht haben. Ohne dass es wirklich an sein Bewusstsein drang, fühlte er nach ihrem Puls.
Astoria hatte recht. Er war zu langsam. „Meinst du, sie ist vergiftet worden?" Sie stand hinter ihm und konnte sich kaum auf den Beinen halten. Im Türrahmen lehnte Dolohov und statt auf Daphne zu schauen, warf er Draco einen besorgten Blick zu.
Ratlos zuckte Draco mit den Achseln und musste an das unheilvolle Gespräch mit Slughorn zurückdenken. Es war so viel schlimmer eingetreten, als er es vermutet hatte. Nicht nur hatte Hyperion ihn angelogen und Draco hatte gar kein Heilmittel, sondern ein Gift herangeschafft, nun wurde es obendrein auch noch genutzt, um Daphne umzubringen. „Wo ist euer Vater?", fragte er mit dunkler Stimme.
Warum machte der alte Greengrass das?
Astoria antwortete nicht.
Es war auch gut so, Draco hätte für nichts garantieren können, wäre er jetzt dem alten Greengrass begegnet.
„Sie braucht einen Heiler!", schrie Draco. „Holt einen Heiler!"
Dolohov stieß sich vom Türrahmen ab. „Ich hole Hyperion." Schon war er verschwunden.
Draco fuhr sich durch die Haare und sank vor Daphnes Bett zu Boden. Immer wieder schnellte seine Hand hoch, um ihren Herzschlag zu fühlen und wieder hinab, weil die Langsamkeit ihn verstörte. Er schluchzte. „Wir müssen sie wegbringen!"
Aus großen Augen sah Astoria ihn an. Sie verstand nicht.
„Dein Vater hat sie wahrscheinlich vergiftet!"
Sie schüttelte den Kopf. „Niemals!"
„Vielleicht konnte er ihren jämmerlichen Anblick nicht mehr ertragen. Vielleicht dachte er, dass der Tod ein gnädigeres Urteil wäre als ein ewiges Koma." Er biss sich auf die Zunge.
„Nein … – niemals … – Vater und sie … – sie hatten schon immer eine angespannte Beziehung zueinander … – Sie haben oft gestritten, sie ist … – war wirklich rebellisch … Zuhause, besonders nach Mutters Tod … Man kann nicht sagen, dass sie sich innig sich geliebt hätten … – wenn, dann haben sie beide eine komische Art, das zu zeigen ..."
Draco hatte genug gehört. „Ich bring sie hier weg!"
„Vater würde so etwas nie tun!"
„Im Mungos wird sie eine gute Behandlung erhalten." Mit einem Ruck war er aufgestanden und hob Daphnes schlaffen Körper hoch, der so viel schwerer war, als ein erster Blick vermuten ließ. „Geh mir aus dem Weg!", knurrte er Astoria entgegen, die mehr auf den Boden lag, als stand.
„Das Mungos wurde zerstört! Schon vor Wochen, kurz nach der Schlacht, die in Hogwarts stattgefunden hatte", weinte sie.
Er schluckte. „Dann bringe ich sie zu Snape." Eiligen Schrittes stieg er über sie hinweg.
Wieder jaulte Astoria. „Damit wirst du wahrscheinlich kein Glück haben ..."
Doch Draco war schon weg.
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