Teil 3

Kapitel 38 – Flucht

„Sonea! Geht es dir gut?" Akkarins Stimme drang wie aus weiter Ferne zu ihr. Sie konnte nur nicken. Sie wusste instinktiv, dass Auslandsadministrator Kito soeben gestorben war. Seine letzten Augenblicke waren entsetzlich gewesen. Seine Angst und der Schmerz, als ein tödlicher Treffer seinen Schild durchbrochen hatte, waren so real gewesen, als wäre sie an seiner Stelle gestorben. Es war nicht das erste Mal, dass Sonea den Tod eines Magiers auf diese Weise miterlebt hatte.

Aber das war etwas, an das man sich nicht gewöhnen konnte.

„Was ist mit Dannyl?", fragte sie. „Ist er noch am Leben?"

„Er benutzt sein Blutjuwel nicht." Akkarins Miene war ernst. „Aber wir sollten vom Schlimmsten ausgehen."

Sonea starrte ihn an, unfähig auch nur irgendetwas darauf zu erwidern. Unzählige Fragen schwirrten in ihrem Kopf. Warum hatten die Sachakaner Kito und Dannyl angegriffen? War es ihnen gelungen, ihren Auftrag zu erfüllen und Verhandlungen mit dem sachakanischen König aufzunehmen? Hatte der König ihren Tod befohlen? War ein Krieg jetzt überhaupt noch aufzuhalten? Und was würde die Gilde nun unternehmen?

„Sonea, sie sind in Arvice", sagte Akkarin sanft. „Wenn sie aufgeflogen sind oder das Missfallen des Königs erregt haben, werden sie die Stadt nicht mehr lebend verlassen."

Es war Sonea unmöglich, den Sinn seiner Worte zu begreifen. Sie weigerte sich zu glauben, dass das gerade wirklich passierte und sie nicht in einem verrückten Traum gefangen war.

„Dannyl …", flüsterte sie. Sie versuchte sich vorzustellen, dass der stets gutgelaunte junge Magier, der nach Elyne gegangen war, nicht mehr am Leben war, und scheiterte. Er und Rothen waren lange Zeit ihre einzigen beiden Freunde in der Gilde gewesen. Sie erinnerte sich, wie sie ihm bei ihrer ersten Begegnung ein Messer ins Bein gestoßen hatte, als er sie zusammen mit Rothen und einigen anderen Magiern irgendwo in den Hüttenvierteln eingefangen hatte, weil sie drohte, die Kontrolle über ihre Magie zu verlieren. Bevor er Botschafter geworden war, hatte sie viele heitere Abendessen mit ihm und Rothen verbracht. Er war einer der wenigen, die sie für ihr Praktizieren schwarzer Magie nicht verurteilt hatten. Und er hatte ihre Robe bei ihrer und Akkarins Anhörung nicht zerrissen.

Armer Rothen, dachte sie. Dannyls Tod wird ihn sehr treffen.

Akkarin strich kurz über ihre Wange und erhob sich. Dann griff er nach seiner Robe und begann sich anzukleiden.

Sonea sah auf. „Wo gehst du hin?"

„In die Universität. Die höheren Magier werden wissen wollen, was geschehen ist. Falls Dannyl noch am Leben ist, so kann er uns vielleicht sagen, warum er und Kito angegriffen wurden, oder uns wichtige Informationen übermitteln, die sie während ihrer Reise gesammelt haben."

Sonea nickte schwach.

Akkarin betrachtete sie mit gerunzelter Stirn. „Komm mit", sagte er und streckte eine Hand nach ihr aus.

Wie betäubt griff Sonea danach und ließ sich auf die Füße ziehen. „Sie werden mich nicht dabei haben wollen", wandte sie ein.

Akkarin fasste ihre Schultern. „Und ich werde dich jetzt nicht allein lassen. Ich weiß nicht, wie lange ich fort sein werde." Er küsste sie auf die Stirn. „Zieh dich an. Es wird nur eine Frage der Zeit sein, bis Balkan nach mir ruft."

Sonea gehorchte, darauf vertrauend, dass die höheren Magier sich nicht zu sehr an ihrer Anwesenheit stören würden, denn zurückbleiben wollte sie auch nicht. Sie fürchtete zu sehr, Dannyls Tod auf dieselbe Weise zu beobachten, wenn niemand da war, der sie trösten konnte.


Die Erfahrung, Kitos Tod miterlebt zu haben, nahm Rothen die Luft zum Atmen. Er brauchte eine Weile um sich darauf zu besinnen, dass er noch am Leben war.

„Mylord, geht es Euch gut?"

Er zuckte zusammen und blickte in das Gesicht seiner Dienerin, die ihn besorgt musterte.

„Ja." Er zwang sich zu einem Lächeln. „Ich habe nur gerade eine sehr unangenehme Gedankenübertragung mitbekommen."

„Was ist passiert?", fragte Tania.

„Einer der Magier, die wir nach Arvice geschickt haben, wurde soeben von den Sachakanern ermordet."

Ihre Augen weiteten sich. „Doch nicht Botschafter Dannyl?"

Rothen schüttelte den Kopf. Er hatte nur Tania und Yaldin von Dannyls und Kitos Mission erzählt, weil er jemanden brauchte, dem er seine Sorge um seinen Freund anvertrauen konnte, ohne dass die gesamte Gilde davon erfuhr. Doch er hatte so eine Ahnung, dass das alles bald kein Geheimnis mehr sein würde.

„Es war der Auslandsadministrator."

„Wie entsetzlich", hauchte Tania. „Aber wenigstens ist Dannyl nichts geschehen."

Rothen sparte sich die Mühe, ihr zu erklären, dass die Tatsache, nichts von Dannyl empfangen zu haben, nicht bedeutete, dass er noch am Leben war. In seiner Vision hatte er gesehen, wie Kito von mehreren Sachakanern angegriffen worden war. Wenn Dannyl bei ihm gewesen war, dann konnte er das unmöglich überlebt haben.

Es sei denn, die Sachakaner hatten ihn gefangen genommen um, ihn zu foltern und ihm in einer Wahrheitslesung Informationen über die Stärke der Gilde zu entlocken. Die bloße Vorstellung ließ Rothen das Blut in den Adern gefrieren und ihn wünschen, Dannyl wäre nie zu dieser Mission aufgebrochen.

Rothen wusste, er brauchte Dannyl nur zu rufen, um herauszufinden, ob er den Angriff überlebt hatte, doch Gedankenrede war seit der Invasion der Ichani weitgehend verboten. Und wenn Dannyl noch lebte, dann würde er nicht antworten, um sich nicht selbst zu gefährden.

Ein Klopfen an der Tür ließ ihn erneut zusammenzucken.

„Ich gehe schon", sagte Tania und eilte zur Tür.

Einen tiefen Atemzug nehmend legte Rothen das Buch, in dem er gelesen hatte, zur Seite. Als er seine Hände davon löste, bemerkte er, dass die Seitenränder dort, wo er das Buch festgehalten hatte, leicht aufgequollen waren. Seufzend zog er ein Taschentuch aus seiner Robe und wischte seine Hände trocken. Dann trocknete er die Seitenränder mit dem Einsatz einer kleine Menge Magie.

„Mylord, ich überbringe eine Nachricht vom Hohen Lord", erklang eine fremde Stimme. „Ihr mögt Euch unverzüglich im Tagessaal einfinden."

Rothen sah auf. Ein Diener war in seinen Empfangsraum getreten und musterte ihn mit verwirrter Miene.

„Danke", sagte Rothen und stieß sich aus seinem Sessel. „Richte ihm aus, ich bin unterwegs."

Der Diener verneigte sich und zog sich zurück.

Rothen wandte sich zu Tania. „Du kannst für heute gehen. Wahrscheinlich werde ich erst spät zurückkommen."

Seine Dienerin nickte. „Ich werde Euer Geschirr noch in die Küche bringen."

Sie verschwand kurz und kehrte mit einem Tablett zurück. Rothen wartete, bis sie die Reste des Abendessens darauf geräumt hatte, dann verschloss er die Tür seines Apartments hinter ihnen.

Auf dem Flur hatten sich bereits mehrere seiner Nachbarn versammelt und diskutierten aufgeregt miteinander. Einige hatten Morgenmäntel über ihre Nachtgewänder geworfen. Ihre Mienen wirkten ängstlich und verstört. Als sie Rothen erblickten, eilten sie auf ihn zu. Ein Seufzen unterdrückend, machte er sich darauf gefasst, in sinnlose Spekulationen verwickelt zu werden.

Er war nur wenige Schritt weit gekommen, als sie ihn bereits mit Fragen bestürmten.

„Lord Rothen, könnt Ihr uns sagen, was passiert ist?"

„Ist Auslandsadministrator Kito tot?"

„Wo war er, als das passierte?"

„Ich weiß auch nicht mehr als Ihr", antwortete Rothen sich zur Ruhe zwingend. „Aber ich vermute, dass Kito heute Nacht gestorben ist."

„Waren diese Männer Sachakaner?"

Rothen zuckte zusammen. Ich bin für so etwas nicht gemacht, dachte er seinen Status als höheren Magier verwünschend. Er besaß nicht Dannyls rhetorisches Geschick oder Akkarins kühle Autorität. Und er war viel zu durchschaubar. Besonders, wenn er sich um seinen besten Freund sorgte.

„Es tut mir leid", erwiderte er. „Doch ich kann Euch im Augenblick keine Informationen geben. Ich wurde soeben zu einer dringenden Besprechung gerufen. Die Gilde wird informiert, sobald wir mehr über die Umstände von Kitos Tod wissen."

Aufgebracht begannen die Magier, weitere Fragen zu stellen. Rothen versuchte, sie zu beruhigen und entschuldigte sich wiederholt. „Ich muss zu einer Besprechung", wiederholte er. „Danach kann ich Euch mehr sagen. Also lasst mich bitte gehen. Umso schneller werdet Ihr alles erfahren."

Er hatte Mühe, sich einen Weg durch die Menge zu bahnen, weil die Magier ihm noch immer zögernd Platz machten. Zu Rothens Erleichterung verfolgten sie ihn jedoch nicht.

Kurz vor der Treppe fand er sich Yaldin gegenüber.

„Geht es Euch gut?", fragte der betagte Magier.

Rothen lächelte schief. „Bis auf den Schock, ja."

Yaldin senkte die Stimme. „Wisst Ihr etwas von Dannyl?"

„Nein."

Sein Freund klopfte ihm zuversichtlich auf die Schulter. „Macht Euch keine Sorgen. Wenn Dannyl etwas zugestoßen wäre, dann wüssten wir es bereits."

Das hoffe ich auch, dachte Rothen. Er nickte seinem Freund zu und beeilte sich, das Magierquartier zu verlassen.


Dannyl rannte durch die dunklen Straßen von Arvice. Er hatte keine Ahnung, wo er war, ob Marikas Magier ihn noch immer verfolgten und, falls sie es taten, wie dicht sie hinter ihm waren. Er wusste nur, dass er sich ein Versteck suchen musste. Nachdem er aus der Herberge geflohen war, hatte er versucht, so viel Abstand wie möglich zwischen sich und die Märkte zu bringen. In dieser Gegend würde er nicht lange sicher sein, weil die Sachakaner hier zuerst nach ihm suchen würden. Wahrscheinlich waren die Wachen an den Stadttoren bereits über ihn informiert. Damit würde er Arvice nicht unbemerkt verlassen können.

Zumindest nicht lebend.

Denk nicht daran!, befahl er sich. Du hast noch eine Pflicht zu erfüllen.

Dannyl brauchte ein Versteck, in dem die Sachakaner ihn am unwahrscheinlichsten suchen würden. Aber wo sollte das sein? Er kannte nichts von dieser Stadt außer dem Palast und den Märkten.

Nach Atem ringend hielt er inne und blickte sich um. Zu beiden Seiten erstreckten sich weiße Grundstücksmauern, hinter denen sich die Herrenhäuser der Ashaki verbargen. Zu dieser späten Stunde waren die Straßen verlassen und die Stille war nahezu beängstigend.

Sich vergewissernd, dass er unbeobachtet war, trat Dannyl in den Schatten der nächsten Mauer. Dann schuf er eine Scheibe aus Magie und schwebte empor, bis er über die Mauerkante spähen konnte.

Vor ihm erstreckte sich ein lieblicher Garten mit ordentlich beschnittenen Bäumen und Büschen. Das Haus lag etwa fünfzig Schritt die Straße hinab. Dort befanden sich auch der Eingang und ein kleiner Hof. Dannyl zögerte nicht lange. Seinen Mut zusammennehmend schwebte er über die Mauer und ging hinter einem Busch in Deckung, wo er erschöpft zusammensank.

Er würde hier nicht lange bleiben könnten. Wenn es Morgen wurde, würden die Bewohner ihn entdecken. Und wenn die Palastgarde ihn nicht im Marktviertel fand, würden sie womöglich beginnen, den Rest der Stadt nach ihm zu durchsuchen.

Aber für den Augenblick war er sicher.

Dannyl schloss die Augen und versuchte seine Atmung und seine Panik zu kontrollieren. Weil er es nicht wagte, den spärlichen Rest seiner verbliebenen Magie dafür zu verwenden, dauerte das eine gefühlte Ewigkeit. Lange genug, dass seine Furcht zwischendurch zurückkehrte.

Zeit, Bericht zu erstatten, entschied er, nachdem sich sein Herzschlag wieder einigermaßen beruhigt hatte. Er griff in seine Jackentasche und erstarrte, als ihm bewusst wurde, dass er Kitos Kette noch immer umklammert hielt.

Sorg dafür, dass Ginga sie bekommt, hatte der Auslandsadministrator gesagt.

Dannyl hatte keine Gelegenheit gehabt, Kito sein Wort darauf zu geben. Was von da an geschehen war, fühlte sich an wie ein böser Traum, dessen Schrecken im Dunkel der Nacht nicht weichen wollte. Kito hatte Dannyl befohlen, zu fliehen, damit er die Gilde über das Scheitern der Verhandlungen und die auf dem Markt aufgeschnappten Gerüchte informieren konnte. Zuerst hatte Dannyl sich geweigert zu gehen. Er kam sich wie ein Feigling vor, weil er nicht geblieben war. Doch dann wäre nun auch er nicht mehr am Leben und die Gilde würde die Wahrheit nie erfahren.

Trotzdem würde er sich für den Rest seines Lebens vorwerfen, den Auslandsadministrator im Stich gelassen zu haben.

Die Erinnerung schnürte ihm die Kehle zu. Dannyl spürte, wie die Tränen kamen, und wusste zugleich, er würde sie nicht aufhalten können. Kito würde seine Frau und seine Kinder niemals wieder sehen, er würde niemals den kleinen Keno in seinen Armen halten können. Sein jüngster Sohn würde ohne Vater aufwachsen.

Und Dannyl hatte einen Freund verloren. Obwohl sie sich erst auf ihrer Reise nach Arvice wirklich kennengelernt hatten, hätten sie trotz gewisser unterschiedlicher Ansichten Freunde für ein ganzes Leben werden können.

Hör auf zu weinen, befahl er sich. Du hast später noch genug Zeit, um zu trauern. Jetzt gibt es Wichtigeres zu tun.

Mit einem Seufzen steckte er die Kette wieder in seine Jackentasche. Dann zog er das Blutjuwel hervor und umschloss es mit seiner Hand. Es war das erste Mal, dass er über ein schwarzmagisches Artefakt kommunizieren sollte. Akkarin hatte ihm nicht erklärt, wie es funktionierte, doch er wusste instinktiv, dass es nur einen logischen Weg gab, es zu benutzen. Statt auf seinen Gesprächspartner fokussierte er seinen Willen auf den kleinen Stein aus Glas.

- Akkarin!

- Dannyl! Die Stimme war überraschend klar. Seid Ihr wohlauf?

- Ich bin am Leben, sandte Dannyl. Kito ist tot. Wir wurden von Magiern des Königs in unserer Herberge angegriffen. Kito hat versucht Marikas Magier aufzuhalten und mir zu fliehen befohlen, damit ich der Gilde Bericht erstatten kann. Dabei haben ihn die Sachakaner getötet. Außerdem wurden mehrere der Gäste verletzt oder getötet – genau kann ich das leider nicht sagen. Ich …

Er stockte, als er an die elynischen Händler dachte. Er und Kito hätten niemals mit ihnen reisen dürfen. Sie hatten das Leben von Zivilisten riskiert, als wenn ihre Mission solche Opfer rechtfertigte.

- Wo seid Ihr jetzt?

- In einem Garten.

- Seid Ihr dort vorerst sicher?

- Ich denke schon. Sofern man in Sachaka überhaupt irgendwo sicher sein konnte. Aber bis zum Morgengrauen muss ich mir ein neues Versteck suchen.

- Seht nach ob das Haus einen Keller oder ein Lager hat und versteckt Euch dort. Ich werde jemand zu Eurer Rettung schicken. Aber passt auf, dass Ihr nicht gesehen werdet.

Dannyl runzelte die Stirn. Wie wollte Akkarin das fertigbringen? Die Gilde würde wohl kaum weitere Magier in dieses barbarische Land entsenden, nur um einen von ihnen zu retten. Nein, er war auf sich allein gestellt. Wenn er wenigstens lange genug überlebte, um dem ehemaligen Hohen Lord alles zu berichten, was er und Kito in Erfahrung gebracht hatten ...

Es war vorbei. Er würde Arvice nicht mehr lebend verlassen. Die Palastwachen würden ihn finden und zu Marika bringen oder auf der Stelle töten. Er würde Kitos Frau niemals diese Kette überbringen können. Er würde nicht in seine Heimat zurückkehren.

Und er würde Tayend niemals wiedersehen.

- Dannyl! Die Stimme in seinem Kopf klang mit einem Mal überaus harsch. Reißt Euch zusammen! Die Gilde braucht Euch!

Dannyl nickte unwillkürlich. Dann fiel ihm ein, dass Akkarin das wahrscheinlich gar nicht mitbekam.

- Ja, sandte er daher.

- Gut. Jetzt geht zu den Gebäuden, wies Akkarin ihn an. Bleibt dabei möglichst in Deckung der Büsche. Was auch passiert, haltet die Verbindung zu mir.

Mühsam kam Dannyl auf die Beine und spähte aus seinem Versteck. Der Teil des Gartens, den er einsehen konnte, wirkte verlassen. Mit klopfendem Herzen schlich er im Schatten der Büsche in die Richtung, in der er die zu dem Anwesen gehörenden Gebäude gesehen hatte, als er über die Mauer geschwebt war. Nach wenigen Schritten hörte er ein Geräusch, das wie Schritte auf Kies klang. Sein Herz setzte einen Schlag aus und er duckte sich hinter einen Strauch.

- Geht weiter, sandte Akkarin. Da ist niemand.

Dannyl unterdrückte ein Schnauben. Woher wollte der schwarze Magier das wissen? Und wieso schien ihn das zu erheitern? Er war eine dreiwöchige Reise entfernt in Imardin. Als er jedoch weiter auf das Geräusch lauschte, stellte er fest, dass es sich nicht veränderte. Und es klang viel gleichförmiger als Schritte.

Vorsichtig verließ er sein Versteck und schlich weiter. Nach wenigen Schritten teilten sich die Büsche vor ihm und gaben den Blick auf einen kleinen Platz frei. Fast hätte Dannyl laut aufgelacht.

Er hatte sich von einem Springbrunnen Angst einjagen lassen!

Dahinter konnte er das kuppelförmige Dach eines Gebäudes in der Dunkelheit ausmachen. Sich im Schatten der Sträucher und Bäume haltend, hielt Dannyl darauf zu. Als ihn nur noch wenige Schritte von dem Gebäude trennten, rannte er das kurze Stück über den Rasen, bis er die Seitenwand des Gebäudes erreicht hatte.

Vorsichtig spähte er durch eines der hohen Fenster.

- Das sieht wie ein Bad aus, sagte er.

- Das ist es auch. Geht weiter. Dort könnt Ihr Euch nicht verstecken.

Dannyl schlich um das Gebäude herum. Er stieß auf einen Kiesweg, der zu einem großen, prächtigen Haus führte, neben dem sich noch ein kleineres, schmuckloses Gebäude befand. Dann erstarrte er, als er eine Gestalt daran vorbei ging. Hastig drückte er sich gegen einen Baumstamm. Anscheinend lagen nicht alle Bewohner dieses Anwesens im Tiefschlaf.

Mehrere Minuten vergingen, bevor Dannyl sich aus seinem Versteck hervorwagte. Nachdem er sich vergewissert hatte, allein zu sein, rannte er auf das Gebäude zu.

Das erste Fenster, durch das er spähte, zeigte einen Tisch und eine Kochstelle. Die übrigen Fenster enthüllten Räume, in denen Männer und Frauen in schmalen Betten schliefen. Das muss das Sklavenhaus sein, überlegte er. Er entschied, seine Suche fortzusetzen, denn er wollte nicht auf die Hilfe sachakanischer Sklaven hoffen.

Sich hinter einen Busch hockend sah er zum Haupthaus. Daneben war noch ein weiteres Gebäude, das wie ein Stall aussah. Beide lagen an einem Platz, auf dem es keine Deckung ab. Zu Dannyls Entsetzen erblickte er weitere Gestalten am Tor zur Straße.

Wundervoll, fuhr es ihm durch den Kopf. Er konnte von Glück sagen, niemandem begegnet zu sein, als er über die Grundstücksmauer geschwebt war. Wie sollte die Gilde ihn hier wieder herausholen?

- Anscheinend wird das Anwesen bewacht, sandte er. Habt Ihr irgendeinen Vorschlag, was ich jetzt tun soll?

- Das Grundstück wieder zu verlassen, wäre vermutlich genauso gefährlich, wie Euch hier ein Versteck zu suchen, antwortete Akkarin. Zudem könnten die übrigen Grundstücke ebenfalls bewacht sein.

Das war keine Option. Zudem waren Marikas Magier dort draußen.

- Und wo soll ich mich dann verstecken?

Er musste einige Augenblicke auf die Antwort warten.

- Der Keller ist wahrscheinlich das sicherste Versteck. Doch dazu Ihr müsstet in das Haus eindringen. Es besteht die Gefahr, dass Ihr dabei auf jemanden trefft, der über Magie gebietet. Im Stall würdet Ihr allenfalls ein paar Sklaven vorfinden, die bei den Pferden schlafen.

Dannyl war verwirrt.

- Würden die nicht ebenfalls im Sklavenhaus schlafen?, fragte er.

- Ich bin mir nicht sicher. Ich bin nie im Haus eines Ashaki gewesen. Es tut mir leid, dass ich Euch nicht besser helfen kann, Dannyl.

- Schon gut, sandte Dannyl. Danke, dass Ihr es tut.

Er fand es seltsam unangemessen, dass der Mann, den er jahrelang bis ins Mark gefürchtet hatte und noch immer fürchtete, sich bei ihm entschuldigte.

Doch Dannyl war dankbar, dieses Blutjuwel zu besitzen. Mit jemandem zu sprechen, der ihm vertraut war und der sich mit den Menschen in diesem Land auskannte, half ihm, nicht den Verstand zu verlieren. Irgendwie war es dem unheimlichen schwarzen Magier gelungen, dass er sich ein wenig ruhiger und zuversichtlicher fühlte.

- Ich denke, ich werde den Stall nehmen, sandte er.

- Gut. Ihr habt jetzt zwei Möglichkeiten. Entweder Ihr versucht, die Wachen abzulenken, oder Ihr umrundet den Platz außerhalb der Sichtweite der Wachen.

Dannyl unterdrückte ein Stöhnen. Für Letzteres würde er hinter dem Haupthaus entlang müssen und er fürchtete, dort auf weitere Wachen zu treffen. Dafür hatte er an diesem Tag nicht mehr die Nerven.

Einen tiefen Atemzug nehmend wandte er sich nach links und schlich um das Haus des Meisters. Unterwegs musste er sich zwei Mal ducken, als er weiteren Wachen begegnete, dann tauchte der Stall vor ihm auf. Zu Dannyls Erleichterung lag sein letztes Stück Weg im Schatten.

Rasch sah er sich um, dann rannte er die kurze Distanz zur Rückseite des Gebäudes. Als er sich an der Wand entlang tastete, stieß er auf eine kleine Tür. Zu Dannyls Erleichterung war sie unverschlossen. Rasch schlüpfte er durch hindurch und sah sich um. Im Innern des Stalls war es nahezu vollkommen dunkel und seine Augen brauchten eine Weile, um sich an die Finsternis zu gewöhnen. Dann begannen sich allmählich Umrisse abzuzeichnen.

Der Stall sah verlassen aus. Auf der linken Seite befanden sich vier Boxen, von denen zwei leer standen. An der gegenüberliegenden Wand lagerten Strohballen und Pferdegeschirr. Am anderen Ende des Raumes lehnte eine Leiter, die durch eine offene Luke nach oben führte.

Dannyls Herz machte einen Sprung. Während er auf die Leiter zu schlich, spähte er in jeden Winkel, um sicherzugehen, dass außer ihm wirklich keine anderen Menschen im Stall waren.

Dann erklomm er behutsam eine Sprosse nach der nächsten. Als eine Sprosse laut unter seinem Gewicht knarrte, erstarrte Dannyl. Sein Herz schlug ihm bis in den Hals. Als in einer der Boxen ein Pferd schnaubte, zuckte er zusammen und die Sprosse knarrte erneut. Erst nachdem er sich wieder beruhigt hatte, kletterte er weiter.

Die Leiter führte zu einem Heuboden, der ebenfalls verlassen war. Auf dem Boden lagen loses Stroh und ein paar leere Säcke.

Dannyl atmete auf. Das Blutjuwel mit einer Hand umschlossen sank er erschöpft auf einem der Säcke zusammen. Er war in Sicherheit.

Zumindest für die nächsten Stunden.


Es kam Sonea vor, als hätten sie Stunden gebraucht, bis sie endlich die Sieben Bögen erreichten. Auf ihrem Weg dorthin hatte Akkarin mehrfach innegehalten, um Dannyl Anweisungen zu geben oder um ihn zu beruhigen. Sonea wollte sich nicht ausmalen, wie entsetzlich es für den jungen Botschafter sein musste, in einer Stadt voll schwarzer Magier von diesen gejagt zu werden. Zu erfahren, dass er noch am Leben war, hatte sie jedoch mit ungeahnter Erleichterung erfüllt.

Vor ihnen öffneten sich die Türen zum Tagessaal, in dem sich bereits die höheren Magier versammelt hatten. Einige trugen Morgenmäntel über ihren Nachtgewändern. Auf ihren Gesichtern spiegelte sich indes blankes Entsetzen wieder. Niemand von ihnen erhob Einspruch, als sie Sonea erblickten. Zu ihrer Überraschung hatten sie sogar zwei nebeneinanderstehende Stühle freigelassen.

„Guten Abend", grüßte Akkarin knapp und setzte sich.

Sonea verneigte sich vor den höheren Magiern und nahm dann auf dem Stuhl neben ihm Platz. Für einen kurzen Moment begegnete sie Rothens Blick. Ihr ehemaliger Mentor wirkte so elend wie an dem Tag, an dem er erfahren hatte, dass sein Sohn einen schwarzen Magier nach Sachaka verfolgte. Sonea schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln.

„Wir alle haben Kitos Tod gesehen und sollten nun beraten, welche Konsequenzen wir daraus ziehen", begann Balkan.

„Einen Gildenmagier auf einer diplomatischen Mission zu töten, kommt einer Kriegserklärung gleich!", erklärte Lord Garrel.

„Kitos Mörder müssen nicht unbedingt Königstreue gewesen sein", entgegnete Balkan. „Sie könnten einer gegnerischen Partei angehören oder Ichani sein."

„Wie auch immer, das ist ein fürchterliches Unglück", sagte Lady Vinara. Sie schüttelte den Kopf. „Wie konnte es nur dazu kommen?"

„Leider haben wir keine Spione in Arvice, die uns davon berichten könnten", sagte Balkan.

„Es waren Palastwachen des Königs." Die höheren Magier unterbrachen ihre Spekulationen und wandten sich ihren ehemaligen Anführer zu. „Sie haben Botschafter Dannyl und Auslandsadministrator Kito in ihrer Unterkunft in Arvice in einen Kampf verwickelt. Kito wurde getötet, Dannyl konnte jedoch entkommen. Er ist wohlauf und versteckt sich in der Stadt."

Einige Magier atmeten hörbar auf, als sie hörten, dass zumindest Dannyl noch lebte. Rothen entspannte sich sichtlich.

Der Hohe Lord betrachtete Akkarin und Sonea mit gerunzelter Stirn. „Wir haben keine Gedankenrede von Dannyl oder Kito empfangen", sagte er. „Lord Akkarin, woher habt Ihr diese Informationen?"

Akkarin lehnte sich zurück und legte seine Fingerspitzen aneinander. Sonea war nicht sicher, ob ihn Balkans Frage erheiterte oder ob es die erwartete Reaktion der höheren Magier auf seine Antwort war. Trotz des Ernsts ihrer Lage musste sie sich auf die Zunge beißen, um nicht laut zu lachen.

„Ah, ich habe Botschafter Dannyl vor Beginn seiner Mission ein Blutjuwel geschickt, damit er der Gilde Bericht erstatten kann, sollte er in Sachaka in Gefahr geraten."

Balkans Miene verfinsterte sich. Auch Osen und Garrel wirkten nicht begeistert.

„Ich kann nicht behaupten, dass ich Euer erneutes eigenständiges Handeln begrüße", sagte der Hohe Lord schließlich. „Angesichts der Lage werde ich jedoch darüber hinwegsehen."

„Ich danke Euch, Hoher Lord", erwiderte Akkarin trocken.

„Wir hatten eine ähnliche Diskussion bereits letzte Woche", erinnerte Lady Vinara säuerlich. „Es ist unnötig, dieses Thema jetzt erneut zu erörtern. Ich denke, wir sollten ungeachtet der von solchen Artefakten ausgehenden Gefahr dankbar sein, dass wir auf diese Weise in Erfahrung bringen können, was Dannyl und Kito widerfahren ist und was das Ergebnis ihrer Verhandlungen ist."

„Kann Dannyl uns jetzt hören?", fragte Rothen.

Akkarin schwieg einen Augenblick. „Ja", sagte er dann. „Er kann uns sehen und hören."

Balkan nickte. „Botschafter Dannyl, ich möchte Euch im Namen der gesamten Gilde mein Beileid zu Auslandsadministrator Kitos Tod aussprechen", sagte er. „Wir sind alle von den Ereignissen der heutigen Nacht betroffen."

Eine Weile war es still.

„Dannyl richtet Euch seinen Dank aus", sagte Akkarin dann. „Er ist bereit, uns zu berichten was er und Kito in Erfahrung gebracht haben und wie ihre Verhandlungen mit König Marika verlaufen sind."

Der Hohe Lord machte eine Bewegung mit der Hand. „Dann möge er berichten."

Akkarin richtete sich auf und legte seine Hände auf den Tisch. „Botschafter Dannyl ist einverstanden, seine Oberflächengedanken mit den höheren Magiern zu teilen, um die Kommunikation zu erleichtern."

„Gut", nickte Balkan. „Bitte fasst einander an den Händen."

Die höheren Magier streckten die Hände zu ihren Sitznachbarn aus. Sonea griff nach Rothens runzliger Hand zu ihrer Rechten, während Akkarins lange Finger sich um ihre linke Hand schlangen. Sofort veränderte sich ihre Perspektive und sie fand sich in einem dunklen Raum wieder. Die Luft war warm und es roch nach Stroh und Tieren.

- Dannyl, geht es dir gut?, fragte Rothen, bevor dieser überhaupt Gelegenheit hatte, seinen Bericht zu beginnen.

- Es ging mir schon schlechter, sandte Dannyl. Mach dir keine Sorgen, Rothen.

- Ist das ein Bauernhof?, fragte Lord Peakin verwirrt.

- Ein Pferdestall.

Die Verwirrung der höheren Magier war deutlich spürbar.

- Ist es Euch gelungen, aus Arvice zu fliehen?, fragte Garrel.

- Ich verstecke mich auf dem Grundstück eines Ashaki, antwortete Dannyl. Die Stadt zu verlassen erschien mir als zu gefährlich.

- Dort könnt Ihr nicht bleiben, sandte Vinara.

- Ich weiß. Aber das Versteck sollte ausreichen, bis ich meinen Bericht beendet habe. Es sind noch mehrere Stunden, bis es hell wird.

- Dann fangt an, wies Balkan ihn an.

Dannyl schwieg. Sonea konnte mehr fühlen, als seine gedachten Worte zu hören, dass er überlegte, wie er anfangen sollte.

- Vor einer Woche kamen Kito und ich in Arvice an, berichtete er schließlich. Noch am selben Tag sind wir zum Palast gegangen und haben eine Audienz bei König Marika erbeten. Wir haben unser Anliegen seinem Sekretär vorgetragen und eine Kiste elynischen Wein als Geschenk mitgebracht, da wir als Weinhändler getarnt nach Arvice reisten. Während wir warteten, erfuhren wir von der Ankunft einiger Ichani in der Stadt, mit denen der König über ein Bündnis verhandeln wollte. Heute Morgen erhielten wir schließlich die Nachricht, Marika wäre bereit, uns am Nachmittag zu empfangen. Als wir dort ankamen, zeigte er jedoch keinerlei Bereitschaft, mit uns über eine Aussetzung seiner kriegerischen Absichten zu verhandeln. Kito und ich haben ihm angeboten, als Wiedergutmachung für den Schaden, den die frühe Gilde in seinem Land angerichtet hat, Alchemisten in die Ödländer zu entsenden und diese wieder fruchtbar zu machen. Doch stattdessen hat er unsere Unterwerfung gefordert. Wir haben ihm sogar vorgeschlagen, Sachaka den Stellenwert eines Verbündeten Landes zu geben und unsere politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zu stärken und dem Land damit aus seiner Isolation und zu mehr Wohlstand zu verhelfen, nachdem alle unsere übrigen Versuche fehlschlugen. Doch er war außer sich und hat behauptet, die Gilde hätte einen seiner Ashaki hingerichtet.

- Wir haben seinen Spion exekutiert, als dieser versucht hat, zu fliehen, erklärte Balkan. Er hatte Hilfe und war bereits wieder im Besitz seiner magischen Kräfte. Wir hatten keine Wahl, wir durften ihn nicht entkommen lassen.

Soneas Herz setzte einen Schlag aus.

- Es ist meine Schuld, dass Kito sterben musste, weil ich es war, die den Spion getötet hat, sandte sie. Es tut mir leid.

- Nein, widersprach Balkan scharf. Ich habe den Befehl gegeben, Ikaro zu töten. Ich übernehme die volle Verantwortung für …

- Schuldbekenntnisse nützen niemandem, fuhr Lady Vinara dazwischen. Ikaros Hinrichtung ist doch nur ein Vorwand, der Marika gelegen kommt, um seine Ziele durchzusetzen. Tatsächlich wissen wir doch bereits durch Ikaro von seinen Kriegsplänen.

In der darauffolgenden Stille wagte niemand, ein Wort zu sagen. Obwohl Sonea wusste, dass das Oberhaupt der Heiler recht hatte, fühlte sie sich für das, was sich heute in Arvice ereignet hatte, verantwortlich.

- Botschafter Dannyl, bitte fahrt fort, sandte Balkan und unterbrach damit ihre Grübelei.

- Auf unser Argument, dass dieser Ashaki nach Kyralia eingedrungen ist und dort Verbrechen begangen hat, ist er nicht eingegangen, berichtete Dannyl. Er sagte, wir hätten nicht das Recht uns anzumaßen, einen seiner Untertanen zu bestrafen. Ich … ich habe noch nie einen so undiplomatischen Menschen erlebt. Er war zu keinem Kompromiss bereit und hat Kito und mich seine Überlegenheit spüren lassen. Aber das ist nicht noch nicht das Schlimmste …

Dannyl brach ab. Sonea konnte sein Entsetzen spüren. Auch die höheren Magier waren wie erstarrt, als sich seine Stimmung auf sie übertrug.

- Was ist es?, fragte sie, obwohl sie glaubte, die Antwort bereits zu kennen.

- König Marika hat uns gewissermaßen den Krieg erklärt.

Die Stille, die sich daraufhin im Tagessaal ausbreitete, war zum Zerreißen. Sonea hatte das Gefühl, nicht mehr atmen zu können. Das, was sie seit Monaten wie eine unwirkliche Bedrohung am Rande ihres Bewusstseins gelauert hatte, war nun wahr geworden. Jetzt würde sich zeigen, wie gut die Gilde auf eine Konfrontation mit ihren Feinden vorbereitet war. Aber würde sie darauf vorbereitet sein? Die plötzliche Panik drohte sie zu überwältigen und vermischte sich mit der der höheren Magier. Für einen Augenblick war sie versucht, die Verbindung zu Rothen und Akkarin zu lösen, bis ihr wieder einfiel, wie sie die Gedanken der höheren Magier ausblenden konnte. Ihr eigenes Entsetzen war bereits schwer genug zu ertragen.

Akkarin drückte ihre Hand und sein Daumen strich sachte über ihren Handrücken.

- Was heißt gewissermaßen?, fragte der Hohe Lord, der sich als Erster wieder gefasst hatte.

- Es war keine Kriegserklärung im klassischen Sinne, doch er hat keinen Hehl aus seinen kriegerischen Absichten gegenüber der Gilde gemacht.

- Wäre es nicht klüger gewesen, damit zu warten, bis er seine Armee zusammen hat?, fragte Garrel.

- Nicht, wenn er bereits sicher ist, dass er diese Armee aufgestellt bekommt und uns überlegen ist, entgegnete Akkarin. Insofern müssen wir seine Worte ernstnehmen.

„Also ist es wahr", sagte Osen entsetzt in die Stille, die sich im Tagessaal ausgebreitet hatte. „Was sollen wir jetzt tun?"

Die Köpfe der höheren Magier wandten sich zuerst zu Balkan, dann zu Akkarin.

„Lord Akkarin, was schlagt Ihr vor, wie wir nun reagieren sollen?", fragte der Hohe Lord.

„Das hängt davon ab, wie weit Marikas Verhandlungen mit den Ashaki gediehen sind." Akkarins Blick glitt ins Leere, als er seinen Willen erneut auf Dannyls Blutjuwel fokussierte.

- Botschafter Dannyl, könnt Ihr uns etwas darüber sagen?

- Soweit Kito und ich das in Erfahrung bringen konnten, hat er in den letzten Wochen einige neue Anhänger gewonnen, antwortete Dannyl. Zurzeit verhandelt Marika mit dieser Ichani-Gruppe, die von einem Mann namens Yirako angeführt wird. Soweit wir das verstehen konnten, wurde dessen Vater einst von Marikas Vater in die Ödländer verbannt, weil er versucht hat, ihn zu stürzen. Dass er nun mit seinem Sohn verhandelt, gefällt den Ashaki nicht. Kito und ich haben auf den Märkten ein Gespräch einiger Ashaki überhört, die dem König offenkundig nahestehen. Einer hat erklärt, Marika seine Unterstützung zu verweigern, sollte er ein Bündnis mit den Ausgestoßenen eingehen. Doch anscheinend braucht Marika mehr kampfbereite Anhänger. Seine Anhänger in der Stadt sind mehr an Politik als an Krieg interessiert, weswegen er auf die Unterstützung der Landbevölkerung angewiesen ist. Marika will sich absolut sicher sein, dass er die Gilde besiegen kann, sonst hätte er uns schon längst angegriffen. Die Sachakaner glauben, dass Akkarin und Sonea im Alleingang acht Ichani besiegt haben und das in einem einzigen Kampf. Sie fürchten uns. Und sie fürchten, wir könnten all unseren Magiern erlauben, schwarze Magie zu praktizieren. Also ist Marika umso bemühter, weitere Anhänger um sich zu scharen, die bereit sind, für ihn zu kämpfen.

- Das verschafft uns ein wenig Zeit, sandte Akkarin. Marika wird nicht morgen früh mit seiner Armee nach Kyralia aufbrechen. Er wird Wochen oder Monate brauchen, um seine Leute zu vereinen und Vorkehrungen zu treffen, damit seine Gegner ihn während seiner Abwesenheit nicht entmachten.

- Ich denke, da kann ich Euch weiterhelfen, sandte Dannyl.

- Bitte erklärt das.

- Marika plant wohl, seinen Angriff zu einem Ereignis, dass die Ashaki als Sommernachtsfest bezeichnen, durchzuführen. Allerdings konnten Kito und ich nicht herausfinden, was es damit auf sich hat.

- Das Sommernachtsfest findet in den beiden Nächten um den Tag, an dem die Sonne ihren höchsten Punkt am Himmel erreicht, statt, erklärte Akkarin. Es fällt in unsere Sommerferien.

- Also sollten unsere getroffenen Vorkehrungen verstärken und uns darauf vorbereiten, ihnen zum Ende dieses Halbjahres zu begegnen, sandte Garrel. Insbesondere, wenn er davon ausgeht, dass wir alle bis dahin schwarze Magie praktizieren. Wenn er die Gilde so sehr fürchtet und trotzdem jetzt schon sicher genug ist, uns besiegen zu können, verfolgt er vermutlich einen entsprechenden Plan.

„Wir reden später darüber", entschied Balkan. „Wenn die Sachakaner Dannyl finden, könnten sie unsere Pläne aus seinen Gedanken erfahren."

„Ich finde ohnehin, das hat Zeit bis morgen", sagte Lady Vinara. „Diese Nachrichten sind für uns alle ein Schock. Wir sollten eine Nacht darüber schlafen, bevor wir weitere Pläne schmieden."

„Das sehe ich ebenso", stimmte Akkarin zu. „Unsere nächsten Schritte sollten wohlüberlegt sein. Im Augenblick hat Botschafter Dannyls Rettung die höhere Priorität. Es wäre ein Fehler, davon auszugehen, dass die Sachakaner ihn entkommen ließen, damit er uns diese Nachricht überbringt."

- Ich fühle mich geehrt, dass die Führung der Gilde meine Flucht zu organisieren beabsichtigt, sandte Dannyl. Die Idee schien ihn zu erheitern. Er brauchte es nicht auszusprechen, doch Sonea konnte aus seinen Worten heraushören, dass er nicht an das Gelingen eines solchen Planes glaubte. Bitte schickt keine weiteren Magier nach Sachaka. Der König hat verfügt, jeden von uns zu töten, der Sachaka betritt. Ich werde mich schon irgendwie selbst bis zur Grenze durchschlagen.

- Das ist nicht nötig, sandte Akkarin. Ich werde jemand zu Eurer Hilfe schicken.

- Und wer soll das sein?, fragte Lord Peakin.

- Das erkläre ich später. Ich unterbreche jetzt die Verbindung. Haltet durch, Dannyl.

Das Bild des Pferdestalls in Soneas Geist verblasste und die Präsenzen der höheren Magier zogen sich zurück. Rothen ließ ihre Hand los. Sonea wollte sich von Akkarin lösen, doch er hielt ihre Hand weiterhin fest.

- Ich nehme an, du wirst dir das hier nicht entgehen lassen wollen, sandte er.

- Was hast du vor?

Nur einen Augenblick später verstand sie.


Dannyl löste die Hand, mit der er das Blutjuwel umschlossen hatte, und verstaute es so in seiner Jacke, dass er es wenn nötig sofort griffbereit hatte. Die Unterredung mit den höheren Magiern hatte seinen Nerven einiges abverlangt. Ihr Mitgefühl und ihre Anteilnahme waren durch das Blutjuwel so stark zu spüren gewesen, dass er sich davon schier erdrückt gefühlt hatte. Er hatte versucht, diese Emotionen auszublenden, bis ihm wieder eingefallen war, dass Akkarin das Blutjuwel kontrollierte.

Er seufzte. Jetzt, wo er wieder allein mit seinen Gedanken war, kehrte die Furcht zurück, die durch die Gedankenrede mit den höheren Magiern für eine Weile in den Hintergrund gerückt war. Würden die Palastwachen seine Spur bis hierher verfolgen? Oder würden sie jedes Haus nach ihm durchsuchen, bis sie ihn gefunden hatten? Und wie viel Zeit verschaffte ihm das?

Obwohl Dannyl sicher war, in Arvice zu sterben, klammerte ein Teil von ihm sich an die wilde Hoffnung, ihm würde irgendwie die Flucht gelingen. Er war zu jung, um zu sterben. Die Gilde brauchte ihn; Tayend brauchte ihn. Und er brauchte Tayend. Wenn es auch nur die geringste Chance gab, lebend aus dieser Stadt kommen, dann würde er mit etwas Glück vielleicht die Grenze zu Kyralia erreichen. Doch zunächst brauchte er einen Plan. Und Magie. Er würde schlafen und seine Magie regenerieren müssen. Aber wie lange würde er auf diesem Heuboden in Sicherheit sein? Sollte er abwarten, ob tatsächlich jemand zu seiner Rettung kam, so wie Akkarin ihm versichert hatte?

Das konnte unter Umständen lange dauern. Zudem hatte der schwarze Magier mit keinem Wort erwähnt, wie und wann, diese Rettung erfolgen würde. Und wie überhaupt sollte es seinem Retter gelingen, ihn aus der Stadt herauszubringen? Das Anwesen wieder zu verlassen war trotz der Wachen vielleicht noch möglich, doch spätestens an den Stadttoren würden sie scheitern. Die Gilde durfte keine weiteren Magier nach Sachaka schicken. Ein einzelner Gildenmagier im Herzen des Feindeslandes war ein solches Risiko nicht wert.

- Haltet durch, hatte Akkarin gesagt.

Dannyl schnaubte leise. Was sonst sollte er tun?

Er ließ seinen Blick über den Heuboden schweifen. An der Rückwand entdeckte er mehrere Heuballen, die ihm zuerst nicht aufgefallen waren. Einer war bereits angebrochen. Lose Halme bedeckten dort den Boden. Vorsichtig kroch er darauf zu und ließ sich dann gegen den Ballen sinken. Die Augen schließend atmete er einmal tief durch.

Vielleicht sollte ich meiner wie auch immer gearteten Rettung eine Chance geben, überlegte er. Mit etwas Glück konnt er sich mehrere Tage in diesem Stall verstecken. Als Magier konnte er länger ohne Nahrung und Wasser überleben, als andere Menschen. Allerdings musste er sich solange verborgen halten. Falls er entdeckt wurde, so konnte er nur hoffen, dass es Sklaven waren und nicht der Ashaki oder jemand aus seiner Familie. Das war immer noch besser, als dieses Anwesen zu verlassen und der Palastwache in die Arme zu laufen. Zudem würde er es seinen Rettern dadurch erschweren, ihn zu finden.

Nichtsdestotrotz würde Dannyl sich einen Fluchtplan zurechtzulegen, sollten seine Befürchtungen zutreffen und niemand zu seiner Rettung kommen.


Savara keuchte entsetzt auf. Irgendwo in Arvice war gerade ein Magier von der Palastwache getötet worden. Sie war sicher, es war ein Gildenmagier gewesen. Nur sie stellten sich so an, wenn sie starben. Aber was hatten Gildenmagier in Arvice zu suchen? Das alles ergab keinen Sinn.

Zumindest keinen, der sich ihr bis jetzt erschloss.

„Lady Savara?"

Sie zuckte zusammen. Einer der Kyralier stieß sie behutsam an. Es war Kal, der Mann, der früher Seefahrer gewesen war. Nach einer Woche des Reisens wusste sie inzwischen so gut wie alles über ihre vier Begleiter. Sie war überrascht gewesen, wie viel diese Menschen trotz ihres armseligen Lebens, das dem von Sklaven nicht sehr unähnlich war, bereits erlebt hatten.

„Alles in Ordnung mit Euch?"

Der Karren war mitten auf der Straße zum Stehen gekommen. Als die Vision in ihrem Geist aufgeblitzt war, musste Savara unbewusst an den Zügeln gerissen haben. Einen tiefen Atemzug nehmend schloss sie die Augen und atmete einmal tief durch.

„Ja", antwortete sie. „Es war nur …"

Sie brach ab. Diese Leute sind keine Magier, erinnerte sie sich. Sie würden nicht verstehen, was sie gerade erlebt hatte. Und sie wollte sie nicht unnötig ängstigen.

Ein zuversichtliches Lächeln aufsetzend, blickte sie nacheinander in die Gesichter der drei Männer und der Frau, die Ceryni ihr als magische Quellen mitgegeben hatte. „Nichts, weswegen ihr euch sorgen müsst."

Sie schlug leicht mit den Zügeln. Ihr Karren setzte sich wieder in Bewegung und rollte weiter über die schneebedeckte Straße. Auf der sachakanischen Seite der Berge lag der Schnee weniger dicht, doch niemand hatte sich die Mühe gemacht, ihn von der Straße zu räumen, so wie auf den Straßen in Kyralia, die sie während der vergangenen Tage befahren hatten. Dadurch kamen sie nun langsamer voran, doch der Schnee würde weniger, je tiefer sie kamen, bis er schließlich in den Ödländern ganz verschwunden sein würde.

Doch bis dahin würden sie noch zwei Tage unterwegs sein. Gegen Mittag hatten sie den unbefestigten Pass überquert, den die Kyralier auch Südpass nannten, und der bald nicht mehr unbefestigt sein würde. Zu Savaras Überraschung waren einige Gildenmagier und mehrere Dutzend nichtmagische Arbeiter trotz Schnee und Eis damit beschäftigt gewesen, ein zweites Fort aufzubauen. Als ein Magier in roten Roben sie angehalten hatte, hatte sie das versiegelte Schreiben vorgezeigt, das Akkarin ihr mitgegeben hatte und ihr Karren hatte widerstandslos passieren dürfen.

Savara bedauerte, dass sie Kyralia wieder verlassen musste. Im Gegensatz zu dem Land, in dem sie geboren war, war es so zivilisiert. Der einzige Ort in Sachaka, der sich mit den Verbündeten Ländern messen konnte, war die Zuflucht der Verräter. Savaras Herz wurde schwer, als sie sich fragte, ob sie ihr Zuhause jemals wiedersehen würde. Nach dem Kampf gegen die beiden höheren Gildenmagier hielt ihr Volk sie für tot und Akkarin hatte die Große Mutter über ihr Blutjuwel ihre Taten offenbart. Wenn sie das nicht zu einer Ichani machte, dann war ihr Auftrag noch immer gefährlich genug, dass sie dabei sterben konnte, bevor sie ihre Heimat überhaupt wiedersah.

Seufzend schob Savara ihre düsteren Gedanken beiseite und richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Straße. Der Schnee schimmerte in der Dunkelheit und machte die Nacht ein wenig heller, der Weg war gut zu erkennen und sie konnten ohne Licht weiterreisen. So deutlich, wie sich der Karren vom Weiß der Umgebung abhob, kam Savara die Helligkeit gelegen. Von jetzt an mussten sie vorsichtig sein. Während der nächsten Tage würden sie Ichani-Gebiet durchqueren.

Hoffentlich reicht meine Magie, um mich und die vier Kyralier zu schützen, sollte ich einem Ichani über den Weg laufen, fuhr es ihr durch den Kopf. Obwohl Savara seit ihrem Aufbruch aus Imardin jeden Tag Kraft von ihren Begleitern bezogen hatte, hatte sie noch lange nicht ihre einstige Stärke zurückerlangt. Hätte sie sich als das ausgeben können, was sie war, hätten die Ichani sie in Ruhe gelassen. Sie fürchteten die Verräter – und das nicht ohne Grund. Aber als angeblich eine von ihnen war die Situation eine völlig andere.

Savaras Sorgen hielten sich indes in Grenzen. Sie konnte auch mit wenig Magie tödlich sein. Die wenigen Ichani, die es gewagt hatten, sich mit ihr anzulegen, hatten alle auf die eine oder andere Weise dafür bezahlt.

Bis auf Dakova. Sie unterdrückte ein wütendes Schnauben. Woher nahm dieser Akkarin sich das Recht, ihre Aufträge zu verderben? Erst Dakova, dann Ikaro. Er war nichts als ein dummer Gildenmagier, der nur durch Zufall höhere Magie erlernt hatte. Das gab ihm nicht das Recht, ihr immer wieder ins Handwerk zu pfuschen und das ärgerte sie maßlos.

Was sie jedoch noch mehr verärgerte, war die Tatsache, dass sie jetzt für ihn und seine albernen Gildenmagier arbeiten musste. Als wäre es nicht genug gewesen, ihre früheren Verstöße gegen die Regeln ihres Volkes der großen Mutter zu enthüllen, bestrafte er sie, indem er sie für sich arbeiten ließ. Dabei waren es nur Sklaven von Ichani-Abschaum gewesen, die sie getötet hatte! Akkarin hatte daraus einen persönlichen Racheakt gemacht, weil er eine dieser Sklaven begehrt hatte. Savara hasste ihn dafür, doch sie fürchtete ihn auch.

Wir bieten dir eine einmalige Chance, hatte er gesagt, als sie einander in den Hüttenvierteln wiederbegegnet waren. Du wirst verschont, wenn du einen Auftrag für mich erledigst. Solltest du mich jedoch hintergehen, so werden wir dich über die Grenzen der Verbündeten Länder hinaus jagen und töten. Und dann werde ich keine Gnade kennen.

Akkarin hatte sie nur am Leben gelassen, weil sie ihm noch nützlich war. Sollte sie ihn enttäuschen, so würde er seine Drohung wahr machen, egal was es ihn kosten würde.

Savara hatte indes entschieden, diese Art von Erpressung als neuen Auftrag zu sehen und Akkarins Blutjuwel als ärgerliches, aber notwendiges Übel zu betrachten. Ein Krieg zwischen Sachaka und Kyralia, wenn auch er wahrscheinlich nicht mehr aufzuhalten war, durfte nicht stattfinden. Denn dieser würde auch die Verräter in Gefahr bringen. Als Verräterin war Savara dazu verpflichtet, sich aus Marikas Politik herauszuhalten, was unglücklicherweise seine Kriegstreiberei mit einschloss. Doch da sie offiziell als tot galt, boten sich ihr ganz neue und ungeahnte Möglichkeiten, zu intervenieren. Sich in Marikas Armee einzuschleichen und seine Pläne auszuspionieren war etwas, wovon ihre Schwestern nur träumen konnten, weil sie an ihren Vertrag mit dem König gebunden waren. Und da Akkarin ihr ihren Geheimniswahrer zurückgegeben hatte, würde niemand von ihrem Auftrag erfahren.

Vielleicht kann ich den Krieg irgendwie verhindern, überlegte sie. Wenn es mir irgendwie gelingt, dem König so nahe zu kommen, dass ich ihn töten kann ...

Es war nur ein hehrer Traum. Savara war bereit, ihr Leben zu geben, um Sachaka von diesem Tyrannen und der Tyrannei seiner Ashaki ein für alle Mal zu befreien, hätte sie dazu die Mittel. Der König der sachakanischen Gesellschaft war der wohl am strengsten bewachte Mann in der bekannten Welt.

Und wahrscheinlich auch der Mächtigste.

- Savara!

Sie zuckte erneut zusammen. Es war das erste Mal, dass sie diese barsche Stimme durch das Blutjuwel, das er ihr eingepflanzt hatte, hörte. Doch sie erkannte sie sofort. Und da wusste sie, sie hatte sich etwas vorgemacht. Das Blutjuwel war mehr als nur ein notwendiges Übel. Es hatte sie zu seiner Sklavin gemacht.

- Was wollt Ihr?, fragte sie unwirsch.

- Du musst deine Mission unterbrechen, sandte der einstige Anführer der Gildenmagier. Such das nächste Mitglied deiner Organisation auf, aber sorge dafür, dass sie deine Existenz nicht verrät. Sie soll Kontakt zu jemandem in Arvice oder der Umgebung aufnehmen.

- Und warum?, verlangte sie zu wissen.

- Einer unserer Magier befindet sich dort. Er ist auf der Flucht vor Marikas Palastwachen. Er muss gefunden und sicher zur Grenze gebracht werden.

- Er ist tot, sandte Savara entnervt und voll Unwillen. Meine Schwestern werden sich nicht in Gefahr begeben, um eine Leiche zu bergen.

- Es waren zwei Magier, antwortete Akkarin mit einer Spur von Ungeduld. Deine Leute sind seine einzige Chance, Sachaka lebend zu verlassen.

- Was hatten Eure Magier überhaupt dort zu suchen?

- Das geht dich nichts an!, fuhr eine weibliche Stimme dazwischen.

Sie war undeutlicher, aber dennoch zu hören. Savara erkannte sie sofort. Es war das kleine, schwarzhaarige Mädchen, das Akkarin wie ein gehorsamer Yeel auf Schritt und Tritt folgte. Seine Schülerin, die er ganz offenkundig mit ins Bett nahm. Savara unterdrückte ihre Verärgerung. Warum mischte sie sich ein? Und warum sollte sie den Gildenmagiern überhaupt helfen, einen von ihnen aus dem Zentrum von Sachakas Macht zu retten? Die Gildenmagier waren selbst schuld, wenn sie freiwillig nach Arvice gingen.

- Wenn Ihr wollt, dass die Verräter Euren Freund retten, dann brauche ich ein paar Informationen, die das damit verbundene Risiko rechtfertigen, erklärte Savara.

Es dauerte einige Augenblicke, bevor Akkarin erneut zu ihr sprach. Savara ahnte, er dachte darüber nach, was er ihr an Informationen zu geben bereit war.

- Dieser Magier ist einer unserer besten Diplomaten, sandte er schließlich. Sein Name ist Botschafter Dannyl. Seine Mission bestand darin, mit König Marika über einen Frieden zu verhandeln. Die Verhandlungen sind gescheitert, Sachaka befindet sich seit heute Nacht im Krieg mit Kyralia. Zudem hat Marika veranlasst, dass jeder Gildenmagier, der sich nach Sachaka begibt, getötet werden darf. Botschafter Dannyl muss wenn möglich gerettet werden.

So, Marika hat es also getan, dachte Savara ohne große Überraschung. Das war abzusehen gewesen, wenn auch sie nicht so bald damit gerechnet hatte. Sie hoffte, sie würde Arvice noch rechtzeitig erreichen, bevor der König mit seinen Ashaki ausrückte. Sie bezweifelte indes, dass er dazu schon bereit war. Als sie Sachaka verlassen hatte, hatte es zwischen den Ashaki noch genug Streit gegeben, dass sie sich eher gegenseitig umgebracht hätten, als gegen einen gemeinsamen Feind zu kämpfen.

Aber er muss zuversichtlich genug sein, seine Armee zusammenzubekommen, dass er die Gildenmagier von seinen Absichten wissen lässt, überlegte sie. Während sie in Kyralia gewesen war, musste Marika Fortschritte bei seinen Verhandlungen mit den verfeindeten Ashaki erzielt haben. Sollten sie alle sich ihm anschließen, so konnte er in den Krieg ziehen ohne zu fürchten in der Zwischenzeit gestürzt zu werden. Mit nur wenigen hundert Ashaki würden die Gildenmagier keine Chance haben, sofern sie nicht all ihre Magier in höherer Magie unterwiesen. Doch dazu waren sie zu feige.

Savara hatte keine Lust sich um die Rettung eines törichten Gildenmagiers zu kümmern, doch welche Wahl hatte sie? Wenn seit dieser Nacht zwischen Kyralia und Sachaka Krieg herrschte, dann würde dieser Mann darin vielleicht noch eine wichtige Rolle spielen.

- Die Verräterin, die in der Nähe vom Südpass patrouilliert, ist eine gute Freundin, sandte sie. Sie ist mir noch einen Gefallen schuldig. Ich denke, ich kann sie überreden, dass unser Kontakt in Arvice sich um Euren Botschafter kümmert.

- Worauf wartest du dann noch? Mach dich auf die Suche.

- Zu Befehl, Lord Akkarin, erwiderte sie sarkastisch.

- Melde dich, sobald du sie kontaktiert hast.

Bevor Savara darauf noch etwas erwidern konnte, hatte Akkarin sich wieder zurückgezogen. Sie fluchte. Dieser Mann war so unglaublich unfreundlich. Sie verstand nicht, warum er ihr immer noch zürnte, weil sie seine Geliebte getötet hatte, wo er doch eine neue Bettgespielin hatte. Savara bezweifelte, es war den beiden erlaubt gewesen, zusammen zu sein. Dakova hatte zu den grausameren Ichani gehört. Es war kein Geheimnis, dass er seine Bettsklavinnen nicht mit anderen geteilt hatte, so wie andere Meister es taten. Womöglich hatte er Akkarin zusehen lassen, während er sich mit ihr vergnügt hatte. Dieser Gildenmagier hatte nicht das Recht, sie deswegen zu bestrafen, wenn er noch nicht einmal mit ihr zusammen gewesen war. Wenn überhaupt, dann war das Aufgabe der Verräter.

Aber er hatte es getan. Sie trug ein Blutjuwel, angefertigt aus seinem Blut. Sie konnte es nicht mehr entfernen, ohne bei dem Versuch zu sterben. Und weil es in ihr war, konnte sie ihre Gedanken vor Akkarin nicht mit ihrem Geheimniswahrer verbergen, so wie sie es gekonnt hätte, würde sie das Blutjuwel auf ihrer Haut tragen. Mit einem Mal wurde der Zorn, den sie während der letzten Tage von sich geschoben hatte, übermächtig. Es war leicht, etwas zu vergessen, wenn man nicht ständig damit konfrontiert wurde. Doch ihre Gedankenrede mit Akkarin hatte ihr das Gefühl von Ohnmacht und Ausgeliefertsein wieder ins Gedächtnis gerufen.

Es fühlte sich an, als habe er sie zu seiner Sklavin gemacht.

Savara unterdrückte einen Fluch. Schon als dieser Magier gestorben war, hatte sie geahnt, das würde nicht komplett an ihr vorübergehen. Und jetzt drängte die Zeit. Marikas Magier pflegten ihre Arbeit gründlich zu tun. Sie würde die andere Verräterin schnell finden müssen. Und das mit einem Karren und vier Nichtmagiern.


Mit wachsender Verwunderung beobachtete Rothen, wie Soneas Blick erneut ins Leere glitt. Akkarins Augen hatten seinen Fokus nach dem Gespräch mit Dannyl gar nicht erst zurückerlangt. Er fragte sich, wie der schwarze Magier wen auch immer rechtzeitig nach Arvice schicken wollte, um seinen Freund sicher nach Hause zu bringen. Wenn er Beziehungen nach Sachaka hatte, so hätte er diese während der letzten Monate mehrfach zum Einsatz bringen können. Oder hatte er das ebenso wie Dannyls Blutjuwel der Gilde verschwiegen, weil er wusste, das würde den Magiern nicht gefallen?

Während Akkarin und Sonea wie erstarrt auf ihren Plätzen saßen, malte Rothen sich die absurdesten Möglichkeiten aus, wie der ehemalige Hohe Lord Dannyl aus der Hauptstadt der Sachakaner retten wollte. Das lenkte ihn zumindest für eine Weile von einer noch viel entsetzlicheren Neuigkeit ab.

Der absoluten Gewissheit, dass es Krieg geben würde.

Rothen fühlte sich noch immer unfähig, das zu begreifen. Er wähnte sich in einem bösen Traum gefangen, oder als habe sich jemand einen üblen Scherz erlaubt. Selbst wenn sie den Sachakanern zahlenmäßig überlegen sein waren – wie sollten sie gegen eine Armee schwarzer Magier bestehen? Zum ersten Mal hatte er wirklich das Gefühl, dass das Ende der Gilde in dieser Nacht angebrochen war.

Nach einer scheinbaren Ewigkeit regte Sonea sich. Sie machte ein Gesicht, als habe sie gerade in eine unreife Marin gebissen.

Akkarin ließ ihre Hand los. „Ich habe Savara kontaktiert", teilte er den höheren Magiern mit. „Sie wird Botschafter Dannyls Rettungsmission durch die Verräter organisieren."

Einige von Rothens Kollegen sogen scharf die Luft ein.

„Wie das?", fragte Lord Peakin. „Sie dürfte gerade die Grenze erreicht haben."

„Richtig. Doch die Verräter haben überall in Sachaka Beobachterinnen. Eine von ihnen patrouilliert auf der sachakanischen Seite des Südpasses, den Savara heute Morgen überquert hat. Savara vertraut dieser Frau. Sie wird ihrer Organisation nicht verraten, dass Savara noch lebt, was ihre Mission und damit uns nicht gefährden wird."

„Auch sie wird Tage, wenn nicht Wochen brauchen, um Arvice zu erreichen", wandte Lady Vinara ein.

„Diese Verräterin wird nicht nach Arvice gehen. Sie wird Kontakt zu einer anderen, dort lebenden Verräterin herstellen, die Botschafter Dannyl suchen wird. Ich habe Dannyl angewiesen, mehr über das Anwesen, auf dem er sich versteckt, herauszufinden, sofern er sich dabei nicht in Gefahr begibt. Das wird den Verrätern helfen, ihn zu finden."

Der Hohe Lord wirkte alles andere als begeistert. „Ein guter Plan", brummte er. „Vorausgesetzt, wir können dieser Savara und ihrer seltsamen Organisation wirklich vertrauen."

„Ich vertraue Savara", sagte Akkarin. „Sie weißt, dass ich sie jagen werde, sollte sie sich entscheiden, gegen uns arbeiten."

„Letzte Woche habt Ihr uns erzählt, diese Verräter würden Frauen helfen, die von ihren Männern schlecht behandelt werden", sagte Administrator Osen. „Und Ihr habt uns erzählt, sie würden sich in großen politischen Konflikten neutral verhalten und ansonsten ihre Dienste jener Seite anbieten, die ihnen das meiste Geld bietet. Das ist doch richtig, nicht wahr?"

„Ja."

„Also habt Ihr ihnen Geld geboten, damit sie Botschafter Dannyl befreien?"

„Nein."

In den Gesichtern seiner Kollegen sah Rothen Verwirrung, aber auch Verunsicherung. Tatsächlich erging es ihm nicht anders.

„Aber warum sollten sie uns dann helfen?", fragte er.

„Weil die Verräter ihre Neutralität nicht mehr wahren können, wenn die Sachakaner einen Krieg gegen uns beginnen", antwortete Akkarin. „Ein Sieg Marikas hätte fatale Folgen für das Schicksal ihres Volkes."

„Dann sollten wir sie überzeugen, sich mit uns zu verbünden." Osen war anzusehen, dass ihm diese Vorstellung nicht behagte. „Sofern Savara nicht die einzige Verräterin ist, die einen Krieg unserer Länder ablehnt."

Akkarin schwieg eine Weile. An seinem Gesichtsausdruck konnte Rothen erahnen, dass er Rücksprache mit Savara hielt.

„Sie ist sich nicht sicher. Aber sie glaubt, die meisten von ihrem Volk wollen einen solchen Krieg nicht."

Obwohl Rothen nichts lieber als ein Volk schwarzer Magier als Verbündete in diesem Krieg gesehen hätte, begriff er die Logik hinter Akkarins Argumenten noch nicht so ganz. „Wenn die Sachakaner Kyralia erobern, würde das Geschäft der Verräter dann nicht aufblühen?", fragte er. „Die Sachakaner würden sich in unserem Land ausbreiten und versklaven, wen sie am Leben lassen. So wie sie es bereits einmal getan haben. Und damit gäbe es mehr Frauen, denen die Verräter helfen könnten."

Sonea wandte sich ihm zu. „Ihr habt Recht, Rothen", sagte sie. „Aber die Sachakaner würden ebenfalls stärker und dann wären die Verräter in Gefahr. Die Ashaki dulden die Verräter nur, aber sie mögen nicht, was sie tun." Ihr Gesicht verfinsterte sich. „Bis auf ihre Söldnerdienste", fügte sie trocken hinzu.

„Sie werden nur deswegen von Marika und den Ashaki verschont, weil sie im Verborgenen operieren und ihre Basis an einem geheimen Ort in den Bergen liegt", sagte Akkarin. „Zudem werden sie für Privatkriege unter den Ashaki oder den Ichani angeheuert. Sollten die Sachakaner Kyralia erobern, so wird der Grund für ihre Streitigkeiten nichtig und die Verräter werden ihnen nicht mehr von Nutzen sein."

„Also bitten wir die Verräter um Hilfe", sagte Garrel. „Durch ihre Unterstützung würden sich unsere Chancen, die Sachakaner zu besiegen, deutlich verbessern."

„Ein Krieg, der zu unseren Gunsten ausfällt, würde von ihnen ebenso abgelehnt", sagte Akkarin. „In dem unwahrscheinlichen Fall, dass wir gewinnen, würde die sachakanische Kultur in ihrer bisherigen Form nicht fortbestehen können. Auch wenn es Generationen dauern wird, bis Sachaka zivilisiert ist, so würde das langfristig gesehen den Verrätern ihre Lebensgrundlage nehmen. Entsprechende Verhandlungen sollten nur wohlüberlegt durchgeführt werden."

Der Hohe Lord runzelte die Stirn. „Dann sollten wir Botschafter Dannyl schicken."

„Nach allem, was Dannyl durchgemacht hat, sollten wir ihm das nicht auch noch zumuten", sagte Lady Vinara.

„Das Einfachste wäre es, ihn zu fragen", sagte Rothen. Er war sicher, Dannyl würde diese Aufgabe bereitwillig übernehmen. „Aber nicht bevor sicher ist, dass die Verräter ihn wirklich in Sicherheit bringen können."

Sonea sah zu Rothen. „Macht Euch keine Sorgen, Rothen", sagte sie sanft. „Wenn die Verräter uns helfen, dann wird Dannyl sehr bald außer Gefahr sein. Savara ist bereits dabei, die Berge am Südpass nach ihrer Freundin abzusuchen."

Rothen runzelte die Stirn. „Ich dachte, du kannst Savara nicht leiden", murmelte er.

„Das kann ich auch nicht", antwortete sie hart. „Aber Akkarin vertraut ihr in dieser Hinsicht. Also tue ich es auch."