Kapitel 39 – Die Gildenversammlung
Etwas Hartes und Dünnes bohrte sich in Dannyls Wange. Mit einem unterdrückten Aufschrei fuhr er hoch. Im letzten Augenblick unterdrückte er den Impuls, einen Schild zu errichten. Denn damit hätte er sich sofort als das verraten, was er war: ein Magier. Während ihm das Herz bis zum Hals schlug, sah er sich gegen die Helligkeit blinzelnd um.
Durch eine Luke im Dach fluteten Sonnenstrahlen auf den Heuboden. Ihr Licht fiel direkt auf ein Gesicht mit großen braunen Augen nur wenige Zoll von seinem eigenen entfernt.
Dannyl wich zurück, das Herz hämmerte so heftig in seiner Brust, dass er glaubte, sie würde aufplatzen.
„Moze aze yichivo?"
Die Stimme stammte eindeutig von einem Kind.
Beinahe hätte Dannyl laut aufgelacht, als er erkannte, dass die Gestalt vor ihm ein höchstens sechsjähriger Junge war. Er schalt sich selbst einen Narren, weil er sich von einem Kind einen derartigen Schrecken hatte einjagen lassen. Doch nach einer Nacht, in der er aus Furcht entdeckt zu werden, kaum ein Auge zugetan hatte, waren seine Nerven überspannt. Erst im Morgengrauen war er in einen unruhigen Halbschlaf gefallen, in welchem er erneut durch dunkle Gassen gerannt war, während die Palastwachen ihn verfolgten. In den Wirren seiner Träume war Kito die ganze Zeit nicht von seiner Seite gewichen, was seltsam tröstlich gewesen war, während eine leise Stimme Dannyl geflüstert hatte, dass Kito tot war.
Bei den Erinnerungen an den vergangenen Abend verspürte Dannyl Übelkeit. Er kam sich wie ein Feigling vor, weil er geflohen war, anstatt Kito zur Seite zu stehen. Dabei wusste er, hätte Kito sich nicht geopfert, wären sie nun beide tot und die Gilde hätte niemals erfahren, was sie in Arvice herausgefunden hatten.
Er betrachtete den Jungen näher. Mit seinem schmutzigen Hemd, das an seinem mageren Oberkörper schlackerte, der braunen, löchrigen Hose und den nackten Füßen war er alles andere als die uniformierten Männer, die Dannyl erwartet hatte. Seine halblangen schwarzen Haare standen unordentlich nach allen Seiten ab und seine Fingernägel waren nicht gerade die saubersten. Seine Augen blickten Dannyl indes neugierig und erwartungsvoll an.
Immerhin bin ich jetzt wach, dachte Dannyl trocken.
„Uyi yichivo Curran", stellte er sich ein wenig holprig vor. Nachdem er sich wochenlang als Weinhändler ausgegeben hatte, kamen die Worte wie von selbst, wofür Dannyl dankbar war. „Nuta ize yichivo?"
„Jorika", sagte der Junge ein wenig irritiert. Als er fortfuhr, schwang in seiner Stimme jedoch Stolz: „Mein Vater arbeitet in diesem Stall. Ich helfe ihm."
Dannyl atmete innerlich auf. Jorika war also ein Sklavenjunge. Es hätte ihn schlimmer treffen können. Trotzdem ermahnte er sich dazu, vorsichtig zu sein. Woher sollte er wissen, ob der Junge nicht bei der nächstbesten Gelegenheit seinem Vater – oder noch schlimmer: seinem Meister – erzählen würde, dass sich ein Fremder auf dem Heuboden versteckte?
„Warum habt Ihr im Stall geschlafen?", unterbrach Jorika seine Gedanken. „Ihr seht nicht aus wie ein Ashaki-Meister."
Dannyl zögerte. Was sollte er darauf antworten, wenn sich die Wahrheit von selbst verbat? Obwohl Jorika ihm nicht feindselig gesonnen schien, bestand die Gefahr, dass er ihn unbeabsichtigt verriet. Andererseits, wenn es ihm gelang, das Vertrauen des Jungen zu gewinnen …
Jorika war nicht das erste Kind, mit dem Dannyl zu tun hatte. Auf den Festen der Dems und Bels wurde er oft von einer Schar von Kindern belagert, die mit Geschichten und magischen Tricks zu unterhalten werden verlangten. Er brauchte Jorika nur anzusehen, um zu wissen, dass sich die Kinder des elynischen Adels von sachakanischen Kindern unterschieden. Eines hatten alle Kinder jedoch gemeinsam: Sie waren neugierig, begeisterungsfähig, abenteuerlustig und besaßen noch die Fähigkeit zu staunen. Viele verloren diese Eigenschaften jedoch bis zu einem gewissen Maß auf Grund ihrer gemachten Erfahrungen, wenn sie älter wurden. Jorika schien diesem Alter indes noch nicht entwachsen. Und das brachte Dannyl auf eine Idee.
In einem Land voll schwarzer Magier war er ganz auf sich gestellt. Er wusste nicht, ob die Rettung, die die Gilde ihm versprochen hatte, wirklich kommen würde. Und wenn sie kam, dann würde das dauern. Bis dahin würde es noch genügend Gelegenheiten geben zu sterben. Er hatte seinen Bericht an die Gilde gemacht, seine Aufgabe war erfüllt. Was also hatte er noch zu verlieren?
Mit einem verschwörerischen Lächeln bedeutete er Jorika, näher zu kommen. Zögernd, aber dennoch voll Neugier, kroch der Junge näher.
Erfreut beugte Dannyl sich zu ihm. „Kannst du ein Geheimnis für dich behalten?"
Jorika nickte ernst.
„Ich habe hier geschlafen, weil ich mich vor deinem Meister verstecke", antwortete Dannyl leise. „Er soll nicht wissen, dass ich hier bin. Noch nicht, weil es eine …", er brauchte eine Weile, um das richtige sachakanische Wort zu finden, „ … Überraschung werden soll."
Er lächelte humorlos. Der Ashaki, dem dieses Anwesen gehörte, würde zweifelsohne sehr überrascht sein, wenn er herausfand, dass sich ein Gildenmagier bei ihm versteckte.
Die Augen des Jungen weiteten sich. „Ihr kennt Ashaki Divako?"
„Nun, wir sind alte Freunde", log Dannyl. „Es ist lange her, dass wir uns gesehen haben. Damals gab es dich noch nicht."
„Und wann wollt Ihr ihn überraschen?"
„In ein paar Tagen." Da Dannyl nicht wusste, ob seine Rettung bis dahin eingetroffen war, fügte er hinzu: „Ich warte auf ein ganz bestimmtes Ereignis. Es ist sozusagen ein Spiel."
„Was ist das für ein Ereignis?", verlangte Jorika zu wissen.
„Das verrate ich dir, wenn ich weiß, dass ich dir vertrauen kann", antwortete Dannyl verschwörerisch.
„Ihr könnt mir vertrauen, Meister Curran! Ich werde niemandem etwas erzählen!"
„Davon musst du mich erst überzeugen." Während er noch überlegte, was er dem Jungen erzählen sollte, falls dieser weitere Fragen stellte, und ob sein Sachakanisch dazu ausreichte, begann sein Magen schmerzhaft zu rumpeln.
„Habt Ihr Hunger, Meister Curran?"
„Ja", antwortete Dannyl erleichtert über den Themenwechsel. „Als ich hier ankam, war niemand mehr wach und mein … Essen … war schon aufgebraucht."
„Ich hole Euch etwas zu essen."
Jorika erhob sich und wollte zur Leiter eilen, doch Dannyl bekam ihn am Ärmel zu fassen.
„Warte."
Der kleine Junge hielt inne. „Habt Ihr noch einen Wunsch, Meister Curran?"
Dannyl lächelte. „Es reicht, wenn du mich Curran nennst", erwiderte er freundlich. „Wie du schon festgestellt hast, ich bin kein Ashaki. Es wäre schön, wenn du mir etwas zu essen und zu trinken bringst. Aber pass auf. Niemand soll erfahren, dass ich hier bin. Zumindest noch nicht."
Auf Jorikas Gesicht stahl sich ein Grinsen. „Das ist das kleinste Problem, Meister Curran!"
„Jorika!", brüllte eine tiefe Stimme von unten. „Steckst du schon wieder da oben?"
Jorika zuckte zusammen. „Ja, Vater!", rief er zurück.
„Komm runter und hilf mir die Pferde fertigzumachen. Meister Divako wünscht auszureiten."
„Ich komme, Vater!"
Dannyl legte einen Finger auf seine Lippen. „Noch nicht", flüsterte er. „Es ist noch zu früh, Ashaki Divako zu überraschen."
Jorika nickte. „Ich komme wieder, sobald ich kann", versprach er. Dannyl ein verschwörerisches Lächeln zuwerfend stieg er die Leiter hinab.
Nachdem er fort war, zog Dannyl das Blutjuwel aus seiner Hosentasche hervor. Es war Zeit, eine Meldung an die Gilde zu machen.
Der Traum war bereits verblasst, bevor Sonea vollständig erwacht war. Zurück blieb nur das vage Gefühl, dass er seltsam tröstlich gewesen war. Das gefiel ihr nicht. Sie hatte dieses Gefühl in letzter Zeit zu oft gehabt. Es vermittelte ihr den Eindruck, dass etwas nicht so war, wie es sein sollte. Zugleich war sie jedoch noch zu müde, um sich zu entsinnen, warum sie so empfand.
Finden wir es heraus.
Vorsichtig öffnete sie die Augen und blinzelte gegen helles Sonnenlicht. Sie runzelte die Stirn. Wieso war es schon hell? War schon wieder Freitag? Waren noch Ferien?
„Guten Morgen, Sonea", erklang eine tiefe Stimme von den Fenstern.
Noch immer gegen das Licht blinzelnd, machte sie dort eine dunkle Silhouette aus. Akkarin.
„Guten Morgen, Lord Akkarin", erwiderte sie verwirrt. „Wieso bist du schon auf?"
„Ich musste einige Details von Dannyls Rettung organisieren."
Seine Worte vertrieben auch den letzten Rest ihrer Müdigkeit. Sonea erinnerte sich, wie sie im Bett gelegen hatten, als sie Kitos Gedankenübertragung empfangen hatten. Sie erinnerte sich an seine Todesangst und an den glühendheißen Schmerz, als ein er im Augenblick seines Todes die Kontrolle über seine Magie verloren hatte. Es hatte sich angefühlt, als wäre sie an seiner Stelle verbrannt.
Anschließend hatte Akkarin sie zu den höheren Magiern mitgenommen, wo Dannyl per Blutjuwel einen detaillierten Bericht über seine Mission abgegeben hatte. Sonea war erleichtert gewesen zu erfahren, dass der junge fröhliche Magier den Angriff überlebt hatte. Was er ihnen jedoch mitgeteilt hatte, war beinahe noch entsetzlicher als der Tod seines Vorgesetzten.
„Wie geht es Dannyl?", fragte sie.
„Es geht ihm gut. Er hat bereits eine neue Freundschaft geschlossen."
Allmählich gewöhnten Soneas Augen sich an das Licht und sie konnte Akkarin besser erkennen. Er saß in einem Sessel, die Fingerspitzen aneinandergelegt. Seine Stirn war wie so oft nachdenklich gerunzelt, sein Gesichtsausdruck noch finsterer als üblich, was nicht daher kam, dass es im Schatten lag.
Sonea setzte sich auf. „Haben die Verräter ihn schon gefunden?"
„Nein. Savara durchstreift noch die Berge am Südpass auf der Suche nach ihrer Freundin. Aber es ist Dannyl gelungen, den Namen des Ashaki herauszufinden, in dessen Stall er sich versteckt. Ich habe die Information bereits an sie weitergegeben."
Also würde es schnell gehen, wenn Savara ihre Freundin überzeugt hatte, ihre Leute in Arvice zu Dannyl zu schicken. Sonea hoffte, die Verräter würden bereit sein, der Gilde in dieser Angelegenheit zu helfen. Da diese es vorzogen, neutral zu sein, wollte sie jedoch nicht allzu sehr darauf hoffen. Dennoch hob sich ihre Stimmung bei dem Gedanken, dass Dannyl vielleicht bald wieder in Sicherheit sein würde, ein wenig. Rothen würde sich über diese Nachricht gewiss freuen.
Plötzlich fiel Sonea etwas ein, das sie über die Aufregung der letzten Nacht völlig vergessen hatte. Warum hatte er sie nicht geweckt?
Als habe sie ein Faren gestochen, schlug sie ihre Decke zurück und schwang ihre Beine über die Bettkante.
„Ich muss zum Unterricht!"
„Nicht heute."
Sonea hielt inne. Der Klang seiner Stimme implizierte, dass er sich auf keine Diskussion einlassen würde. Sie verdrehte innerlich die Augen. Warum kam er bloß in den denkbar unpassendsten Situationen plötzlich auf die Idee, sie bemuttern zu wollen? Konnte er nicht einfach nur das sein, wofür sie ihn liebte?
„Lord Akkarin, Ihr könnt mich nicht aus dem Unterricht nehmen, weil die Sachakaner uns letzte Nacht den Krieg erklärt haben", protestierte sie. Ihre Ausbildung war jetzt wichtiger denn je. Sie durfte nicht zulassen, dass seine persönlichen Gefühle seine Entscheidungen beeinflussten. Sie wollte lernen. So viel wie sie konnte, um so gut wie möglich vorbereitet zu sein, wenn die Sachakaner kamen. Zudem würde sie den ganzen Tag an nichts anderes als die Ausweglosigkeit ihrer Situation denken müssen, wenn sie zuhause blieb.
„Sonea, heute findet kein Unterricht statt", erwiderte er sanft. „Viele Magier und Novizen sind von Kitos Tod verstört. Balkan hat für heute Mittag eine Gildenversammlung einberufen, um die Gilde über die gestrigen Ereignisse und Dannyls und Kitos Mission zu informieren. Anschließend werden wir diskutieren, wie wir auf diese Entwicklung reagieren. Die Novizen sind ebenfalls angehalten worden, dabei zu sein."
Sonea brauchte einige Augenblicke um das zu verdauen. Eine Gildenversammlung, zu der auch Novizen zugelassen waren – die Lage war wirklich ernst. Erst allmählich dämmerte ihr, wie ernst sie tatsächlich war.
„Ich erwarte, dass du mich dorthin begleitest."
Sie konnte nur nicken. Die Furcht schnürte ihr die Kehle zu. Die Sachakaner würden kommen und alles zerstören, was sie ihr Zuhause nannte. Sie würden zu Hunderten kommen. Und sie würden bald kommen. Vielleicht bevor ...
„Was ist mit unserer Hochzeit?"
Akkarin erhob sich und trat zu ihr ans Bett. Er legte eine Hand auf ihre Wange und hob ihren Kopf, bis sie zu ihm aufsah. Mit einem Schaudern erkannte Sonea, dass sie ihn ehrfurchtgebietender denn je empfand.
„Wir werden heiraten", versprach er, „egal, wann die Sachakaner kommen."
Sonea wollte protestieren, wollte einwenden, dass sie warten sollten, bis dieser Krieg vorbei war. Nur um sicherzugehen, dass sie nicht sterben würden. Aber wenn sie starben, bevor sie verheiratet waren, würden sie niemals wissen, wie es sein würde verheiratet zu sein. Sie wusste, das war albern. Es ging nicht darum, alles zu erreichen, bevor es zu Ende war. Es war aber auch nicht so, dass das Ende zwingend dann kam, wenn man alles erreicht hatte.
„Sonea, ob wir in diesem Krieg sterben, hängt nicht davon ab, ob wir verheiratet sind oder nicht." Akkarins Stimme klang so hart, dass sich die feinen Härchen auf ihren Armen aufstellten. „Aber ich werde nur mit dir als meiner Frau in diesen Krieg ziehen. Selbst wenn wir dafür einen Tag bevor wir auf die Sachakaner treffen mit unseren Trauzeugen zu König Merin gehen."
Sonea nickte stumm. Seine Entschlossenheit, nichts zwischen sie geraten zu lassen, beruhigte sie, wenn auch sie ihre Furcht vor diesem Krieg nicht verringern konnte. Aber sie würden zusammen sein, sie musste das nicht alleine durchstehen. Als sie seinem Blick begegnete, huschte der Anflug eines Lächelns über sein Gesicht.
„Lass dir mit dem Aufstehen und dem Baden so viel Zeit, wie du möchtest", sagte er. „Bis zur Gildenversammlung ist noch Zeit. Ich erwarte dich im Speisezimmer."
Akkarin wandte sich ab. Seine Hand strich flüchtig über ihre Wange, dann verließ er das Schlafzimmer.
Sonea schlang die Arme um ihre Knie und sah ihm nach. Sie glaubte, sich noch nie so hilflos und so aufgehoben zugleich gefühlt zu haben.
„Ja, Mylord", flüsterte sie.
„Am vergangenen Abend wurde Auslandsadministrator Kito in Arvice von schwarzen Magiern des sachakanischen Königs getötet", dröhnte Balkans Stimme durch die überfüllte Gildehalle. „Kito befand sich auf einer diplomatischen Mission zusammen mit dem zweiten Botschafter von Elyne, Lord Dannyl. Diese Versammlung dient dazu, die Gilde über den Zweck ihrer Mission und damit verbundene Details zu informieren, die bisher der Geheimhaltung unterlagen."
Auf den Sitzreihen entstand empörtes Gemurmel.
„Ich bitte um Ruhe!", rief Administrator Osen mit magisch verstärkter Stimme, während er verzweifelt auf seinen Gong schlug. „Bitte lasst den Hohen Lord ausreden!"
„Das würden wir, wenn er das denn wäre!", rief jemand aus einer größeren Gruppe junger Männer in braunen Roben.
Unter den Novizen brach Jubel aus, mehrere riefen laut Akkarins Namen. In einer anderen Gruppe von Novizen vergrub eine kleine, schwarzgewandete Gestalt das Gesicht in den Händen.
Einige höhere Magier räusperten sich vernehmlich. Das Weiße an Osens Knöcheln trat hervor.
„Und so etwas im Beisein unseres Königs", knurrte Garrel. „Es war ein Fehler, die Novizen zu dieser Versammlung zuzulassen."
„Welch Glück, dass sie keine Entscheidungsgewalt haben", murmelte Osen.
In ein paar Jahren werden sie das, dachte Rothen und fragte sich, wohin das führen würde, wenn die Gilde bereits jetzt ob des Wechsels ihres Anführers gespalten war.
Balkan zögerte, als hätten die Novizen seine Moral gebrochen, was seltsam ob seiner üblichen Selbstsicherheit war.
„Hoher Lord, bitte fahrt fort", sagte der Mann, der auf dem Platz über ihm saß.
„Sehr wohl, Euer Majestät." Balkans Brust schwoll an, als er mit magisch verstärkter Stimme weitersprach. „Die Geheimhaltung dieser Mission diente zum Schutz der Gilde und um eine verfrühte Panik zu vermeiden. Es lag nicht in unserer Absicht …"
Rothen warf einen Blick zu Akkarin, der zu seiner Linken saß. Der schwarze Magier hatte sich, das Kinn auf eine Hand gestützt, zurückgelehnt und verfolgte die Gildenversammlung regungslos. Wenn dieser Zwischenfall zu seiner Erheiterung beitrug, so ließ er sich das nicht anmerken.
Es war ein Skandal, dass die Gilde in einer solchen Krise nicht vollständig hinter ihrem neuen Anführer stand, fand Rothen. Da Akkarin in den letzten Monaten seine Integrität und Vertrauenswürdigkeit trotz gewisser Alleingänge mehrfach bewiesen hatte, wurde er von vielen Magiern wieder respektiert, als wenn er noch immer Hoher Lord wäre. Auch wenn Rothen keinen schwarzen Magier an der Spitze der Gilde wollte, so musste auch er zugeben, dass der Führungswechsel das Machtgefüge in der Gilde gestört hatte.
„Unmittelbar nach der Anhörung, bei welcher der Sachakaner Ikaro verurteilt wurde, brachen Botschafter Dannyl und Auslandsadministrator Kito nach Arvice auf, um mit dem sachakanischen König Marika Friedensverhandlungen aufzunehmen. Marika war jedoch zu keinen Verhandlungen bereit. In den letzten Wochen hat der sachakanische König einige Fortschritte bei den Verhandlungen mit seinen Landsleuten erzielt, ein Bündnis mit den Ichani ist zudem sehr wahrscheinlich geworden. Wir gehen davon aus, dass es nur noch wenige Wochen bis Monate dauern wird, bis Marika die nötige Unterstützung findet, um uns anzugreifen. Eines ist jedoch sicher."
Balkan machte eine Pause und ließ seinen Blick durch die überfüllte Gildehalle schweifen. Novizen und Magier hatten sich zusammengedrängt. Diejenigen, die keinen Platz gefunden hatten, hockten auf den Stufen, die zu den höher gelegenen Sitzreihen führten. Inzwischen herrschte absolute Stille. Selbst die Novizen lauschten den Worten des Hohen Lords wie gebannt.
„Seit gestern Abend befinden wir uns offiziell im Krieg mit Sachaka."
Mehrere Magier schnappten entsetzt nach Luft. Die Novizen rückten dichter zusammen.
„Wir werden nun unsere bereits eingeleiteten Vorkehrungen verstärken", fuhr Balkan fort. „Ich fasse nun zusammen, welche Maßnahmen wir bereits ergriffen haben: In den letzten zwei Monaten haben wir einige Händler, die regelmäßig nach Sachaka reisen, als Spione ausgebildet, um für uns in ihrer Hauptstadt Informationen über den Fortschritt von Marikas Kriegsplänen zu sammeln. Ursprünglich war geplant, sie zu entsenden, sobald die Pässe wieder schneefrei sind, doch weil die Zeit drängt, werden die Spione bereits an diesem Wochenende nach Sachaka aufbrechen.
„Da diese Spione uns nur berichten können, was öffentlich diskutiert wird, haben wir eine sachakanische Magierin rekrutiert, die sich als Ichani in Marikas Armee einschleichen wird. Sie gehört einer in den Bergen Sachakas lebenden Splittergruppe an, die den Krieg zwischen unseren Ländern ablehnt und sich weitgehend neutral verhält. Sobald sie Arvice erreicht und den sachakanischen König überzeugen kann, sie in seine Armee aufzunehmen, werden wir durch sie Informationen direkt aus dem Palast erhalten. Unsere Spionin hat zudem ein Mitglied ihrer Gruppe in Arvice kontaktiert, das für Botschafter Dannyls Rettung sorgen wird.
„Von heute an werden die Novizen zusätzlich zu den Magiern jeden Abend ihre verbleibende Magie im Dome speichern, wo sie für Lord Akkarin und seine Novizin aufbewahrt wird. Sie werden diese Magie brauchen, wenn die Sachakaner nach Kyralia kommen. Den Novizen, denen das dafür nötige Wissen noch fehlt, wird Lord Larkin zur Seite stehen."
Balkan wies zu Rothen. „Weil diese Maßnahmen uns nicht dabei helfen werden, uns gegen die Sachakaner zu verteidigen, forscht Lord Rothen, wie man mit alchemistischen Substanzen den Schild eines Gegners schwächen oder durchbrechen kann. In den vergangenen Wochen hat er vier unterschiedliche Varianten dieser …", er runzelte die Stirn, „ … Schildzerstörer konstruiert, die bald getestet werden können. Sollten seine Experimente erfolgreich sein, werden die entsprechenden Substanzen in größerem Umfang hergestellt und in Form kleiner Phiolen an die Gilde ausgegeben, wenn die Konfrontation mit den Sachakanern unmittelbar bevorsteht. Lord Rothen und sein Team sind für jede Unterstützung dankbar.
„Außerdem forscht Lord Akkarin seit einigen Monaten an der Herstellung sogenannter Speichersteine, in denen Magie aufbewahrt und mit zerstörerischer Kraft freigesetzt werden kann. Da er bereits früher auf diesem Gebiet geforscht hat, haben wir Anlass zu der Hoffnung, dass er bald damit erfolgreich sein wird. Durch Speichersteine könnte die Magie aus dem Dome den Magiern zurückgeben werden, so dass sie diese Magie im Kampf verwenden können, ohne dass sie mit schwarzer Magie in Berührung kommen. Lord Garrel hat bereits mit Akkarin, Vorel und meiner Wenigkeit einige Strategien erarbeitet, wie unsere Magier mit diesen Hilfsmitteln in kleinen und flexiblen Gruppen gegen die Sachakaner kämpfen können.
„Einige ausgewählte Magier werden nicht am Kampf gegen die Sachakaner teilnehmen. Ihnen wird die Aufgabe zuteil, das Wissen der Gilde vor unseren Feinden in Sicherheit zu bringen und die Gilde an einem anderen Ort neu aufzubauen, sollten all unsere Versuche, die Sachakaner aufzuhalten, scheitern."
Der Hohe Lord nahm einen tiefen Atemzug.
„Dies ist der aktuelle Stand unserer Gegenmaßnahmen. Ich übergebe jetzt das Wort an Administrator Osen. Er wird Eure Fragen beantworten und die Diskussion leiten."
Rothen konnte hören, wie Balkan erleichtert die Luft ausstieß, als er sich in seinem Sitz zurücklehnte.
Bevor Osen jedoch zu Wort kommen konnte, fingen mehrere Magier gleichzeitig an zu reden.
„Wann werden die Sachakaner uns angreifen?"
„Wie groß ist die Armee?"
„Wie wirken Lord Rothens Phiolen?"
„Was hat es mit dieser Spionin auf sich?"
„Ich bitte um Ruhe!" Die magisch verstärkte Stimme von Administrator Osen dröhnte durch die Gildehalle. Zu Rothens Bewunderung übertönte sie das aufgeregte Stimmengewirr der Magier. „Es macht keinen Sinn, wenn alle durcheinanderreden!"
„Wenn das so weitergeht, sitzen wir noch heute Abend hier", prophezeite Garrel.
„Angesichts der Agenda für die heutige Versammlung werden wir das sowieso", brummte Peakin neben ihm.
Und damit hat er wahrscheinlich recht, dachte Rothen. Die Nachricht, dass der Krieg mit Sachaka über Nacht in greifbare Nähe gerückt war, hatte die Gilde in helle Panik versetzt. Auch Rothen hatte in der vergangenen Nacht nur Ruhe finden können, weil er dem Schlaf ein wenig auf die Sprünge geholfen hatte. Es war beängstigend und seltsam unwirklich, dass der Zukunft der Gilde mit der Kriegserklärung der Sachakaner ein Ultimatum gesetzt worden war.
Allmählich kehrte Ruhe ein.
„Bitte stellt Eure Fragen der Reihe nach", sagte Osen. „Die höheren Magier werden versuchen, sie nach bestem Können zu beantworten."
„Die Frage, die wohl alle von uns am meisten beschäftigt, ist doch, wann die Sachakaner uns angreifen", sagte Lady Vinara.
Osen nickte Balkans Vorgänger zu. „Lord Akkarin, ich erteile Euch das Wort."
Der schwarze Magier erhob sich und stieg die Stufen hinab. Vor der Empore blieb er den Magiern und Novizen zugewandt stehen.
„Basierend auf den Informationen, die wir seit der Schlacht von Imardin aus verschiedenen Quellen zusammengetragen haben, ergibt sich folgendes Gesamtbild", begann er. „Sowohl zahlen- als auch kräftemäßig hat Marika genügend Anhänger um sich geschart, dass er uns bereits im vergangenen Sommer hätte vernichtend schlagen können. Allerdings leben viele seiner Anhänger im wohlhabenden Teil Sachakas nahe Arvice, wo das Land furchtbar ist. Sie sind eher an Politik als an Krieg interessiert und unterstützen ihren König, indem sie seine Propaganda verbreiten und seinen Krieg mit Geld, Nahrungsmitteln und Sklaven fördern. Weitere Anhänger leben am Rande der Ödländer. Doch diese haben nicht die Mittel, ihn außer mit ihrer Kampfkraft zu unterstützen. Sie erhoffen sich von einem Sieg ein Stück fruchtbares Land, das ihnen niemand streitig machen kann.
„Marika verfolgt zwei Ziele: das Beenden des Bürgerkriegs und Vergeltung für die Niederlage Sachakas im letzten Krieg. Er plant, Ersteres mit Letzterem zu erreichen und Sachaka wieder zu dem Imperium von einst zu machen. Marika hat unter den Ashaki jedoch viele Gegner. Er kann seine Ziele nur erreichen, wenn er alle Ashaki vereint. Wäre ihm einzig an Rache gelegen, hätte die Gilde bereits aufgehört zu existieren und seine Gegner hätten seine Abwesenheit genutzt und den Thron erobert.
„Seine Verhandlungen mit den Ichani verkomplizieren sein Ziel. Nicht alle Ashaki sind bereit, mit diesen zu kooperieren – noch mehr als sie sich weigern, mit verfeindeten Ashaki zu kooperieren. Der sachakanische König ist schnell darin, in Ungnade gefallene Ashaki aus der Gesellschaft zu verstoßen, doch einige Ichani leben seit Generationen in den Ödländern. Sie haben keine Möglichkeit, wieder Teil der Gesellschaft zu werden, weil nach dem sachakanischen Verständnis von Schuld die Taten ihrer Vorfahren an sie weitervererbt werden. Marika plant, jenen Ichani die Gelegenheit zu geben, sich von ihrer Schuld reinzuwaschen, indem sie für ihn kämpfen, und sie als Gegenleistung wieder in die Gesellschaft aufzunehmen. Mit Kyralia hätte er genug Land zur Verfügung, dass es nicht zu Streitigkeiten kommt."
Nachdem er geendet hatte, herrschte eine Weile Stille. Dann begannen die Magier erneut durcheinanderzurufen.
„Wann werden die Sachakaner angreifen?", war die am meisten gestellte Frage.
„Den Informationen von Botschafter Dannyl zufolge waren meine anfänglichen Schätzungen zu optimistisch. Marikas Verhandlungen sind weiter vorangeschritten, als im Herbst angenommen. Der Angriff wird spätestens zum Ende des Sommerhalbjahres erfolgen. Ich würde jedoch empfehlen, dass wir uns auf einen früheren Termin vorbereiten."
Ein Krieger erhob sich. „Wie groß ist Marikas Armee?"
„Das wissen wir nicht", antwortete der ehemalige Hohe Lord. „Wir sollten jedoch mit mehreren hundert schwarzen Magiern rechnen. Die Sachakaner fürchten die Gilde, weil sie ein falsches Bild von der Schlacht von Imardin haben und weil wir über die bessere Ausbildung verfügen. Marika muss sichergehen, dass seine Armee uns wirklich besiegen kann, da eine Niederlage für ihn auch politischer Natur wäre. Unsere Spionin wird uns genauere Zahlen nennen können, sobald sie Arvice erreicht."
„Wer ist diese Spionin? Ist sie eine Ichani?"
„Savara gehört zu einer Gruppe schwarzer Magierinnen, die sich 'Die Verräter' nennen. Sie arbeiten im Verborgenen und helfen den Menschen, die unter der Herrschaft der Ashaki leiden. Sie hat sich bereit erklärt, die Pläne des sachakanischen Königs auszuspionieren."
„Werden diese Verräter uns helfen?"
„Die Gilde wird nichts unversucht lassen, um das zu erreichen. Doch um falschen Hoffnungen vorzubeugen, sei erwähnt, dass die Verräter es vorziehen, neutral zu bleiben und die Ereignisse nur zu beobachten."
„Wer wird mit den Verrätern verhandeln? Botschafter Dannyl?"
„Botschafter Dannyl wäre die erste Wahl für diese Angelegenheit."
Als die Magier ihre Fragen an Akkarin gestellt hatten, erteilte der Administrator Rothen das Wort. Mit leisem Unbehagen stand Rothen auf.
Ein halbes Jahr,dachte er, während er die Stufen hinabstieg, dann wird Marika uns angreifen. Das ist viel zu wenig Zeit. Wir sind so gut wie unvorbereitet. Seine alchemistischen Waffen mussten noch getestet werden. Erst dann ließ sich sagen, ob sie wirklich etwas taugten und in großen Mengen hergestellt werden konnten. Und Akkarins Forschung mit den Speichersteinen, worauf die größten Hoffnungen der höheren Magier basierten, steckte noch immer in ihren Anfängen, da die wenige Literatur mehrere hundert Jahre alt war. Rothen war dankbar, dass Balkan das vor der Gilde nicht erwähnt hatte.
„Lord Rothen, wie ist die Wirkungsweise dieser Schildzerstörer?", fragte ein junger Alchemist, kaum dass er vor der Empore stand.
Schildzerstörer. Rothen wusste nicht, ob ihm diese von Balkan ins Leben gerufene Bezeichnung für seine Phiolen gefallen sollte. Angesichts der Eleganz, die ihre Wirkung bei den ersten Tests entfaltet hatte, war der Name zu gewaltvoll. Auch wenn der Name immer noch klangvoller und weniger umständlich war als der Arbeitstitel seines Projekts „Alchemistische Anwendungen zur Kriegsführung", war er damit nicht einverstanden.
„Mein Novize und ich haben während der Winterferien an vier verschiedenen Versuchsreihen gearbeitet, mit dem Ziel, eine alchemistische Waffe zu entwickeln, die einen magischen Schild möglichst effizient schwächt", beantwortete Rothen die Frage seines Kollegen. „Da sie für den Kampf gegen schwarze Magier konstruiert wurden, würde ich diese Art von Waffe eher als Schildsenker bezeichnen. Diese Waffe besteht aus kleinen Phiolen, die auf den Gegner geworfen werden. Ihre Wirkungsweisen sind sehr unterschiedlich: Die Substanz unserer ersten Versuchsreihe entfaltet bei Kontakt mit einem magischen Schild eine explosive Wirkung. Die Substanz aus Reihe zwei schwächt einen Schild durch die Einwirkung von Kälte, indem sie dem Schild Energie entzieht. Die Dritte stört den Schild durch Krafteinwirkung, die Vierte durch eine zwischen dem Schild und der umgebenden Luft stattfindenden Entladung.
„Während die Substanzen der ersten beiden Versuchsreihen durch Direktkontakt mit einem magischen Schild ihre Wirkung entfalten, bestehen die letzten beiden aus zwei Komponenten, welche erst miteinander reagieren dürfen, wenn sie mit dem Schild in Berührung kommen. Dazu füllen wir diese in Phiolen, die mit einer dünnen Trennwand versehen sind, die beim Aufprall auf den Schild zerbricht. Farand und ich haben erste Tests im Steinbruch durchgeführt. Die Tests am lebenden Objekt werden morgen Nachmittag stattfinden."
„Wie viel von diesen Phiolen plant Ihr herzustellen?"
„Damit alle Gildenmagier sich verteidigen können, werden wir mehrere hundert bis tausend Phiolen benötigen."
„Lord Rothen, was wenn Eure Schildsenker nicht ausreichen und Akkarin mit den Speichersteinen scheitert?"
Rothen zögerte und wandte sich hilfesuchend zu Osen. Dieser hob die Schultern und drehte sich zu Balkan um. „Ja, was tun wir dann?", hörte Rothen ihn leise fragen.
Merins grüne Augen funkelten gefährlich. Als er sprach, war seine Stimme härter, als Rothen es bei diesem Mann je erlebt hatte. „Dann werden wir weitere schwarze Magier ausbilden, die Bevölkerung als Quellen hinzuziehen und lassen Marikas Albträume wahr werden."
Nach mehreren quälenden Stunden des Wartens und der Ungewissheit knarrte die Leiter erneut. Dannyl richtete sich auf, bereit sich zu verteidigen, falls es nicht Jorika war. Seit der Junge ihn am Morgen verlassen hatte, um seinem Vater bei der Arbeit zu helfen, hatte Dannyl angespannt auf jedes Geräusch von unten gelauscht. Außer dem Schnauben der Pferde, Arbeitsgeräuschen und hin und wieder einem kurzen Wortwechsel hatte er jedoch nichts vernommen.
Zu Dannyls Erleichterung schien der Ashaki noch nicht von seinem Ausritt zurückgekehrt zu sein. Solange der Hausherr abwesend war, fühlte er sich einigermaßen in Sicherheit.
Nachdem er den Namen seines unfreiwilligen Gastgebers durch das Blutjuwel an Akkarin übermittelt hatte, hatte er sich die Zeit damit vertrieben, alternative Fluchtmöglichkeiten durchzuspielen. Diese reichten von sich nachts durch die Straßen zu schleichen und einen Eingang zur Kanalisation zu finden, durch den er ins Meer schwimmen konnte, bis dahin, Jorika um ein paar alte Kleidungsstücke seines Vaters zu bitten und sich als Sklave verkleidet irgendwie aus der Stadt heraus zu schmuggeln.
Als er Jorikas dunklen Schopf erblickte, atmete Dannyl erleichtert auf. Der Junge hob ein Stoffbündel über die Kante und legte es auf die Holzbohlen. Kaum, dass er die Leiter emporgeklommen war, warf er sich zu Boden.
„Meister Curran", flüsterte er. „Verzeiht, dass Ihr warten musstet."
„Schon gut", sagte Dannyl peinlich berührt. „Steh auf."
Jorika gehorchte.
Dannyl schüttelte den Kopf. Es war nicht richtig, dass dieser kleine, magere Junge sich ihm derart willig unterwarf. Jorika war noch ein Kind und es fiel Dannyl sehr viel schwerer, angemessen darauf zu reagieren, als hätte er sich einem Erwachsenen gegenüber gefunden.
„Jorika, setz dich", sagte er freundlich.
Der Junge gehorchte. „Vater hat mir so viel zu arbeiten gegeben", entschuldigte er sich. „Erst als alle Arbeit erledigt war, konnte ich in die Küche gehen und Euch etwas zu essen besorgen. Es sind leider nur Reste vom Abendmahl und eine halbe Flasche Wein. Meister Divako isst oft weniger als er ordert."
Dannyl lächelte. „Ich bin sicher, es ist sehr gut."
Jorika schnürte das Bündel auf und breitete kleine Schalen mit verschiedenen Speisen auf dem Boden zwischen ihnen aus. „Aber ich habe frisches Brot bekommen", fuhr er stolz fort. Er zog einen kleinen Brotlaib aus dem Bündel hervor und hielt ihn Dannyl hin, den Kopf gesenkt. „Nehmt es."
Zögernd nahm Dannyl den Brotlaib entgegen. Während er auf Jorikas Rückkehr gewartet hatte, war sein Hunger wieder vergangen, doch bei dem Geruch des frischgebackenen Brotes kehrte er mit aller Macht zurück. Hungrig biss er ein Stück davon ab.
Eine Weile kaute er mit geschlossenen Augen, den Geschmack genießend. Als er sie wieder öffnete, bemerkte er, dass der Sklavenjunge ihn neugierig ansah.
„Es ist wirklich gut", sagte Dannyl. „Veltaze."
Der Junge senkte den Kopf. Zu Dannyls Verwirrung hatten sich seine Wangen gerötet. Und dann verstand er. Jorika war es nicht gewohnt, dass sich jemand, den er als höhergestellt betrachtete, bei ihm bedankte. Obwohl es Dannyl Höflichkeit vorzog, erkannte er, dass er besser daran tat, gemäß Jorikas Erwartungen zu agieren. Seine Erfahrung als Diplomat hatte ihn gelehrt, dass er leichteren Zugang zu anderen Menschen hatte, wenn er sich ihrer Kultur anpasste.
Trotzdem gab es in Sachaka genug, das zu adaptieren ihm zutiefst widerstrebte.
Dannyl beobachtete, wie sein kleiner Freund eine Schale mit etwas auswählte, das nach Fleischbällchen aussah, und sie ihm hin hielt.
„Das hier solltet Ihr zuerst essen."
Dannyl wollte die Schale entgegennehmen, hielt jedoch inne. „Jorika, ich will nicht, dass du mich bedienst", erklärte er behutsam. „Ich will auch nicht, dass du dich mir zu Füßen wirfst oder mich Meister nennst. Ich bin kein Ashaki, du brauchst mich also nicht wie einen zu behandeln."
„Aber Ihr seid auch kein Sklave", wandte Jorika vorsichtig ein.
„Nein", sagte Dannyl. „Das bin ich nicht."
Jorika schien verwirrt. „Ihr seid gar kein Sachakaner, richtig?"
Dannyl schüttelte den Kopf.
„Was seid Ihr dann?"
„Ich komme von sehr weit her", antwortete Dannyl. „Dort, wo ich lebe, gibt es keine Sklaven und die Menschen ...", er runzelte die Stirn, während er nach dem richtigen Wort suchte, „... respektieren einander."
Jorikas Augen weiteten sich. „Ein Land ohne Sklaven … so etwas gibt es?"
Dannyl lächelte. „Ja."
„Aber …" Jorika hatte offenkundig Mühe, seine Verwunderung in Worte zu fassen. „Wie soll das gehen?"
„Wir bezahlen die Leute, die für uns arbeiteten. Mit Geld. Aber auch mit Essen und … Unterkunft. Und wir bestrafen sie nicht, wenn sie etwas falsch machen. Außer sie verstoßen gegen das … Gesetz."
„Ich möchte auch Geld bekommen", erklärte Jorika. „Und nicht bestraft werden. Ich habe gesehen, wie Meister Divako einmal meinen Vater verprügelt hat, weil eines der Pferde krank war und gestorben ist." Schaudernd schlang er seine dünnen Arme um den Körper. „Mein Vater konnte eine Woche lang nicht richtig arbeiten."
„Das hört sich sehr schlimm an", sagte Dannyl mitfühlend.
Jorika sah auf, ein hoffnungsvolles Leuchten in seinen braunen Augen. „Ihr seid sehr freundlich, Meister Curran. Könnt Ihr mich mitnehmen, wenn Ihr wieder in Eure Heimat geht?"
Dannyl betrachtete den Sklavenjungen. Er wusste, er würde niemals Kinder haben. Er hätte Jorika gern ein besseres Leben geboten, aber er wollte den Jungen nicht aus seinem Zuhause herausreißen, zumal dieser trotz allem nicht allzu unglücklich über sein Schicksal zu sein schien. Offenkundig machte es einen Unterschied, ob man einem reichen Ashaki gehörte oder einem verarmten oder – noch schlimmer – einem Ichani.
„Dein Vater würde nicht wollen, dass du fortgehst", sagte er.
„Er könnte mit uns kommen", schlug Jorika eifrig vor.
„Ich glaube, Ashaki Divako hätte etwas dagegen."
„Ihr könntet uns ihm abkaufen."
„Jorika, so einfach ist das nicht ...", begann Dannyl. Als er die Enttäuschung im Gesicht seines kleinen Freundes sah, verspürte er unwillkürlich Schuldgefühle. „Aber ich werde darüber nachdenken. Wenn ich ihn sehe, werde ich mit ihm darüber sprechen."
Es gefiel Dannyl nicht zu lügen und falsche Hoffnungen zu erwecken, aber er durfte Jorikas Unterstützung jetzt nicht verlieren, denn sein Überleben konnte davon abhängen. Das Vertrauen des Jungen auf diese Weise auszunutzen, war beinahe noch schlimmer, als ihm auf der Stelle zu sagen, dass er ihn und seinen Vater nicht freikaufen konnte. Aber so würde er vielleicht auf diesem Heuboden sicher sein, bis die versprochene Rettung kam.
„Wann wird das sein?", verlangte Jorika zu wissen.
„Mal sehen", antwortete Dannyl gedehnt, als habe er das noch nicht entschieden. „Vielleicht heute Abend."
„Alchemie kann also doch interessant sein." Regin hob anerkennend die Augenbrauen. Dann lehnte er sich zurück und schlug seine Beine übereinander. „Warum bringen sie uns solche Sachen nicht im Unterricht bei?"
Sonea schüttelte entnervt den Kopf. „Regin, was Rothen da macht, ist deine Idee."
Ihr Freund runzelte die Stirn. „Meine Idee?"
Sonea seufzte. Die zu Beginn noch spannende Gildenversammlung begann sich in die Länge zu ziehen. Während der letzten halben Stunde hatten sie mit steigender Langeweile eine Diskussion von Rothen, Lord Peakin und mehreren Alchemisten verfolgt, die sich für Rothens Projekt interessierten und bereit waren, ihn bei der Herstellung der Phiolen zu unterstützen, sollten sie sich als erfolgreich erweisen.
„Erinnerst du dich an den Tag, wo ich die Schatten glauben ließ, dass wir ein Paar sind?"
Er schnitt eine Grimasse. „Erinner' mich bitte nicht daran!"
Sonea kicherte, als die Details der Erinnerung zurückkehrten. Im Nachhinein fand sie diesen Vorfall eher erheiternd. Zumindest solange sie ausblendete, dass sie Regin dabei fast ihre Zunge in den Hals gesteckt hatte.
„Damals haben wir für Alchemie gelernt. Du sagtest, du würdest Alchemie viel interessanter finden, wenn sie sich in der Arena verwenden ließe." Sie erzählte ihm von dem Abendessen mit Rothen und seinem Novizen wenige Wochen später. „Als Farand sagte, er würde gerne Experimente machen, die nicht auf dem Lehrplan stehen, fiel mir das wieder ein. Ich habe es Rothen und ihm vorgeschlagen."
Regin starrte sie an.
„Dank dir werden unsere Chancen gegen die Sachakaner weitaus besser sein, wenn Rothens Versuchsreihe erfolgreich ist", fuhr Sonea fort. Mit einem ironischen Lächeln fügte sie hinzu: „Damit hast du endlich einmal etwas Sinnvolles getan. Nur bilde dir nicht zu viel darauf ein."
Sie hoffte, Rothens und Farands Schildsenker würden den Schild eines schwarzen Magiers tatsächlich so weit schwächen, dass auch normale Magier eine Chance gegen die Sachakaner hatten. Balkans Behauptung, sie und Akkarin hätten bald die ersten Speichersteine hergestellt, war eine maßlose Übertreibung. Sie und Akkarin waren weit davon entfernt, weil sie zu wenig Anhaltspunkte hatten, was genau ein Speicherstein war oder ob und wie man diese Steine überhaupt künstlich herstellen konnte.
Wahrscheinlich versucht Balkan damit die Gilde zu beruhigen, überlegte Sonea. Sowohl Novizen als auch Magiern stand die Panik ins Gesicht geschrieben. Für die Kriegsvorbereitungen würde es nicht von Vorteil sein, wenn sie kurz davor waren, durchzudrehen.
„Dann bestehe ich darauf, dabei zu sein, wenn ihr Rothens Versuche testet", sagte Regin.
Sonea lächelte. „Ich denke, das lässt sich einrichten."
„Ich kann noch gar nicht glauben, dass es wirklich Krieg gibt", sagte Trassia leise. „Nach dieser Sache mit dem sachakanischen Spion dachte ich, es wäre nur eine sehr unwahrscheinliche Möglichkeit, weil es den Sachakanern nicht gelingen würde, sich gegen uns zu vereinen."
„Damit bist du nicht alleine." Sonea betrachtete ihre Freundin mitfühlend. Auch sie hatte versucht, sich das einzureden. „Aber ich verspreche dir, wir werden den Sachakanern mit allen Mitteln trotzen."
Es war einfacher gewesen so zu tun, als wäre dieser Krieg nur eine mögliche Bedrohung, als die ganze Zeit in der Furcht davor zu leben. Trotzdem hatte Sonea all die Monate seit der Schlacht von Imardin insgeheim gewusst, dass es irgendwann passieren würde. Das Gefühl von Unwirklichkeit hielt sich dennoch hartnäckig. Marikas Kriegserklärung würde höchstwahrscheinlich das Ende der Gilde sein. Viele Kyralier würden sterben, die Überlebenden würden in Sklaverei enden. Und Sonea und Akkarin würden dieses Mal vielleicht nicht überleben.
Bei dem Gedanken wurde ihr Herz schwer. Wäre es nicht besser gewesen, wenn sie die Monate seit ihrer Wiederaufnahme damit verbracht hätte, öfter das zu tun, was ihr Spaß machte, als was sie glaubte, tun zu müssen? Das Ende würde in jedem Fall kommen, aber wenn es da war, wollte sie sich nicht vorwerfen müssen, ihre Zeit vergeudet zu haben.
Sei nicht albern, schalt sie sich dann. Du weißt genau, dass du alles in deiner Macht stehende tun musst, um die Sachakaner aufzuhalten. Du würdest nicht mit dem Gedanken sterben wollen, nicht alles versucht zu haben, um zu schützen, was dir lieb und teuer ist. Du würdest …
„Sonea, werden du und Akkarin jetzt weitere schwarze Magier ausbilden?", riss Regin sie aus ihren Gedanken.
„Natürlich nicht!" Verärgert schüttelte Sonea den Kopf. Warum fing er schon wieder damit an? „Wir werden die Sachakaner nicht um den Preis besiegen, anschließend gegen den Feind in unseren eigenen Reihen zu kämpfen."
„Aber es wären nur ein paar Magier, die ihr ausbilden müsstet. Damit könnten wir den Sachakanern bereits überlegen sein."
„Regin, das kommt nicht in Frage", sagte sie hart.
„Seid ihr so selbstgefällig zu glauben, die Gemüter anderer wären nicht edel genug, um diese Aufgabe verantwortungsvoll zu erledigen?", gab er zurück.
Sonea starrte ihn an. Das konnte er unmöglich ernst meinen. Sie ballte ihre Fäuste.
„Regin!", fuhr Trassia dazwischen. „Lass Sonea in Ruhe!"
„Danke", murmelte Sonea und funkelte Regin an.
Ihr Freund stieß einen übertriebenen Seufzer aus. „Würdest du mir bitte verzeihen, verehrteste Sonea?"
„Wenn du dir diesen Unsinn aus dem Kopf schlägst, dann ja", brummte sie.
„Ich möchte nur verstehen, warum ihr keine schwarzen Magier ausbilden wollt."
Sonea verdrehte die Augen. „Weil immer ein Risiko besteht, dass es nicht gutgeht", antwortete sie. „Selbst eine gründliche Wahrheitslesung kann nicht enthüllen, wie sich ein Kandidat in ein paar Jahren entwickeln wird."
Sie konnte nicht einmal sicher sein, ob sie auf Dauer von der von dieser Macht ausgehenden Versuchung gefeit war. Bei Akkarin war sie sich dessen sicher. Allerdings kannte sie auch niemanden, der seine Selbstbeherrschung derart perfektioniert hatte. Er war es gewohnt, sich selbst und seine Umgebung zu kontrollieren und sie erkannte, dass sie sich zum Teil darauf verließ.
„Die Sachakaner benutzen schwarze Magie seit Jahrhunderten", wandte Regin ein.
„Die Sachakaner sind Barbaren."
„Es hat doch ganz offenkundig etwas damit zu tun, ob jeder über diese Macht gebietet oder nur einige wenige", warf Trassia ein. „Wenn jeder Magier weiß, wie man schwarze Magie praktiziert, dann ist es nichts Besonderes mehr."
Sonea unterdrückte ein Stöhnen. „Fällst du mir jetzt auch in den Rücken?"
„Nein", sagte ihre Freundin. „Aber du solltest es mal von dieser Seite betrachten."
Sonea musste widerwillig zugeben, dass an Trassias Argument eine gewisse Wahrheit beinhaltete. Mehr schwarze Magier würde bedeuten, dass der Rest der Gilde besser geschützt war, wenn auch die Gesamtmenge ihrer Magie gleich bleiben wäre, weil es nicht mehr magische Quellen gab. Trotzdem gefiel ihr dieser Gedanke nicht. Würden die Vorteile, die es brachte, weitere schwarze Magier für den Krieg gegen die Sachakaner auszubilden, das Risiko, einer von ihnen könne größenwahnsinnig werden, aufwiegen? Vielleicht, wenn wir mit den Speichersteinen scheitern ...
„Wenn jeder diese Macht besitzt, dann wird es unter diesen auch mehr geben, die nicht damit umgehen können", sagte sie.
„Aber auch mehr, die sie aufhalten können", sagte Regin.
Sonea fand, es war Zeit diese Diskussion zu beenden. Ihre Freunde verstanden nicht, warum schwarze Magie so gefährlich war. Zu Beginn hatten sie schwarze Magie gefürchtet, doch da Sonea und Akkarin der Gilde Tag für Tag vorlebten, wie selbstverständlich sie damit umgingen, schien sich besonders unter den Novizen eine beunruhigende Sorglosigkeit einzuschleichen. Sie beschloss, Akkarin um Erlaubnis zu bitten, ihren Freunden die Chronik zu leihen, in der die verheerenden Folgen schwarzer Magie beschrieben waren. Vielleicht würden sie es dann verstehen.
„Ich frage mich, was Lord Larkin davon halten würde, wenn ich ihm anbiete, ihm bei der Unterweisung der Novizen aus dem ersten und zweiten Jahr zu assistieren", murmelte Trassia, nachdem sie eine Weile zugehört hatten, wie die höheren Magier Fragen beantworteten. Inzwischen war die Diskussion bei der Frage angelangt, welche Magier zurückbleiben sollten, um das Wissen der Gilde zu retten, sollten die Sachakaner den Krieg gewinnen. Denn inzwischen schien festzustehen, dass die Gilde die Sachakaner nicht bis Imardin kommen lassen wollte.
Sonea betrachtete ihre Freundin. In ihren Augen war wieder dieses schwärmerische Leuchten, doch da war auch noch mehr. Sie erkannte, es ging ihr nicht nur darum, die Aufmerksamkeit des jungen Architekturlehrers zu erlangen. Sie wollte helfen.
„Trassia, du hast hervorragende Noten in Architektur", sagte sie. „Ich bin sicher, er wird deine Hilfe begrüßen."
„Und wahrscheinlich würde er noch so einige andere Dinge begrüßen", murmelte Regin.
Sonea ignorierte ihn. „Trassia, es ist gut, dass du helfen willst. Die Gilde wird jetzt jeden brauchen, der in irgendeiner Weise breit ist, etwas freiwillig zu tun. Wenn es das ist, was du willst, dann frag ihn."
Ein Anflug von Röte huschte über Trassias Gesicht. „Bist du sicher?"
Sonea nickte.
Ihre Freundin strahlte. „Dann frage ich ihn gleich nach der Versammlung."
Erfreut wandte Sonea sich wieder der Diskussion der Magier zu.
„Wir können nicht die Ältesten und Schwächsten von uns zurücklassen, um das Erbe der Gilde zu retten", sagte ein Krieger gerade. „Dann können wir die Gilde auch gleich dem Untergang geweiht erklären."
„Sind wir das nicht sowieso?", gab ein anderer Magier zurück.
„Niemand hat behauptet, dass nur die betagten Magier zurückbleiben", sagte Osen beschwichtigend. „Einige wenige junge und starke Magier sollten ebenfalls zurückbleiben, um sie zu schützen und um die Novizen zu unterrichten."
„Wie soll uns das helfen?", fragte ein älterer Alchemist empört. „Wenn die Gilde den Krieg verliert, sollten die Überlebenden so schnell und so weit fliehen, wie sie nur können."
Die Antwort des Administrators bekam Sonea nicht mit. Sie war von einer leisen, aber hitzigen Diskussion abgelenkt, die Regin mit drei ihrer Klassenkameraden führte.
„Das werden sie niemals erlauben", hauchte Moren entsetzt.
„Dann lassen wir ihnen keine Wahl", sagte Hal und sein Freund Benon nickte entschlossen.
„Worauf du dich verlassen kannst", sagte Regin. „Wenn sie sich weigern, werde ich meinen Onkel bearbeiten. Er wird den strategischen Nutzen einsehen."
„Regin, was hast du vor?", zischte Sonea. Ihr schwante, er hatte gerade seine Freunde davon überzeugt, die Gilde brauche mehr schwarze Magier.
Regin wandte sich ihr zu und schenkte ihr sein charmantestes Lächeln, das Sonea jedoch unbeeindruckt ließ. „Oh, du wirst schon sehen."
Er stand auf und erhob seine Stimme. Soneas Blick fiel auf Trassia, die Regin so entsetzt anstarrte, wie Sonea sich in diesen Augenblick fühlte.
„Was ist mit den Novizen?" In seiner Stimme lag eine herausfordernde Selbstsicherheit als spräche er stellvertretend für alle Jahrgänge. „Es ist auch unsere Gilde und unser Land, das sich im Krieg befindet. Wie die Magier haben wir ein Recht darauf, zu kämpfen!"
Seine Worte sorgten für einen neuerlichen Aufruhr. Beinahe sämtliche Novizen erhoben sich von ihren Sitzen und begannen zu jubeln.
Sonea konnte nicht glauben, was da gerade geschah. Sie verdrehte die Augen. Die Novizen feierten Regin, als wäre er ihr gewählter Anführer. „Regin, was tust du da?", fuhr sie ihn an. „Die Hälfte von ihnen ist nicht einmal gut genug ausgebildet, um in einer Schlacht zu bestehen. Willst du den Nachwuchs der Gilde für deinen Größenwahn aufs Spiel setzen?"
Regin tat, als ignoriere er sie. „Die Gilde hat bei der Schlacht von Imardin herbe Verluste erlitten, von denen sie sich bis heute nicht erholt hat", fuhr er laut fort. „Zusammen mit den Novizen werden unsere Chancen in einem Kampf sehr viel besser sein."
Sonea schnappte empört nach Luft und versuchte, ihren Freund zurück auf seinen Platz zu ziehen.
„Sonea, lass ihn", fuhr Hal dazwischen. „Du tust ihm Unrecht. Viele von uns wollen kämpfen. Niemand kann uns verbieten, für unsere Ideale einzustehen."
Du meinst wohl, du willst kämpfen, dachte Sonea. Sie konnte die Absicht ihres Klassenkameraden nur erahnen. Wahrscheinlich erhoffte er sich, durch heldenhafte Taten in einem Krieg eine bedeutende Position in der Gesellschaft seines Volkes zu erlangen. Als sie jedoch in die Gesichter der anderen Novizen sah, bemerkte sie bei nicht wenigen einen nie dagewesenen Eifer.
Hal erhob sich ebenfalls und verkündete. „Und wir haben ein Recht darauf, unsere Klassenkameraden, Lehrer und Verwandten zu rächen, die wir im letzten Sommer verloren haben!"
Die Novizen schienen nun nicht mehr zu bremsen in ihrer Begeisterung. Administrator Osen hatte große Mühe, wieder Ruhe in die Gildehalle zu bringen. Sonea beobachtete, wie Rektor Jerrik ihm etwas zuflüsterte.
Der Administrator schlug mehrmals auf seinen kleinen Gong. „Wenn unter den Novizen nicht ab sofort Ruhe herrscht, werden sie von dieser Versammlung ausgeschlossen!", rief er.
Augenblicklich kehrte Ruhe wieder Ruhe in der Gildehalle ein.
„Wir sollten diese Möglichkeit in Erwägung ziehen", sagte Lord Garrel in die Stille. „Die Novizen des vierten und fünften Jahres besitzen bereits sehr umfangreiche Kenntnisse in Kriegskunst. Wenn wir sie bis zum Sommer gezielt unterrichten, könnten sie bis dahin nahezu auf den Stand frisch ausgebildeter Krieger gebracht werden."
Bei seinen letzten Worten begannen die Magier erneut durcheinander zu reden. Überhaupt ernsthaft in Erwägung zu ziehen, Novizen an einer Schlacht gegen die Sachakaner teilnehmen zu lassen, zeigte wie verzweifelt die Lage war. Sonea musste sich widerwillig eingestehen, dass Regin ein Argument hatte. Es würde Jahre dauern, bis sich die Gilde von den Verlusten der Schlacht von Imardin erholt hatte. Je mehr Gildenmitglieder in den Krieg zogen, desto größer waren ihre Chancen, wenn auch Sonea befürchtete, dass sie so oder so verlieren würden.
„So eine Verantwortungslosigkeit!", rief ein noch junger Magier in grünen Roben.
„Würden alle Magier an der Schlacht teilnehmen, bräuchten wir die Novizen gar nicht in Gefahr zu bringen!"
„Ruhe!", wiederholte Osen scharf. „Wir können die Novizen nicht beschützt von einer Handvoll Magier zurücklassen. Sie wären eine leichte Beute für die Sachakaner, sollte es ihnen gelingen, an uns vorbei nach Imardin zu gelangen." Er wandte sich zu Jerrik. „Was ist Eure Meinung zur Teilnahme der Novizen an diesem Krieg, Rektor?"
Jerrik schürzte die Lippen. Es war ihm anzusehen, dass ihm die Vorstellung, halb ausgebildete Novizen in einen Krieg zu schicken, nicht behagte. „Die Novizen ab dem dritten Jahr sollten in der Lage sein, in so kurzer Zeit die wichtigsten Aspekte der Kriegskunst zu lernen", antwortete er. „Besonders jene, die Kriegskunst als Disziplin gewählt haben. Man könnte die Sommerprüfungen um einige Wochen vorziehen und an den nötigen Stoff anpassen. Die dabei erzielten Resultate würden entscheiden, welcher Novize sich an den von Lord Garrel geplanten Kampfgruppen beteiligen darf. Die Abschlussklasse würde als fertig ausgebildete Magier antreten. Es gibt keine Regel, die den Novizen verbietet, für den Fortbestand der Gilde zu kämpfen."
Der Administrator wandte sich zu dem Mann auf dem Platz über ihm. „Hoher Lord, würdet Ihr eine Teilnahme der Novizen ab dem dritten Jahr an dem Krieg befürworten?"
Balkan nickte. „Je mehr von uns kämpfen, desto besser sind unsere Chancen, doch wir sollten die Gilde entscheiden lassen."
Die Oberhäupter der drei Disziplinen nickten bestätigend. Selbst Lady Vinara.
„Dann stimmen wir ab", entschied Osen. Er erhob seine Stimme. „Wer dafür ist, dass die Novizen ab dem dritten Jahr an einem Krieg gegen die Sachakaner aktiv beteiligt sind, sofern ihre Sommerprüfungen dies erlauben, lasse seine Lichtkugel rot aufleuchten!", rief er. „Ich möchte jedoch hinzufügen: Novizen sind nicht stimmberechtigt!"
Einige Novizen protestierten lautstark. Angespannt beobachtete Sonea, wie mehr als einhundert Lichtkugeln zur Decke emporschwebten. Nach und nach begannen sie sich zu färben. Die Anzahl der roten und weißen Lichtkugeln war jedoch nahezu gleich.
„Die Entscheidung geht knapp zugunsten einer Beteiligung der Novizen aus", verkündete Osen. „Da das nun entschieden wurde, bitte ich die Studienleiter zusammen mit Rektor Jerrik, Lehrpläne für die uns verbleibende Zeit auszuarbeiten. Sie sind mir bis zum Wochenende vorzulegen."
Der Jagdschrei eines Vallook hallte zwischen den Bergen wider. Savara fokussierte ihre Sinne, um die Richtung zu bestimmen. Erleichtert stellte sie fest, dass ihr Ziel auf dem nächsten Bergkamm lag. Die ganze Nacht und die Hälfte des folgenden Tages hatte sie die Gegend nach Nachiri abgesucht, während der törichte Gildenmagier in Arvice weiterhin in Gefahr schwebte. Sie hoffte, ihre Suche habe nicht allzu lange gedauert. Weder wollte sie Akkarins Zorn auf sich ziehen, noch indirekt verantwortlich für den Tod eines Gildenmagiers sein.
Sie begann zu rennen. Während ihrer Ausbildung zur Söldnerin war sie darauf trainiert worden, sich schnell und ausdauernd zu bewegen. Sie hätte tagelang durch die Berge laufen können, unterbrochen nur von einigen wenigen Stunden Schlaf. Die geschätzten zwei Meilen bis zu der Stelle, wo sie das Zeichen gehört hatte, erschienen daher wie ein kurzer Sprint.
Ihre Füßen sanken auf der dünnen Schneedecke ein, doch sie spürte die damit verbundene größere Anstrengung kaum. Leichtfüßig sprang sie über ein paar flache Felsen, durchquerte das enge Tal und rannte den Berghang auf der anderen Seite hinauf, wobei ihre Atmung nur unbedeutend schneller ging. Im Laufen imitierte sie den Vallook erneut. Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Dieses Mal erklang sie sehr viel näher.
Etwa eine Viertelmeile später machte sie eine Bewegung zwischen den Felsen über ihr aus. Sie bereitete sich darauf vor, einen Schild zu errichten, sollte es wider Erwarten ein Ichani sein.
„Wer bist du?", rief eine scharfe Frauenstimme. „Gib dich zu erkennen!"
Savara atmete innerlich auf, als sie die Stimme erkannte, und nannte ihren Namen.
„Savara?" Ihre Schwester klang ungläubig. Mit den geschmeidigen, aber wachsamen Bewegungen eines P'anaal, jederzeit zum todbringenden Sprung bereit, kam sie näher. „Wer bist du wirklich?"
In einer friedlichen Geste breitete Savara ihre Hände aus. „Nachiri, meine Liebe", sagte sie. „Mein Tod war nur vorgetäuscht. Ich werde dir alles erklären. Aber du musst mir versprachen, es für dich zu behalten."
Den Atem anhaltend betrachtete sie Nachiri mit Spannung.
Für einen kurzen Augenblick schien ihre Schwester wie erstarrt. Dann rannte sie das letzte Stück Berghang hinab.
„Oh Savara, du bist es wirklich!", rief sie und umarmte Savara. „Ich war so untröstlich, als die Große Mutter mir mitteilte, du seist von diesem schrecklichen Gildenmagier getötet worden!"
Sie küsste Savara innig auf beide Wangen. Ein warmes Gefühl breitete sich in Savara aus. Als Krippenschwestern hatten sie einander sehr nahe gestanden. Lange Zeit waren sie enge Freundinnen gewesen. Als die zwei Jahre ältere, hatte Savara später einen Teil von Nachiris Ausbildung übernommen und sie zu der professionellen Jägerin und Beobachterin gemacht, die sie heute war.
„Dazu war er zu feige." Savara zuckte die Achseln. „Wie alle Kyralier ist sein Charakter schwach."
Tatsächlich war die Demütigung, die sie dadurch erfahren hatte, dass Akkarin sie verschont hatte, sehr viel schmerzlicher, als sie vor Nachiri eingestehen wollte. Seit ihrem Aufbruch aus Imardin hatte sich versucht, möglichst nicht an die Nacht, in der sie Ashaki Ikaro befreit hatte, zu denken. Doch seit der vergangenen Nacht fiel ihr das schwer. Jetzt, wo sie ihrer Krippenschwester gegenüberstand, drohten die Erinnerungen sie zu überwältigen.
Was sie sich auch an Gegenargumenten zurechtlegte, indem sie Akkarins Befehle ausführte, fühlte Savara sich weniger als Söldnerin denn als Sklavin. Obwohl der ehemalige Anführer der Gildenmagier weit fort war, konnte sie selbst hier seine Macht über sie spüren. Das Blutjuwel, dessen sie sich nicht entledigen konnte, war eine ständige und demütigende Erinnerung daran. In ihrer ganzen Zeit als Söldnerin hatte Savara nie ein Blutjuwel am Leib tragen müssen. Sie hatte Blutjuwelen ihrer Anführerin und manchmal ihrer Auftraggeber bei sich getragen, manchmal als Anhänger, manchmal sicher in einer ihrer Taschen verstaut. Sie hatte jedoch immer die Kontrolle darüber gehabt, den Kontakt herzustellen, wann sie das wollte. Indem Akkarin ihr sein Blutjuwel implantiert hatte, hatte er ihr die Freiheit genommen.
Es wäre besser, hätte er mich getötet …
„Ich dachte, ich würde dich nie wiedersehen."
Savara sah auf und lächelte humorlos. „Glaub mir, ich dachte selbst, ich müsste sterben."
Akkarin hatte sie gefoltert und ihre Gedanken gelesen und dabei alles über sie erfahren. Er hatte sie sogar dazu gebracht, um ihr Leben zu betteln. Der Zorn brannte heiß und ungezähmt in Savara. Sie hoffte, Akkarin würde eines Tages dafür bezahlen.
„Die Große Mutter hat gesagt, du hättest schreckliche Dinge getan, wegen denen du zu einer Ausgestoßenen geworden wärst, hätte der Gildenmagier dich verschont", sagte Nachiri. „Ist das wahr?"
Savara zuckte zusammen. Eine Ichani also. Tatsächlich hatte sie jedoch nichts anderes von Savedra erwartet, nachdem Akkarin ihre Taten offengelegt hatte. Es war so typisch für sie.
„Das ist jetzt nicht mehr wichtig", erwiderte sie sanft. Sie schob Nachiri auf Armeslänge von sich. „Gut siehst du aus."
Nachiris Wangen röteten sich. „Du auch."
Savaras Lächeln vertiefte sich, dann wurde sie ernst. „Nachiri, ich habe nicht viel Zeit. Du musst mir einen Gefallen tun. Stell nicht so viele Fragen und tu einfach, was ich dir sage."
Ihre Schwester blinzelte verwirrt. „Du weißt, ich würde alles für dich tun", sagte sie. „Du kannst dich auf mich verlassen."
Deswegen habe ich dich aufgesucht.
Selbst jetzt, wo sie erwachsen waren, hatte Nachiris Bewunderung nicht nachgelassen. Savara war überzeugt, daran würde sich auch dann nichts ändern, wenn Nachiri die Wahrheit über sie erfuhr.
Sie würde gut zu Sonea passen, überlegte sie. Sie sind beide folgsame, kleine Yeel.
Rasch erklärte sie Nachiri, was sie von Akkarin über den Gildenmagier in Arvice in Erfahrung gebracht hatte und warum es wichtig war, ihn sofort zu retten. Bei ihren Worten weiteten sich Nachiris Augen zusehends.
„Ich werde unsere Mutter kontaktieren, damit sie eine unserer Schwestern in Arvice damit beauftragt", erklärte sie, nachdem Savara geendet hatte. „Unsere Mutter wird sicher Fragen stellen, aber ich werde behaupten, die Magier von dem neuen Fort hätten mich aufgesucht. Ich werde ihr sagen, die Gildenmagier hätten gewusst, wie sie mich kontaktieren können, weil der Magier, der dich getötet hat, es aus deinen Gedanken erfahren hätte." Sie tippte auf das grüne Juwel, das sie als Schmuck an ihrem Ohr trug. „Weder sie noch sonst wer wird erfahren, dass du noch am Leben bist", fügte sie lächelnd hinzu. „Aber wenn wir uns wiedersehen, bist du mir eine Erklärung schuldig."
Savara lächelte. Das war einfacher, als sie befürchtet hatte. „Du hast mein Wort, dass ich dir alles erzählen werde." Sie drückte einen Kuss auf Nachiris Stirn. „Wenn ich diesen Auftrag erledigt habe, werde ich wiederkommen, kleine Schwester."
Rothen konnte es nicht fassen. Garrel und sein Neffe sorgten gerade dafür, dass die Novizen in diesen Krieg hineingezogen wurden. Dank Regins aufrührerischer Rede brannten die anfangs verängstigten Novizen inzwischen darauf, gegen die Sachakaner anzutreten. Dachten sie, die Übungskämpfe in der Arena qualifizierten sie für den Kampf gegen eine Armee schwarzer Magier?
„Wir sind dem Untergang geweiht", murmelte er.
Neben ihm erklang ein leises, tiefes Lachen. „Euer Pessimismus überrascht mich."
Unwillig wandte Rothen den Kopf zu seinem Sitznachbarn. „Ihr befürwortet diese Idee doch nicht etwa?", entfuhr es ihm. „Das ist doch Wahnsinn!"
Akkarin machte eine Handbewegung zu den Novizen. „Ihre Entschlossenheit zu kämpfen macht sie zu für die Sachakaner nicht zu ignorierenden Gegnern. Es liegt an ihren Lehrern, ihnen in den nächsten Wochen und Monaten den nötigen Feinschliff zu verleihen, damit sie in einem Krieg keine törichten Heldentaten begehen."
Rothen schüttelte den Kopf. Bin ich der Einzige, dem das Wohl unsrer Novizen am Herzen liegt? Oder darf ich so nicht denken, wenn es um die Existenz der Gilde geht? Wenn er Moral und Gefühle beiseiteließ, konnte er den strategischen Vorteil nicht von der Hand weisen. Doch die meisten Novizen waren noch halbe Kinder. Verglichen mit Sonea, die bereits sehr erwachsen war, waren sie verwöhnte und verzogene Sprösslinge der Häuser.
Er ließ seinen Blick durch die überfüllte Gildehalle schweifen. Zurzeit lebten etwa einhundert Magier in der Gilde oder in Imardin. Weitere einhundertfünfzig waren über die Verbündeten Länder verstreut. In der vergangenen Nacht hatte Administrator Osen Kuriere zu den Botschaften der Gilde in Capia, Jebem, Tol-Gan und Kiko Town geschickt, um alle Magier nach Imardin zu zurückbeordern. Es war jedoch nicht sicher, ob die Verstärkung rechtzeitig eintreffen würde, da auf dem Ozean zwischen Lan, Vin und dem Festland um diese Jahreszeit heftige Winterstürme tobten.
Mit allen Magiern zusammen würden sie zahlenmäßig vielleicht den Sachakanern gleichkommen. Mit den Novizen aus dem vierten und fünften Jahr und den talentierteren aus dem dritten Jahr, hatten sie vierzig bis fünfzig weitere Kämpfer. Aber das wog nicht gegen die Kapazitäten schwarzer Magier auf.
Plötzlich setzte sein Herz einen Schlag aus. „Es ist ihre Magie, die Ihr wollt", hauchte er.
Der schwarze Magier hob die Augenbrauen als sei er milde überrascht. „Selbstverständlich, Lord Rothen. Die Magie, die die Novizen pro Tag, den wir der sachakanischen Armee entgegenziehen, spenden, kommt der Stärke eines Sachakaner gleich."
Rothen starrte ihn an. Warum überrascht mich dieser Mangel an Menschlichkeit nicht?, dachte er.
„Lord Rothen, das ist ein ungünstiger Zeitpunkt für Sentimentalitäten", sagte Akkarin überraschend sanft. „Wir befinden uns im Krieg. Schwäche zu zeigen kann fatal sein. Ob im Kampf oder in der Planung spielt keine Rolle."
Rothen zog es vor, nichts darauf zu erwidern. Es fiel ihm schwer, sein Entsetzen zu verbergen. Inzwischen schienen sogar Lady Vinara und Administrator Osen, auf deren Menschlichkeit und Einfühlungsvermögen sonst immer Verlass war, von der allgemeinen Stimmung erfasst zu sein.
„Ich spreche mich dafür aus, dass die Novizen, die aktiv an den Kampfhandlungen teilnehmen werden, bis zu den vorgezogenen Prüfungen von je einem Magier oder einer Magierin als Schützlinge ausgewählt werden", sprach Vinara. „Das sollte eigenmächtige Handlungen unterbinden."
„Eine gute Idee", pflichtete ihr der Rektor bei. Rothen vermutete, Jerrik erhoffte sich dadurch, dass ihm die älteren Novizen weniger Ärger bereiten würden. „Jeder Magier, der einen Novizen erwählen will, darf das von heute an bis zu den Prüfungen tun."
„Anträge für das Mentorenamt bitte direkt an Rektor Jerrik", verkündete Osen. „Ich werde in den nächsten Wochen nur in Ausnahmefällen zur Verfügung stehen."
„Was ist mit den Novizen, die bis dahin keinen Mentor erhalten haben und die dennoch kämpfen wollen?", fragte Garrel.
Balkan seufzte. „Da wir ihnen das nicht verbieten können, müssen die Magier der Gruppen, denen sie zugeteilt werden, dafür sorgen, dass sie keine Dummheiten anstellen."
„Ich empfehle zudem, die Änderung der Lehrpläne flexibel zu gestalten", sagte Akkarin. „Wir wissen nur, dass Marika spätestens im Sommer angreifen wird. Es wäre töricht auszuschließen, dass er es bereits früher tut."
Jerrik runzelte die Stirn. „Dann sollte der Lehrstoff für dieses Halbjahr nach Priorität ausgewählt werden."
Während der restlichen Versammlung wurde über weniger bedeutende Aspekte der Kriegsplanung diskutiert. Einige Krieger starteten eine Diskussion darüber, wie die Magier gruppiert werden sollten. Garrel begann sofort, verschiedene Feldzüge zu erläutern, die sich in früheren Schlachten bewährt hatten, bis Osen entnervt das Wort an Akkarin übergab.
„Die Größe der Gruppen wird davon abhängen, als wie stark sich Lord Rothens Schildsenker erweisen, wie viel Magie sich in den Speichersteinen speichern lässt und wie viele bis dahin existieren", erklärte Akkarin. „Alle Spekulationen sind bis dahin reine Zeitverschwendung."
Seine Antwort schien die Krieger nicht zufriedenzustellen, dennoch wagten sie es nicht, seine Worte in Frage zu stellen.
Als keine weiteren Fragen mehr kamen, schlug der Administrator auf seinen Gong und erklärte die Versammlung für beendet. Roben raschelten und Stiefeltritte erklangen, als Magier und Novizen sich von ihren Sitzplätzen erhoben und aus der Halle strömten. Auch König Merin und seine beiden Ratgeber verließen die Versammlung. Zu Rothens Überraschung wirkten viele Magier zuversichtlicher als noch zu Beginn ihres Treffens. Es schien, als habe die Diskussion die Furcht vor den Sachakanern ein wenig gelindert.
Rothen seufzte. Inzwischen war es Nachmittag. Die Versammlung hatte ihn erschöpft und er hatte noch einige Vorbereitungen für das Austesten seiner Phiolen am nächsten Tag zu treffen. Doch dazu würde er wohl erst am späten Abend kommen, denn als Nächstes würde er mit den anderen Studienleitern und Jerrik neue Lehrpläne ausarbeiten.
„Wir treffen uns in einer halben Stunde in meinem Büro", sagte Jerrik.
„Ich denke, eine kleine Pause wird uns allen guttun", stimmte Lord Vorel zu.
Akkarin erhob sich und schritt durch die Gildehalle zu einer Gruppe von Novizen, die zurückgeblieben war. Die Magier, an denen er vorbei kam, wichen respektvoll vor ihm zurück. Als Rothen Sonea unter den Novizen entdeckte, beeilte sich, zu dem schwarzen Magier aufzuschließen, denn er brannte darauf zu erfahren, was Sonea von dem Verlauf dieser Versammlung hielt.
„ … könnte spät werden", sagte Akkarin gerade zu ihr, als Rothen die Novizen erreichte. „Warte also nicht mit dem Abendessen auf mich."
„Ich solange wie möglich warten", erwiderte sie stur.
Akkarin legte eine Hand auf ihre Wange und starrte in ihre Augen. „Ich erwarte, dass du morgen ausgeruht bist", sagte er streng.
„Ich werde es versuchen, Mylord. Aber ich weiß nicht, ob ich nach diesem Tag Schlaf finden werde"."
Rothen kam nicht umhin, über ihren Dickkopf zu lächeln.
Soneas Augen huschten zu Rothen und ihre Miene hellte sich auf. „Hallo, Rothen."
„Hallo, Sonea. Nun, wie fandest du die Gildenversammlung?"
„Es war …" Sie machte das Gesicht, das sie immer dann machte, wenn sie sich im letzten Moment den Hüttenslang verkniff. „Nun, es war interessant. Aber ich denke, wir tun das Richtige."
Sie also auch, dachte er und versuchte,seine Enttäuschung zu verbergen. Dann erkannte er jedoch, dass ihre Vernunft bei der Streitfrage, ob die Gilde den Novizen erlauben sollte, an der Schlacht teilzunehmen, schon längst gesiegt haben musste.
Eilige Schritte erklangen und Soneas Freundin trat zu ihnen. Ihre Wangen waren gerötet. „Er hat ja gesagt!", sagte sie aufgeregt. Dann fiel ihr Blick auf Rothen und Akkarin und sie verneigte sich hastig.
„Ich habe dir doch gesagt, dass er das wird", erwiderte Sonea lächelnd.
Regin warf einen vielsagenden Blick zu den drei männlichen Novizen der kleinen Gruppe.
„Wir gehen nun in die Novizenbibliothek", erklärte der größte der drei Novizen, ein hochgewachsener Junge aus Lan. „Damit wir bei den Prüfungen gut genug abschneiden, dass uns die höheren Magier an der Schlacht teilnehmen lassen."
Sie verneigten sich vor Rothen und Akkarin und verließen die Gildehalle.
„Und wie werdet ihr den Rest des Tages verbringen?", fragte Rothen.
Sonea lächelte süffisant. „Ich werde Regin von seinem Größenwahnsinn heilen."
Garrels Neffe machte ein finsteres Gesicht.
„Du wirst dich doch hoffentlich nicht mit ihm duellieren?", fragte Rothen. Es würde kein gutes Licht auf Akkarin und seine Novizin werfen, wenn sie gegen andere Novizen kämpfte, während er in einer Sitzung war.
„Seid unbesorgt, Rothen", sagte Sonea lachend.
„Sonea wird das auch ohne Gewaltanwendung gelingen", versicherte Akkarin. Seine Hand strich kurz über Sonea Wange, woraufhin ein hinterhältiges Funkeln in ihren Augen aufblitzte.
Rothen schüttelte den Kopf. Er hoffte jedoch dass das, was Sonea plante, Garrels Neffen einen Dämpfer verpassen würde.
Er verabschiedete sich und beeilte sich, sein Quartier zu erreichen, bevor die Pause vorüber war. Sein Magen knurrte bedenklich und er wusste nicht, ob er an diesem Tag noch eine Gelegenheit finden würde, etwas zu essen.
Sonea unterdrückte ein Gähnen, als Regin einen seiner Krieger auf ein Feld setzte, wo sie ihn leicht schlagen konnte. Sie hatte seine Strategie bereits nach wenigen Zügen durchschaut. Offenkundig versuchte er, zuerst ihre Heiler zu vernichten, um die Moral ihrer Spielfiguren zu brechen und sich dabei mit Hilfe seiner Alchemisten an ihren Kriegern vorbeizuschleichen.
Mit dieser Strategie würde er jedoch keinen Erfolg haben. Sonea befand sich im Besitz einer Spion- und zweier Rhetorik-Karten. Mit diesen konnte sie Regins Krieger umdrehen, sollten sie sich zu nah an ihre Heiler wagen. Zudem arbeitete sie an einem Plan, um seinen König zu meucheln. Doch zuerst musste sie herausfinden, ob er nicht noch einen zweiten, weniger offensichtlichen Plan hatte, den er anwenden würde, sobald sie einen Fehler machte und ihr Vorhaben zu erkennen gab. Der größte Risikofaktor war die noch nicht aufgetauchte Überläufer-Karte. Wenn Regin sie hatte, dann wartete er vielleicht nur auf die passende Gelegenheit, sie auszuspielen.
Nachdem sie sich am Vortag von Regin zu einer Partie Kyrima hatte herausfordern lassen, hatte sie sich gefragt, ob das eine so gute Idee gewesen war. Sie hatte nicht ohne Grund fast jede bisherige Partie gegen Akkarin verloren.
„Ich werde verlieren und Regin wird dafür sorgen, dass die ganze Universität über mich lacht", hatte sie Akkarin am vergangenen Abend prophezeit.
„Das bezweifle ich", hatte Akkarin erwidert. „In der Familie Winar gibt es nur einen Krieger. Regin wird es von ihm gelernt haben. Meines Erachtens ist Garrel kein besonders ernstzunehmender Gegner."
„Hast du einmal gegen ihn gespielt?"
„Er besaß die Kühnheit, mich vor einigen Jahren herauszufordern", hatte er daraufhin nur geantwortet.
„Regin ist sehr viel intelligenter als Garrel", hatte Sonea eingewandt.
„Ebenso wie du", hatte er entgegnet. „Ich rechne damit, dass du Regin schlägst."
Akkarin hatte richtig gelegen. Regin war nicht dumm, doch er schien nicht über die nächsten drei Spielzüge hinauszudenken. Bevor sie diese Partie begonnen hatten, hatte er noch damit geprahlt, Kano und Alend geschlagen zu haben. Besser, sie dachte gar nicht erst darüber nach, wie diese spielten.
Sonea warf einen Blick zu Trassia. Ihre Freundin saß zwischen ihnen in einem Sessel, das Kinn auf ihre Hände gestützt. Sonea fragte sich, ob Trassia sich nach drei quälenden Stunden Kyrima ebenso langweilte wie sie selbst. Eine bessere Zerstreuung war ihnen jedoch nicht in den Sinn gekommen. Keiner von ihnen konnte sich aufs Lernen konzentrieren. Und solange Akkarin mit den anderen Studienleitern und dem mürrischen Rektor die neuen Lehrpläne diskutierte, brauchte sie irgendetwas um sich abzulenken.
Während sie ihren Spielzug machte, überlegte Sonea, ob es nicht besser wäre, diese Partie rasch zu beenden, auch wenn sie dafür eine Niederlage einstecken musste. Sie war die Konstellation der Spielfiguren inzwischen leid. Außerdem würde sie durch das absichtliche Begehen eines groben Fehlers vielleicht herausfinden, wie gerissen Regin wirklich war.
Sich zurücklehnend beobachtete sie ihren Freund. Regin runzelte die Stirn und zog eine Karte. Er überlegte nicht lange und griff einen der Krieger an, die Soneas Alchemisten beschützten. Dann nahmen sie ihre Würfel zur Hand, um den Ausgang des Zweikampfes zu bestimmen. Soneas Krieger hatte die geringere Punktzahl und galt somit als besiegt. Vorgebend, die Nerven zu verlieren zog Sonea zwei von den drei Kriegern, die ihre Heiler beschützten ab, um die entstandene Lücke zu füllen. Sie hoffte, Regin wäre nicht so blind, seine Chance zu übersehen.
Es klopfte.
„Herein!", rief sie zerstreut und streckte ihren Willen nach der Tür aus.
Akkarin trat ein. Trassia und Regin sprangen sofort auf, um sich zu verneigen. Nur mit Mühe konnte Sonea sich davon abhalten, es ihnen nachzutun.
„Bleibt sitzen", sagte Akkarin knapp.
Obwohl er so kühl und distanziert wie immer wirkte, machte Soneas Herz einen Sprung. „Ist die Besprechung schon zu Ende?", fragte sie.
Akkarin schüttelte den Kopf. „Wir werden morgen früh fortfahren." Seine dunklen Augen blitzten zu Regin. „Dein Onkel wird solange Lord Vorels Unterricht übernehmen."
Regins Miene hellte sich bei diesen Worten etwa so sehr auf, wie sich Soneas Stimmung verdüsterte. Zwei Tage waren nicht viel Zeit, um die Lehrpläne von sechs Klassen umzustrukturieren, doch angesichts der gegenwärtigen Krise war es keine gute Idee, weiteren Unterricht ausfallen zu lassen.
„Sonea, ich suche das Buch aus Elyne", sagte Akkarin. „Hast du es noch hier?"
„Dort auf dem Stapel." Sie wies zu einem Bücherstapel an einer Ecke ihres Schreibtisches, während sie ihren Spielzug beendete. „Aber ich habe es noch nicht ausgelesen."
Dachte er, er müsse das Buch vor ihren Freunden in Sicherheit bringen? Sonea unterdrückte ein Schnauben. Sie hätte selbst zu verhindern gewusst, dass sie einen Blick hineinwarfen. Nach einer Führung durch die Arran-Residenz hatten Trassia und Regin dem Chaos von Büchern und Notizen auf ihrem Schreibtisch jedoch keine Beachtung geschenkt.
Akkarin zog das Buch zwischen den anderen hervor und klemmte es sich unter den Arm. Er trat hinter sie.
„Ich muss etwas darin nachschlagen", erklärte er ihr leise. „Es könnte eine Theorie stützen, die mir heute gekommen ist."
Seine Hand fuhr unter ihre Haare. Sonea erschauerte, als seine kühlen Finger über ihren Nacken strichen. Warum musste er das ausgerechnet jetzt tun? Er wusste doch ganz genau, wie sie darauf reagierte!
Sie warf einen nervösen Blick zu Regin und Trassia. Zu ihrer Erleichterung waren ihre beiden Freunde zu sehr mit dem Spiel beschäftigt, um es zu bemerken.
- Dir ist hoffentlich bewusst, dass Regin dich durch deinen letzten Spielzug in den nächsten zwei Züge besiegen kann?, sandte er.
- Ja. Aber mein Mitleid zwingt mich dazu, ihn wenigstens einmal gewinnen zu lassen, bevor ich ihn in der nächsten Partie vernichtend schlage.
Sie konnte seine Erheiterung nahezu spüren.
- Mir war gar nicht bewusst, dass du so berechnend sein kannst.
- Wirklich?, gab sie zurück. Seltsam, dass dich das wundert. Und jetzt geh, bevor er noch denkt, du würdest mir helfen.
Akkarin ließ von ihr ab. „Ich bringe dir das Buch später zurück", sagte er. „Trassia, Regin ihr seid zum Abendessen eingeladen. Vorausgesetzt, es macht euch nichts aus, später zu speisen."
Soneas Freunde tauschten einen verunsicherten Blick.
„Also wenn das keine Umstände macht ...", begann Trassia und blickte hilfesuchend zu Sonea.
„Ich würde mich freuen, wenn ihr bleibt." Sonea lächelte. Sie hoffte, ihre Freunde würden sich bei einem Essen in Akkarins Gegenwart nicht allzu unbehaglich fühlen. Akkarin war kein Mann, dessen Einladung man ausschlug, aber ihre Freunde würden sich an gemeinsame Abendessen gewöhnen müssen. Wenn sie und Akkarin verheiratet waren, würden formale Dinner zu einer Regelmäßigkeit werden. „Unser Diener kocht wirklich hervorragend", versuchte sie ihre Freunde zu überzeugen. „Sein Essen ist sehr viel besser als das Essen in der Speisehalle."
„Da fällt es wahrlich schwer, nein zu sagen", erklärte Regin, seine gewohnte Selbstsicherheit zurückerlangend. „Lord Akkarin, wir kommen Eurer Einladung mit Freuden nach."
„Ich werde unserem Diener Bescheid geben", sagte Akkarin. „Um die Zwischenzeit zu überbrücken, kann er euch einen Imbiss bringen."
Sonea sah zu Akkarin hoch und lächelte. Als sein Blick dem ihren begegnete, verzog sich sein Mund zu dem Halblächeln, das sie so an ihm liebte.
„Bis später", sagte sie.
„Viel Spaß", wünschte er.
„Du meintest wohl eher 'bis gleich'", bemerkte Regin höhnisch, als sie wieder allein waren. „So wie du spielst, habe ich dich gleich geschlagen."
Sonea betrachtete das Spielfeld. Sie versuchte, Verwirrung zu heucheln. „Oh, tatsächlich!", rief sie mit gespielter Überraschung. „Dann sollten wir noch eine zweite Runde spielen!"
„Du willst unbedingt noch einmal verlieren, was?", spottete Regin.
„Wenn du es so siehst, ja", erwiderte sie kühl und sah Regin herausfordernd an. Sie hatte den Denkzettel, den sie ihm für sein Auftreten bei der Gildenversammlung und seinen Wunsch, ein schwarzer Magier zu werden, verpassen wollte, nicht vergessen. Sie würde dafür sorgen, dass er in der nächsten Runde bekam, was er verdiente.
„Also ich finde es nur fair, wenn Sonea die Chance hat, sich zu revanchieren", warf Trassia ein. „Außerdem haben wir bis zum Abendessen noch jede Menge Zeit."
Regin betrachtete Sonea und Trassia finster. „Ihr zwei habt euch gegen mich verschworen."
„So etwas würden wir niemals tun!", rief Sonea und Trassia nickte bestätigend.
Regins Augen verengten sich. „Gut, spielen wir noch eine Runde." Er schenkte Sonea ein hämisches Lächeln. „Es wird mir eine Freude sein, dich ein zweites Mal zu besiegen, Hüttenmädchen."
Sonea erwiderte sein Lächeln kühl. Nicht, wenn du die nächste Runde auch so schlecht spielst.
Er musste eingeschlafen sein. Selbst in Sachaka wurde es nicht von einem Augenblick auf den anderen dunkel. Dannyl blinzelte die Trägheit fort. Warum war er eingeschlafen? Und was hatte ihn wieder geweckt?
Von einem unguten Gefühl befallen, wagte er es kaum zu atmen oder sich zu bewegen. Silbriges Mondlicht rieselte durch die Dachluke und tauchte den Heuboden in ein Muster aus Licht und Schatten. Alles schien friedlich.
Trotzdem konnte Dannyl sich nicht des Eindrucks erwehren, dass irgendetwas nicht stimmte. Sich konzentrierend streckte er seine Sinne aus und erstarrte, als er die fremde Präsenz spürte. Er war nicht allein.
Im selben Augenblick machte er auf dem Heuboden eine Bewegung aus.
Dannyl gefror das Blut in den Adern. Das war nicht Jorika. Die Gestalt war größer und sie bewegte sich anders.
Hatten Marikas Magier ihn gefunden? Oder Divakos Wachen?
„Seid Ihr Dannyl, der Gildenmagier?", flüsterte eine Stimme in seiner Muttersprache. Sie war ohne Zweifel weiblich. Und sie hatte einen schweren sachakanischen Akzent.
„Das kommt darauf an, was Ihr von mir wollt", antwortete er.
Der Schatten kam näher. Als die Gestalt neben Dannyl in die Hocke ging, fiel das Mondlicht auf sie, und Dannyl konnte die Konturen ihres unter einer Kapuze verborgenen Gesichts ausmachen.
„Mein Name ist Asara. Ich bin gekommen, um Euch sicher zur Grenze zu eskortieren."
Dannyl musterte die Frau misstrauisch. Für eine Sachakanerin strahlte sie zu viel Selbstsicherheit aus. Das gefiel ihm nicht. Als sie sich bewegte, glitzerte etwas an ihrer Hüfte auf.
Ein juwelenbesetzter Dolch.
Dannyl erstarrte. Sie war eine schwarze Magierin! „Warum sollte ich Euch vertrauen?", verlangte er zu wissen.
„Weil Ihr keine Wahl habt. Wenn Ihr hier bleibt, werdet Ihr sterben. Der König lässt die gesamte Stadt nach Euch durchsuchen. Ihr konntet von Glück sagen, dass Ihr Euch im Haus eines seiner Berater versteckt habt und seine Wachen den König bei der Suche unterstützen."
Dannyl erschauderte. Ashaki Divako war Marikas Berater? War er vielleicht einer von den Männern, die er und Kito auf dem Markt belauscht hatten? Trotz des Schreckens begrüßte Dannyl die Ironie seiner Lage. Hier würde Marikas Palastgarde ihn wohl am wenigsten vermuten.
„Aber ...", begann er. Dass er keine Wahl hatte, war ihm selbst nur allzu schmerzlich bewusst. Trotzdem fühlte er sich nicht wohl bei dem Gedanken, von einer Unbekannten gerettet zu werden, die zudem schwarze Magie praktizierte. Er wusste nichts über sie außer ihrem Namen. Wer war sie? Und warum war sie so anders als die wenigen Sachakanerinnen, denen er begegnet war?
„Ich weiß, Ihr habt Fragen", schnitt sie ihm das Wort ab. „Aber Eure Fragen müssen warten. Wir haben nicht viel Zeit. Kommt jetzt. Ich werde versuchen, Euch unauffällig über die Mauer zu bringen."
Dannyl wusste nicht, ob er der Frau vertrauen konnte. Er wusste jedoch, dass seine Chancen die Stadt ohne Hilfe zu verlassen, gegen null gingen. So auch seine Chancen, dieser Frau zu entkommen.
Er erhob sich. „Dann lasst uns gehen."
Asara nickte nur.
Sie verließen den Stall durch die Tür, durch die Dannyl ihn am Abend zuvor betreten hatte. Sich in den Schatten haltend, schlichen sie in den Garten. Es vergingen mehrere Minuten, in denen sie sich vom Haus des Meisters fortbewegten, wobei sie die Deckung von Büschen und Bäumen suchten. Dann tauchte die Mauer vor ihnen auf.
Asara bedeutete Dannyl sich hinter einen Busch zu ducken, während sie sich gegen den Stamm eines Baumes lehnte. Eine Weile beobachtete sie die Mauer, dann winkte sie Dannyl zu sich.
„Wir schweben jetzt über die Mauer", teilte sie ihm mit und legte eine Hand auf Dannyls Schulter.
Dannyl wollte einwenden, dass er des Levitierens mächtig war, doch Asara hatte bereits eine Scheibe aus Magie unter ihren Füßen geschaffen und hob sie über die Mauer.
Auf der anderen Seite wartete ein Karren, neben dem zwei kräftige Sachakaner warteten.
Dannyl zögerte.
„Es ist in Ordnung", sagte Asara. „Die beiden gehören zu mir." Sie wies auf die Ladefläche, auf der sich mehrere Kisten stapelten. Eine war offen. „Steigt dort hinein. Aber beeilt Euch. Wir stehen schon zu lange hier." Dann hielt sie inne und musterte ihn abschätzend. „Es könnte etwas eng darin werden", fuhr sie ein wenig verlegen fort. „Ich muss mich dafür entschuldigen, ich dachte immer, ihr Kyralier wärt kleiner. Aber Ihr werdet darin genügend Luft bekommen."
„Sehr viel schlimmer als es bereits ist, kann es nicht mehr werden", entgegnete Dannyl trocken und stieg in die Kiste.
Sein Versteck war tatsächlich etwas eng für einen Mann seiner Größe. Sich zu einer Kugel zusammenrollend hoffte er, er würde nicht allzu lange in darin ausharren müssen.
„Ich werde die Kiste verschließen", teilte Asara ihm mit. „Es ist zu Eurer Sicherheit."
Sie bückte sich und streute etwas Stroh über Dannyl. Dann schloss sie den Deckel und verriegelte ihn.
Ein Scharren erklang, als die Kiste über den Boden geschoben wurde, dann wurde irgendetwas Schweres darauf gestellt. Es gab einen Ruck und sie fuhren los.
Nach einer Weile hielt der Karren. Die Ladefläche erbebte, als jemand darauf stieg und die Kisten umstapelte. Dann wurde Dannyls Kiste emporgehoben. Das beständige Auf und Ab sagte ihm, dass er getragen wurde. Gedämpft höre er, wie der Karren davonrollte. Nur wenig später glaubte er zu hören, wie sich die Geräusche in seiner Umgebung veränderten. Dannyl glaubte, die Schritte seines Trägers hallen zu hören, so als befänden sie sich nicht mehr unter freiem Himmel. Der Gedanke löste eine unangenehme Furcht aus. Unter der Erde hatte er sich noch nie besonders wohl gefühlt. Dabei in eine Kiste gesperrt zu sein und seine Umgebung nicht sehen zu können, verstärkte sein Unbehagen auf höchst unerfreuliche Weise.
Dann endlich ließ das Hallen nach. Kühle, klare Luft strömte durch die Ritzen zwischen den Holzbrettern. Nach einigen Schritten wurde Dannyl irgendwo abgestellt. Wieder ein Karren, erkannte er nur wenige Augenblicke später, als dieser sich in Bewegung setzte und Dannyl erneut sanft hin und her geschaukelt wurde.
Dieses Mal dauerte die Fahrt sehr viel länger. Alsbald verlor Dannyl jegliches Zeitgefühl. Das Versteck wurde unbequem und Dannyls Glieder begannen zu schmerzen. Zu seiner Frustration scheiterten all seine Versuche, die Wartezeit mit Schlafen zu überbrücken.
Endlich kam der Wagen zum Stehen. Dannyls Kiste wurde angehoben und auf einem erdigen Boden abgestellt. Der Deckel öffnete sich. Kräftige Arme zogen ihn empor und setzten ihn auf dem Boden ab.
Dannyl stöhnte. Vorsichtig streckte er seine steifen Glieder und vertrieb die Schmerzen mit ein wenig Magie. Dann ließ er seinen Blick über seine neue Umgebung schweifen. Er befand sich im Hof eines anderen Anwesens. Über dem Haus des Meisters dämmerte der Morgen.
„Wo sind wir?", fragte er.
„In einem Haus außerhalb von Arvice", antwortete Asara. „Es ist hier sicher." Sie musterte Dannyl eingehend. „Ich hoffe, Ihr könnt mir verzeihen, dass Ihr so lange eingesperrt war. Ich hielt es für besser, dass Ihr ungesehen bleibt, bis die Stadt weit hinter uns liegt."
Dannyl konnte nur nicken.
„Ruht Euch aus", fuhr die schwarze Magierin fort. „Ich werde kurz mit der Verwalterin dieses Hauses sprechen und uns Pferde und Proviant besorgen, bevor wir weiterreisen." Sie lächelte schief. „Reitend."
„Das wäre eine erhebliche Verbesserung", erwiderte Dannyl trocken.
Asara grinste.
„Es ist bald Morgen", sagte der Mann zu ihr. „Ich muss zurück zur Stadt."
Die schwarze Magierin nickte. „Nimm eines von Varalas Pferden", sagte sie. „Wir sehen uns in vier Wochen. Pass auf dich auf, Vikacha."
„Pass du lieber auf", erwiderte er.
Asara hob amüsiert die Augenbrauen. Dann wandte sie sich ab und schritt über den Hof zum Haus des Meisters.
Als sie fort war, streckte Dannyl sich erschöpft auf dem Erdboden aus. In tiefen Zügen atmete er die klare Nachtluft ein. Während seine Sinne allmählich wieder zurückkehrten, dachte er über Asaras Worte nach. Hatte sie wirklich gesagt, sie würde mit der Verwalterin dieses Anwesen sprechen? Und was war das mit dem Sklaven gewesen? Gab es in Sachaka doch Frauen, die über Macht verfügten? Oder waren Asara und diese Frau namens Varala Ichani?
Er beschloss, dass seine Fragen warten konnten, bis sie wieder unterwegs waren. Wenn Asara die Absicht hatte, ihn zu töten, hätte sie das bereits in Divakos Stall getan.
Nein, wahrscheinlich war sie die Rettung, die Akkarin ihm zugesichert hatte. Dannyl schob seine Spekulationen über die mysteriösen Hintergründe beiseite und genoss die Tatsache, dass er das Schlimmste überstanden hatte und dass er noch am Leben war.
