Kapitel 40 – Verzweifelte Maßnahmen
Rothen nippte an seinem Sumi und warf einen Blick auf die im Tagessaal versammelte Runde. Sogar der König und seine beiden Berater waren zu der Besprechung gekommen, was die Dringlichkeit dieses Treffens unterstrich. Denn seit einem Tag befand Kyralia sich im Krieg mit Sachaka.
Auch einen Tag nach dieser fürchterlichen Enthüllung und dem Tod von Auslandsadministrator Kito befand sich die Gilde im Schockzustand. Obwohl der Unterricht wieder aufgenommen war, konnte Rothen das Entsetzen noch immer in den Gesichtern der Magier und Novizen lesen. Sie alle spiegelten seine eigenen Ängste einhundertfach wieder. In der vergangenen Nacht hatte er dem Schlaf daher erneut mit einer kleinen Dosis Nemmin auf die Sprünge helfen müssen.
Diese Besprechung gab ihm jedoch so etwas wie Zuversicht.
„Wie einsatzfähig sind die Händler?", frage Balkan gerade.
„Ihre Fähigkeiten im Beschatten lassen noch zu wünschen übrig", antwortete der Mann, der mit Rothen im Sommer losgezogen war, um Akkarin und Sonea in Sachaka zu finden. Jetzt überwachte er die Ausbildung der Händler zu Spionen der Gilde. „Dafür sind sie die meisten im Sammeln von Informationen inzwischen fortgeschritten. "
„Würde das reichen, um sie nach Arvice zu schicken?"
„Das kann ich nicht genau sagen. Weder ich noch meine Kollegen sind je dort gewesen. Für jemanden, der nicht ahnt, dass ein Kaufmann ein Spion sein könnte, sollte ihre Ausbildung genügen, um unerkannt zu bleiben. Trotzdem würde ich empfehlen, nur die vier besten für diese Mission zu wählen." Raven zog ein zusammengerolltes Schriftstück aus seinem Umhang und reichte es dem Hohen Lord. „Das hier ist eine Liste aller in Frage kommenden Kandidaten."
Balkan nahm das Dokument entgegen und überflog es. „Lord Akkarin, wie steht es um die Sprachkenntnisse unserer Spione?"
„Die Spione sind in der Lage, das meiste, was sie auf der Straße von Passanten aufschnappen, zu verstehen", antwortete der schwarze Magier.
Balkan reichte die Liste an ihn weiter. „Würdet Ihr auf Grund Eurer Beobachtungen während des Sprachkurses und dem, was Raven uns soeben berichtet hat, vier dieser Spione nach Sachaka schicken?"
Akkarins Blick huschte wie beiläufig darüber, dann gab er Balkan die Liste zurück. „Angesichts der Situation, ja." Er wies nacheinander auf vier Namen. „Und zwar diese."
„Also heißt das, Ihr würdet damit lieber warten wollen, wäre unsere Situation nicht so ernst?", schnarrte Lord Garrel.
Rothen unterdrückte ein entnervtes Stöhnen. Selbst jetzt, wo der Krieg mit Sachaka nicht mehr aufzuhalten war, konnte Garrel sich mit Sticheleien nur schwer zurückhalten. Er hegte indes den Verdacht, dass Garrel sich nur deswegen so offensiv verhielt, weil er sich durch die Gegenwart der anderen höheren Magier stark wähnte.
„Spione nach Sachaka zu schicken, ist immer mit einem gewissen Risiko verbunden", erwiderte Akkarin glatt. „Wir können diese Männer nicht auf jede erdenkliche Situation, die eintreten könnte, vorbereiten. Es wird immer ein Restrisiko bestehen, dass ihre Tarnung auffliegt."
„Brauchen wir diese Männer überhaupt noch, jetzt wo wir diese Verräterin haben?", fragte Lord Peakin.
„Also ich traue ihr nicht", sagte Garrel.
„Wir sollten uns nicht allein auf sie verlassen", sagte Lady Vinara. „Selbst wenn sie sich als vertrauenswürdig erweist, besteht die Möglichkeit, dass sie enttarnt wird, und dann könnte uns niemand über die Pläne der Sachakaner ins Bild setzen. Aber wir sollten auch darauf achten, dass wir die Händler bei ihrem Einsatz nicht zu großen Gefahren aussetzen."
Der Hohe Lord sah zu König Merin. „Euer Majestät, wärt Ihr bereit, einen oder zwei Eurer eigenen Spione für diese Mission zu entbehren, um den Händlern bessere Chancen zu ermöglichen?"
Der König nickte. „Raven, wie denkt Ihr darüber?", fragte er.
„Es würde ihre Erfolgschancen vergrößern und das Risiko einer Enttarnung verringern", antwortete Merins Spion. „Zwei von uns sollten dafür genügen."
„Dann schicken wir die Vier von Ravens Liste mit zwei Spionen des Königs bis zum Ende dieser Woche nach Sachaka", entschied Balkan. „Irgendwelche Einwände?"
„Die Saison für Händlerkarawanen beginnt erst im Frühjahr", sagte Lord Vorel. „Die Sachakaner könnten misstrauisch werden, wenn die ersten kyralischen Händler so früh im Jahr in Arvice erscheinen."
„Aber wenn wir bis zum Frühjahr warten, könnte es bereits zu spät sein!", protestierte Garrel.
„Da gebe ich Euch recht", sagte Vorel kühl.
Das Oberhaupt der Krieger öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Offenkundig missfiel es ihm, dass ein Krieger, der einen geringeren Rang als er selbst bekleidete, seine Arbeit erledigte.
„Lord Vorel, was schlagt Ihr vor?", fragte Balkan.
„Die Spione brauchen eine glaubhafte Geschichte, die erklärt, warum sie in diesem Jahr früher unterwegs sind."
Das Oberhaupt der Krieger brummte etwas, das verdächtig nach „auf diese Idee wäre ich auch gekommen" klang.
Rothen unterdrückte ein Kichern. Zu schade, dass Vorel das Amt nicht übernehmen wollte, dachte er. Er konnte indes verstehen, warum der Krieger es abgelehnt Oberhaupt der Krieger und Leiter der strategischen Studien zu sein. Es hätte seine Tätigkeit als Lehrer zu stark eingeschränkt. Und gute Lehrer für Kriegskunst waren seit einem halben Jahr noch seltener als gute Krieger.
Der König beugte sich vor. „Lord Vorel, bitte fahrt fort."
„Die Spione könnten behaupten, sie hätten Gerüchte über einen bevorstehenden Krieg erfahren und wollten ihre Ware noch rechtzeitig verkaufen, wofür sie eine anstrengende Reise durch Schnee und Eis in den Bergen auf sich genommen hätten. Eine andere Möglichkeit wäre, sie an der Küste entlang zu schicken, wo das Stahlgurtgebirge in flache Berge übergeht."
„Lord Akkarin, was sagt Ihr dazu?"
Der schwarze Magier strich sich übers Kinn. „Lord Vorels erster Vorschlag wäre besonders für jene Händler glaubwürdig, deren Waren in Sachaka einen großen Absatz finden, weil sie dort entweder nicht oder nur in schlechter Qualität erzeugt werden. Eine Reise entlang der Küste hingegen wäre beschwerlich und würde zu viel Zeit kosten. Das Gelände dort ist zwar flacher, aber mit Karren nur schwer passierbar, weil es keine ausgebauten Straßen gibt." Er machte eine Pause und musterte den König und die höheren Magier durchdringend. „Beide Varianten wären indes überzeugender als die Alternative."
„Die da wäre?"
„Zuzugeben, dass Pässe durch die Präsenz unserer Patrouillen in diesem Winter frei sind. Denn das könnte dazu führen, dass die Sachakaner vom Bau des Forts am Südpass erfahren und sich provoziert fühlen. Spätestens dann werden sie wissen, dass wir seit längerer Zeit in Alarmbereitschaft sind, was dazu führen könnte, dass sie früher ausrücken, um uns möglichst unvorbereitet zu treffen."
Balkan wandte sich Merins Spion. „Raven, arbeitet mit den Spionen eine glaubwürdige Geschichte aus, die die frühe Reise der Händler nach Arvice rechtfertigt und die nichts über unsere Pläne verrät."
„Ich werde mich sofort nach dieser Besprechung die Arbeit machen."
„Gut."
„Es gibt noch etwas, das berücksichtigt werden muss."
Der König und die höheren Magier fuhren herum.
„Sprecht, Lord Akkarin", forderte König Merin ihn auf.
„Die Spione wurden als Zweierpaare rekrutiert", sagte Akkarin. „Wir haben jedes Paar in dem Glauben gelassen, sie wären die Einzigen. Ursprünglich war geplant, sie in unterschiedlichen Händlerkarawanen reisen zu lassen. Wenn wir sie jetzt in einer einzigen Karawane reisen lassen, werden sie trotz ihrer separaten Ausbildung bald hinter unseren Plan kommen."
„Was ihre Mission gefährden würde", murmelte Osen düster.
„Wir könnten versuchen, bis zum Wochenende weitere Händler zu finden, die bereit wären, so früh im Jahr nach Arvice zu reisen", schlug Rothen vor. „Selbst, wenn wir ihnen dafür eine Provision zahlen müssen. Wenn sie von dem Krieg erfahren, werden sie wahrscheinlich freiwillig nach Arvice reisen wollen, um ihre Ware noch vorher loszuwerden, was wiederum Akkarins ersten Vorschlag befürworten würde."
„Um diese Jahreszeit bekommen wir unmöglich genügend Händler für zwei Karawanen zusammen", wandte Peakin ein.
„Möglich", sagte Balkan. „Aber selbst wenn wir nur eine Karawane aufstellen, wäre ihnen und damit auch uns geholfen. Es liegt dann an den Spionen seiner Majestät, dafür zu sorgen, dass sich unsere Spione nicht gegenseitig enttarnen."
„Dann muss den Händlern Geld geboten werden, damit sie schweigen", sagte der König. „Gebt ihnen, was sie wollen, die Kosten werden keine Rolle spielen."
„Raven, jeder Eurer Leute hat immer nur eine Gruppe unterrichtet, richtig?", fragte Lord Garrel.
Der Spion nickte.
„Dann würde bei geschickter Verteilung der Händler und der königlichen Spione eine Karawane sogar genügen", folgerte Osen. „Lord Rothen, würdet Ihr Euch bereit erklären, mit mir die nötigen Leute zu finden? Ihr wart mir bereits eine große Hilfe, als wir nach Kandidaten für die Spione gesucht haben."
„Dieses Mal nicht, Administrator", antwortete Rothen einen Anflug von Schuldgefühl verspürend. „Ich fürchte, ich werde zu sehr mit meinen Versuchsreihen und den neuen Lehrplänen beschäftigt sein."
Der Administrator lächelte schief. „Daran hatte ich nicht gedacht." Er sah zu Rothens Kollegen. „Wer wäre bereit, mich zu unterstützen und kann die nötige Zeit erübrigen?", fragte er. „Es wird nur einen Tag, höchstens zwei Tage dauern."
„Ich kann das machen", erbot sich Peakin. „Wenn es Euch recht ist, direkt nach Lord Rothens Experimenten."
Der Administrator nickte. Er machte sich eine Notiz. „Also finden wir Händler, die bereit sind in wenigen Tagen nach Arvice zu reisen, während Raven und seine Kollegen eine Geschichte für unsere Spione erfinden", fasste er zusammen. „Es ist gut, dass wir uns bis hierhin einig sind. Der nächste Punkt wird vermutlich eine weitaus größere Diskussion mit sich führen."
Rothen ahnte, was jetzt kommen würde. Einen tiefen Atemzug nehmend bereitete er sich innerlich darauf vor, dass dieses Treffen nicht einmal ansatzweise zu Ende war. Er unterdrückte ein Stöhnen, als er an die anschließende Besprechung mit Jerrik und den übrigen Studienleitern dachte. Der einzige Lichtblick an diesem Tag war das Austesten seiner Phiolen am Nachmittag, doch danach würde die Arbeit wahrscheinlich erst recht anfangen.
„Als dieses Thema zum ersten Mal aufkam, schlug Lord Rothen vor, die Diskussion auf den Zeitpunkt zu verschieben, zu dem wir die Spione nach Sachaka entsenden", fuhr der Administrator mit sichtlichem Unbehagen fort. „Für alle, die sich vielleicht nicht mehr entsinnen: Es ging darum, auf welche Weise die Spione mit uns in Verbindung treten."
Auf seine Worte folgte Schweigen. Es schien, als wolle niemand der Erste sein, der sich dazu äußerte. Garrel betrachtete Akkarin lauernd, als wartete er nur darauf, dass der schwarze Magier etwas tat oder sagte, was ihm Grund gab, sich auf ihn zu stürzen. Akkarin erwiderte den Blick des Kriegers indes kühl und gelassen. Ob er sich insgeheim über uns amüsiert?, fragte Rothen sich mit unterdrückter Erheiterung. Wenn dem so war, dann hatte Akkarin seinen vollen Respekt für diese ungeheure Selbstbeherrschung.
Schließlich räusperte sich der König. „Sind sich die höheren Magier über dieses Thema einig oder sollte dieses Treffen vorsichtshalber in die Arena verlegt werden, bevor wir fortfahren?"
Administrator Osen lachte nervös.
„Euer Majestät, das ist nicht nötig", sagte Balkan.
Merin nickte zufrieden. „Ich bin überrascht, dass diese Blutjuwelen unter den Magiern noch immer auf so wenig Gegenliebe stoßen, wo sie ihre Nützlichkeit in der jüngeren Vergangenheit gleich mehrfach unter Beweis gestellt haben." Seine intelligenten, grünen Augen wanderten über die Gesichter der höheren Magier. Einige zuckten zusammen und senkten den Blick wie gescholtene Kinder. „Warum ist das so?"
„Sie sind ein Eingriff in die Privatsphäre des Trägers, Euer Majestät", antwortete Lord Garrel, der sich als Erster wieder gefasst hatte.
„Kann der Träger denn nicht entscheiden, wann er den Kontakt durch das Blutjuwel herstellt, indem er es berührt?" Merins grüne Augen fixierten Akkarin. „Und ist es nicht so, dass der Hersteller des Juwels nur dann auch nur die Oberflächengedanken des Trägers lesen kann, also nur das, was jene Person gerade bewusst denkt?"
„Das ist richtig, Euer Majestät", antwortete der schwarze Magier.
„Also wäre der Eingriff in die Privatsphäre gering, wenn der Spion das Blutjuwel nur benutzt, um Bericht zu erstatten oder neue Anweisungen zu erbitten", folgerte der König. „Seine Gedanken würden sich hauptsächlich um die zu bewältigende Aufgabe drehen und wenig andere Informationen preisgeben?"
„Ja. Zumindest, solange der Spion nicht abgelenkt ist."
Jetzt kommt es, dachte Rothen. Er hatte es schon an der Art erkannt, wie Merin das Wort ergriffen hatte. Jetzt wird er diesem Streitthema ein für alle Mal ein Ende bereiten. Er hielt gespannt die Luft an. Die übrigen Magier, bis auf Akkarin, der den Eindruck erweckte, diese Diskussion lasse ihn völlig kalt, schienen sich mit einem Mal sehr unwohl zu fühlen.
Vor einem halben Jahr hätte der König diese Möglichkeit noch strikt abgelehnt. Seitdem hatte Merin jedoch viel getan, was zuvor seiner Einstellung widersprochen hatte, weil die Situation es erfordert hatte. In Rothens Augen machte genau das einen guten Herrscher aus. Zudem schien der König Akkarin mehr Vertrauen zu schenken denn je.
„Ein guter Spion täte schlecht daran, sich in einer solchen Situation ablenken zu lassen." Der König von Kyralia stützte die Unterarme auf den Tisch und beugte sich vor. „Alle Händler sind bereit, ihre Informationen durch Blutjuwelen zu übermitteln oder sie während eines längeren Einsatzes dauerhaft zu verwenden. Wie Raven mir mitteilte, gestatten sie den höheren Magiern den Einblick in ihre Gedanken, sofern sie die Garantie haben, dass ihnen dies in keiner Form zum Nachteil gereicht.
„Wie ich dem Hohen Lord bereits vor einigen Wochen mitgeteilt habe, wüsche ich, die Spione mit Blutjuwelen auszustatten. Es wundert mich, dass dies immer noch ein Streitthema unter den höheren Magiern ist, obwohl die Patrouillen in den Bergen bereits seit Wochen diese Artefakte tragen. Die Uneinigkeit der höheren Magier in dieser Frage interessiert mich nicht. Ich erwarte, dass Ihr Euch meinem Willen beugt."
Einige Magier senkten die Köpfe. Garrel starrte mit verdrießlicher Miene auf die Tischplatte vor sich. Nur Akkarin beobachtete den König regungslos. Für einen kurzen Moment blitzten die dunklen Augen des schwarzen Magiers zu Rothen und er glaubte, so etwas wie Erheiterung darin zu lesen.
„Wir brauchen die Informationen der Spione ohne zeitliche Verzögerung", fuhr den König fort. „Lord Akkarin, Ihr werdet diese Blutjuwelen aus Eurem eigenen Blut herstellen. Ich wünsche, dass Ihr den Spionen zur Seite steht, da Ihr mit den Sachakanern besser vertraut seid, als der Rest von uns."
Der schwarze Magier neigte den Kopf. „Ja, Euer Majestät."
Der König nickte. „Gibt es noch weitere Punkte auf Eurer Tagesordnung, Administrator?"
„Nein, Euer Majestät", antwortete Osen, während er sich mit fahrigen Bewegungen eine Notiz machte. Auch die anderen Magier schwiegen. Selbst Garrel. Rothen wusste, einige befürworteten die Idee Blutjuwelen in bestimmten Situationen einzusetzen inzwischen, doch Merins klare Befehle hatten sie eingeschüchtert. „Wenn niemand mehr ein Anliegen hat, erkläre ich das Treffen hiermit für beendet."
Rothen verspürte einen seltsamen Kitzel von Furcht und Hoffnung. Es war also beschlossen. Die Gilde würde Zivilisten, die sie monatelang auf ihren Einsatz vorbereitet hatte, nach Sachaka schicken, um Informationen über Marikas Pläne zu sammeln. Er hoffte, sie würden die Leben dieser Leute nicht sinnlos riskieren.
„Ich beginne jetzt mit dem Eingriff", verkündete Lord Kiano sein Skalpell gezückt. „Sonea, würdest du die zur Einschnittstelle führenden Nerven und Blutgefäße blockieren?"
Sonea schrak aus ihren Gedanken hoch. „Ja, Mylord."
Sie legte ihre Hand auf den Bauch der jungen Frau und streckte ihren Geist aus. Sofort spürte sie die Entzündung im Bauchraum. Sorgfältig blockierte sie sämtliche Nervenpfade, die während der Operation in Mitleidenschaft gezogen und Schmerzen verursachen würden. Dann streckte sie ihren Willen nach den Blutgefäßen in der Region des Blinddarms aus und drückte sie zusammen, bis der Blutfluss unterbrochen war.
Als sie fertig war, nickte sie Lord Kiano zu.
Der Vindo senkte sein Skalpell auf die Haut der Frau. In einer fließenden Bewegung durchtrennte er mühelos Haut, Fettschichten und Muskeln.
„Klammern."
Lady Indria nahm mehrere silberne Klammern vom Instrumententisch. Sie hakte sie in die Wundränder ein und zog sie auseinander. Dazwischen konnte Sonea den perforierten Blinddarm erkennen. Ein eitriges Sekret hatte sich im umliegenden Gewebe gesammelt. Der aus der Wunde strömende Geruch löste einen leisen Brechreiz aus.
Sonea zwang sich, flach zu atmen. Sie hatte bereits Schlimmeres gesehen, doch die mit faulen Gerüchen einhergehende Übelkeit war jedes Mal überwältigend.
Die Frau hatte großes Glück gehabt. Hätte ihre Familie sie nur eine Stunde später ins Heilerquartier gebracht, wäre sie nicht mehr zu retten gewesen. Die sich in ihrem Bauchraum ausbreitenden Sekrete hätten bis dahin ihren Körper vergiftet und die junge Frau getötet. Jetzt musste der Blinddarm herausoperiert werden.
In wenigen Wochen wird es keinen Unterschied mehr machen, ob diese Frau heute gestorben wäre oder nicht, fuhr es Sonea durch den Kopf. Denn spätestens dann wird sie sterben, oder ein Schicksal erleiden, das weitaus entsetzlicher ist.
Sie erschrak ob diesem Gedanken. Seit wann mangelte es ihr derart an Mitgefühl? Sie fing an, sich so zu verhalten, wie sie es früher von den Magiern erwartet hatte, bevor sie eines Besseren belehrt worden war.
Nein, das war nicht richtig. Sie war nicht so. Diese junge Frau hatte es nicht verdient, zu sterben. Weder heute, noch wenn die Sachakaner kamen. Trotzdem erschien ihr Schicksal Sonea angesichts des bevorstehenden Kriegs bedeutungslos. Das alles hier, dieser ganze Unterricht, erschien ihr mit einem Mal bedeutungslos. Sie sollte keine Stunden in Heilkunst nehmen, die über das hinausgingen, was ihr Lehrplan vorschrieb, wenn es ihre Aufgabe war, Kyralia und die Gilde zu verteidigen. Niemand wusste genau, wie viel Zeit ihnen noch blieb, bis der sachakanische König seine Streitmacht vereint hatte. Aber seit der vorletzten Nacht stand unweigerlich fest, dass ihre Zeit dabei war, abzulaufen.
Plötzlich fand Sonea sich selbstsüchtig, weil sie mehr Unterricht in Heilkunst belegte, als einem Novizen der die Kriegskunst gewählt hatte, zustand. Nach der Wahl ihrer Disziplin hatte sie dieses Angebot mit Freuden in Anspruch genommen, da es ihr das Gefühl vermittelt hatte, ihren Traum nicht ganz aufzugeben. Sie hatte darum gekämpft, die zusätzlichen Stunden zu Beginn des Winterhalbjahres wieder belegen zu dürfen, nachdem sich ihre Noten in Strategie verbessert hatten. Aber jetzt erschien es ihr als eine Zeitverschwendung, die sie daran hinderte, ihre Pflicht zu erfüllen.
Konnte sie den Menschen nicht besser helfen, wenn sie alles in ihrer Macht stehende tat, um ihnen langfristig Frieden und Sicherheit zu garantieren, anstatt sich um ihre gegenwärtigen Probleme zu kümmern, für die andere besser geeignet waren? Sonea kannte die Antwort auf diese Frage bereits, sie stellte sie sich nicht zum ersten Mal.
„Sonea, du kannst die Wunde jetzt heilen", wies Lord Kiano sie an. „Es befindet sich noch ein Rest Eiter im Bauchraum. Sorge dafür, dass der Körper diesen abtransportiert."
Sonea zuckte zusammen. Sie war schon wieder abgelenkt gewesen.
Hoffentlich hat er es nicht bemerkt, dachte sie in einem Anflug von Schuldgefühl. Sie war sich den wachsamen Blicken des Heilers wohlbewusst. Ebenso wie denen von Lady Vinara, die die Operation als Soneas Lehrerin überwachte.
Als die Bedeutung seiner Worte durch ihre sich im Kreis drehenden Gedanken in ihr Bewusstsein sickerte, lächelte Sonea. Sie hatte erst zwei Mal am Ende einer Operation die Wunde heilen dürfen. Es erfüllte sie mit Stolz, dass die Heiler ihr so viel Vertrauen schenkten.
Zugleich schämte sie sich jedoch, weil sie abgelenkt gewesen war. Rückblickend konnte sie nicht sagen, wie der Vindo den Blinddarm entfernt und die Wunde gereinigt hatte. Dabei zuzusehen wäre interessant gewesen. Auch wenn sie niemals selbst Operationen durchführen würde, so hätte sie dabei viel lernen können.
Sich auf die Wunde konzentrierend ließ Sonea das Gewebe, von dem Lady Indria die Klammern bereits wieder entfernt hatte, zusammenwachsen. Anschließend untersuchte sie den Bauchraum. Es war, wie Lord Kiano gesagt hatte. Zwischen den Eingeweiden befanden sich noch Spuren des giftigen Sekrets, die durch das Auswaschen nicht hatten entfernt werden können. Sonea tötete die Keime mit gezielten Dosen aus Magie und regte die Körpersäfte der jungen Frau an, damit sie die Überreste abtransportierten.
„Soll ich auch das Fieber senken?", fragte sie, nachdem sie fertig war.
„Ja." Lord Kiano betrachtete sie erfreut. „Sehr aufmerksam von dir."
Ein Schnauben unterdrückend, sandte Sonea ihre Magie erneut in den Körper der Patientin. Wenn Kiano ihre Gedanken lesen könnte, würde er seine Meinung über sie rasch ändern.
„Gut gemacht, Sonea", lobte der Heiler, als sie fertig war.
„Vielen Dank, Lord Kiano", erwiderte Sonea unbehaglich.
Lady Vinara trat vor und untersuchte die junge Frau. „Das kann ich nur bestätigen", sagte sie. „Ihr alle habt gute Arbeit geleistet."
Sonea stieß erleichtert die Luft aus. Weder das Oberhaupt der Heiler noch Lord Kiano schienen ihre Abgelenktheit bemerkt zu haben. Das war begrüßenswert, da es ihr eine ernste Unterredung mit Lady Vinara ersparte. Dennoch fand Sonea, dass sie das Lob nicht verdient hatte. Unaufmerksamkeit während einer Operation konnte verhängnisvoll sein.
Ich sollte das hier nicht machen, dachte sie. Nicht solange andere Dinge wichtiger sind.
Benommen folgte sie den Heilern aus dem Operationsraum. Lord Kiano levitierte den mit einer Decke bedeckten Körper der Frau über den Flur in ein gegenüberliegendes Zimmer und legte sie dort auf einem weichen Bett nieder. „Indria, bleibt bei ihr bis sie aufwacht."
„Sonea?"
Sie sah auf und blickte in Lady Vinaras ernstes Gesicht.
„Geh dich umziehen und wasch deine Hände. Es wird Zeit."
„Ja, Mylady."
Er jetzt wurde Sonea bewusst, dass es bereits zum Unterrichtsende geläutet hatte. Sie eilte in einen nahegelegenen Waschraum, streifte ihre Schürze ab und warf sie in den Korb für Schmutzwäsche. Dann wusch sie Gesicht und Hände gründlich.
Als sie wieder auf den Flur trat, warteten Lady Vinara und Lord Kiano bereits auf sie. Auf Lady Vinaras Zeichen schritten sie zum Ausgang.
„Habt Ihr eine Einschätzung, wie stark Eure Phiolen sich auf einen magischen Schild auswirken?" Akkarin musterte die kleinen Glasfläschchen, die Rothen auf einem Tisch am Rande der Arena aufgereiht hatte, mit gerunzelter Stirn. Jede Versuchsreihe enthielt zehn Phiolen mit unterschiedlichen Mischungsverhältnissen und Konzentrationen der jeweiligen Chemikalien.
„Farand und ich haben einige Vorversuche im Steinbruch durchgeführt", antwortete Rothen. „Die Phiolen sind nach aufsteigender Stärke angeordnet, beginnend mit der schwächsten am linken Ende von Euch aus gesehen. Ich kann jedoch keine definitive Aussage darüber machen, wie die Wirkung auf einen magischen Schild ist."
Akkarin nahm das mit einem Nicken zur Kenntnis.
„Derartige Experimente sind noch nie durchgeführt worden", fügte Rothen vorsichtig hinzu. Unter dem finsteren Blick des schwarzen Magiers begann er sich allmählich unbehaglich zu fühlen. Vielleicht war es doch so keine gute Idee gewesen, ihn und Sonea als Probanden zu nehmen. „Das ist immer mit einem gewissen Risiko verbunden."
„Ich verstehe. Was für eine Schildstärke empfiehlt Ihr, um brauchbare Ergebnisse zu erhalten?"
Rothen runzelte die Stirn. Er dachte an die Zerstörungskraft, die die Phiolen im Steinbruch entfaltet hatten. Wenn die Wirkung auf einen magischen Schild dieselbe war, dann würden zumindest die ersten drei in jeder Reihe an einem Schild, wie ihn ein Krieger errichten würde, mittelschweren bis schweren Schaden anrichten. Die stärksten Phiolen einer jeden Versuchsreihe hatten er und Farand nur mit ganz geringen Mengen zu testen gewagt. Um die Ergebnisse nach den Versuchen sinnvoll vergleichen zu können, würde der Schild immer gleich stark sein müssen. Rothen wollte Akkarin und Sonea bei diesem Experiment nicht in Gefahr bringen, aber der Schild würde auch nicht so stark sein dürfen, dass man keinen Effekt erkennen konnte.
Er entschied, dass wissenschaftliche Überlegungen dieser Art ihn an dieser Stelle nicht weiterbringen würden. „Wählt Euren Schild so, als würdet Ihr gegen einen anderen schwarzen Magier kämpfen", sagte er. „Ich denke, das ist eine realistische Einschätzung für den Schild, den ein Sachakaner verwenden würde. Bei den stärkeren Phiolen werdet Ihr ihn gegebenenfalls anpassen müssen."
„Das klingt vernünftig."
Erleichtert stieß Rothen die Luft aus, die er angehalten hatte. Mittlerweile hatten sich die Ränge auf der Tribüne mit Magiern und Novizen gefüllt. Seine Überraschung, dass nahezu die gesamte Gilde gekommen war, um dem Spektakel beizuwohnen, hielt sich in Grenzen. Sie waren gekommen, weil sie ihre Ängste beruhigen wollten. Aber auch, weil sie aufregende Effekte erwarteten. Der Anblick der zahlreichen Zuschauer erfüllte Rothen mit Unbehagen und Erwartungsdruck.
Die höheren Magier hatten sich bereits auf dem Portal versammelt, auf dem bei Duellen der Schiedsrichter stand. Neben Lord Garrel entdeckte Rothen dessen Neffen, ohne den er niemals auf die Idee gekommen wäre, diese Versuche zu machen.
Vielleicht taugt Regin doch zu etwas, dachte er trocken. Auch wenn er Regins Idee, die Novizen in diesem Krieg kämpfen zu lassen, noch immer ablehnte, musste er dem Jungen eine gewisse Intelligenz zugestehen. Ohne ihn hätte Sonea niemals darüber nachgedacht, ob es möglich war, Alchemie im Kampf zu verwenden. Und Rothen hätte seine Versuchsreihen niemals entwickelt.
Als ein Raunen durch die Menge der Zuschauer ging, sah er auf. Sonea trat aus dem kurzen Tunnel und eilte durch die Arena auf sie zu. Ihre Lehrerin stieg gerade auf das Podest zu den höheren Magiern.
„Lord Akkarin, Lord Rothen, tut mir leid, dass Ihr warten musstet", sagte sie atemlos. Zu Rothens Erheiterung deutete sie eine Verneigung an. Dann streifte sie den Lederriemen ihrer Tasche ab und stellte sie auf den Boden. Ihr Blick fiel auf Rothens Novizen, der mit Pergament und Schreibfeder bewaffnet neben Rothen saß. „Hallo, Farand."
„Hallo, Sonea", sagte der junge Elyner lächelnd.
„Wie war Heilkunst?", fragte Akkarin.
Sonea wandte sich ihm zu. Als sie zu ihm aufsah, war da wieder dieser Ausdruck in ihren Augen, der Rothen jedes Mal erschaudern ließ und der für ihn mehr aussagte, als er über diese Beziehung wissen wollte. Ob ich mich je daran gewöhnen werde?, fuhr es ihm durch den Kopf.
„Gut", antwortete sie und strahlte ihn an. „Ich durfte bei einer Operation assistieren."
„Du kannst mir später davon erzählen."
„Ja, Lord Akkarin." Die Freude wich aus ihrer Miene und sie wurde ernst. „Wir müssen ohnehin reden."
Akkarin musterte sie kurz. „Ich verstehe", sagte er nur.
Rothen hätte zu gern gewusst, was los war. Doch er ahnte, jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, um zu fragen. Wahrscheinlich würde er es ohnehin von den Waschweibern der Gilde erfahren oder im besten Fall von Sonea bei ihrem nächsten Mittagessen.
Sonea warf einen Blick auf die Phiolen, der dem gleichkam, mit dem Akkarin sie wenige Minuten zuvor betrachtet hatte. Ihre Augenbrauen zogen sich zusammen.
„Rothen, seid Ihr sicher, dass Ihr uns nicht aus Versehen umbringen werdet?"
Er zögerte. „Ich denke nicht."
In einem plötzlichen Anflug von Unbehagen erkannte er, dass er es tatsächlich nicht wusste. Als er und Farand die Schildsenker erschaffen hatten, war er von dem Gedanken beseelt gewesen, die Gilde damit im Kampf gegen schwarze Magier zu unterstützen. Allerdings hatte er dabei an die Sachakaner gedacht. Nicht an Akkarin und Sonea. „Wenn ihr beide euch erschöpft habt, verschieben wir den Rest auf einen anderen Tag."
„Ich habe Kraft aus dem Dome bezogen", sagte Akkarin leise zu seiner Novizin. „Es sollte keine Gefahr für uns bestehen. Zur Sicherheit werde ich dich trotzdem mit einem inneren Schild ausstatten."
Sonea öffnete den Mund als wolle sie dagegen protestieren, schloss ihn dann jedoch wieder als Akkarin eine Hand auf ihre Schulter legte. Rothen unterdrückte ein Kichern. Er wusste, dass sie Akkarin selbst dann als überfürsorglich empfand, wenn sie dabei waren, sich gegenseitig in der Arena umzubringen. Wenn es nach Rothen ginge, dann konnte der schwarze Magier hingegen nicht genug um Soneas Sicherheit besorgt sein.
„Können wir anfangen?", fragte er, nachdem Soneas innerer Schild stand. Die große Anzahl von Zuschauern löste in ihm den Drang aus, diese Angelegenheit schnell hinter sich zu bringen. Doch davon abgesehen hatte eine gewisse Neugier von ihm Besitz ergriffen. Bis zu diesem Projekt hatte er sich nie als ernstzunehmenden Forscher gesehen.
„Wenn Ihr bereit seid", sagte Akkarin.
Rothen sah zu Farand.
„Ich werde alles genauestens protokollieren, Lord Rothen", erklärte sein Novize.
Rothen lächelte. „Dann werde ich euch jetzt den Ablauf erläutern", sagte er zu Akkarin und Sonea gewandt. „Die Phiolen einer Versuchsreihe enthalten jeweils die gleichen Substanzen, allerdings in unterschiedlichen Verhältnissen. Ich werde diese nacheinander gegen Euren Schild werfen, beginnend mit der Harmlosesten. Wenn die Phiole Euren Schild getroffen hat, sagt mir, welche Wirkung ihr gespürt habt, wie stark Euer Schild in etwa war und wie sehr er geschwächt wurde."
„Ich werde dafür sorgen, dass du die Wirkung auf den Schild ebenfalls spürst", sagte Akkarin zu Sonea.
Sie nickte ernst.
„Sonea, du kannst gerne zusehen, wenn dir das zu gefährlich ist", bot Rothen an.
Ein Anflug von Verärgerung huschte über ihr Gesicht. „Rothen, das kommt nicht in Frage!", sagte sie scharf. „Ich muss es miterleben."
Akkarins Mundwinkel zuckten. „Verschwendet Eure Kraft nicht darauf, es ihr auszureden."
„Da habt Ihr wahrscheinlich Recht", murmelte Rothen trocken.
Sonea schnaubte und Rothen fragte sich, ob sie so reagierte, weil sie fürchtete, Akkarin könne etwas zustoßen oder ob sie die Wirkung der Schildsenker am eigenen Leib erfahren wollte, um sich vor den Sachakanern sicherer zu fühlen.
„Komm, lassen wir Rothen seine Experimente durchführen." Akkarin legte eine Hand zwischen ihre Schulterblätter und führte sie ein Stück in die Arena hinein.
Inmitten der Sandfläche blieben sie stehen und wandten sich um. Die Luft um sie flimmerte für einen Augenblick, dann gab Akkarin das verabredete Zeichen, dass er und Sonea bereit waren. Rothen warf die erste Phiole.
Es gab eine winzige Explosion, dort wo sie auf den Schild traf.
Akkarin sah zu Sonea. Sie schüttelte den Kopf.
„Keine Wirkung", erklärte er.
Aus den Augenwinkeln nahm Rothen wahr, wie Farand sich eilig eine Notiz machte. Er nahm die zweite Phiole und warf sie gegen den Schild der beiden schwarzen Magier. Dieses Mal die Explosion ein wenig stärker.
„Besser?", fragte Rothen.
„Nicht signifikant. Selbst Agamotten würden mehr Schaden anrichten."
Neben ihm kicherte Farand.
Rothen runzelte die Stirn. „Du schreibst das doch nicht etwa auf?"
„Natürlich, Mylord", erwiderte sein Novize ernsthaft. „Wenn ich das Protokoll später fertig schreibe, wird es mir helfen, mich zu erinnern."
„Dann mach weiter."
Kopfschüttelnd warf Rothen die nächststärkere Phiole. Doch erst nachdem die Hälfte der ersten Versuchsreihe abgearbeitet war, meldeten Akkarin und Sonea, dass der Magieverlust in ihrem Schild spürbar wurde. Als Rothen die neunte Phiole warf, rasten hellrote Flammen über den Schild seiner Probanden. Er glaubte, das Energiefeld darunter flackern zu sehen. Sonea wirkte eindeutig besorgt.
„Wie stark?", fragte er.
„Euer Schildsenker hat die Hälfte der Magie aufgebraucht, die ich in den Schild gegeben hatte", antwortete Akkarin.
„Hat er noch dieselbe Stärke wie zu Beginn der Versuchsreihe?"
Der schwarze Magier nickte.
„Dann verdoppelt ihn für die nächste Phiole lieber", riet Rothen. „Es könnte stärker als beabsichtigt geworden sein."
Bei seiner Herstellung hatte Farand versehentlich mehr weißen Phosphor als geplant genommen. Im Unterricht hätte Rothen ihn das Experiment wiederholen lassen, da solche Fehler verhängnisvoll sein konnten.
Auf Akkarins Zeichen warf Rothen die letzte Phiole aus der ersten Versuchsreihe. Die Chemikalien entfalteten eine Wirkung, die den kompletten Schild in Feuer hüllte. Die Stille auf den Zuschauerrängen war absolut. Auch Rothen hielt den Atem an und hoffte, Akkarins Schild würde halten. Ein leerer Schild wäre in dieser Hinsicht besser gewesen. Dieser hätte jedoch den Nachteil gehabt, dass es länger brauchte, ihn anzupassen – in Bezug auf diese Tests möglicherweise zu lange. Er versuchte sich damit zu beruhigen, dass Sonea und Akkarin einen Schild schneller aus dem Nichts errichten konnten, als Rothen es je bei einem anderen Krieger gesehen hatte. Sollte die Phiole stärker als gedacht sein, würden sie das rechtzeitig kompensieren können.
Nach einigen bangen Augenblicken erloschen die Flammen und gaben den Blick auf die beiden schwarzen Magier frei. Akkarin hatte seine Arme schützend um Sonea gelegt, die verstört wirkte. Die Zuschauer applaudierten.
Rothen seufzte entnervt. Er hatte nicht beabsichtigt, aus ernsthafter Wissenschaft ein derart buntes Spektakel zu machen.
Seine beiden Probanden kehrten zu ihm zurück. Zu Rothens Erleichterung schien Sonea sich von dem Schrecken wieder erholt zu haben.
„Hat Euer Schild gehalten oder musstet Ihr zusätzlich Energie hineingeben?", fragte er.
„Der Schild war kurz davor, sich aufzulösen. Zusätzliche Energie war bei dieser Demonstration jedoch nicht notwendig." Akkarin wirkte zufrieden. „Allerdings würde ich einen derart starken Schild nicht in einem Zweikampf verwenden. Gegen zwei oder drei schwarze Magier wäre er indes angemessen."
„Also wäre Phiole zehn die Phiole Eurer Wahl?"
„Absolut. Zumal die erwartete psychologische Wirkung auf die Sachakaner nicht zu ignorieren ist."
Sonea lachte. „Wahrscheinlich werden sie in Panik geraten. Sie werden nicht damit rechnen, dass wir sie mit Alchemie angreifen."
Farand sah auf. „Das ist gewissermaßen meine Kreation", erklärte er strahlend. „Ich fühle mich geehrt, dass sie euch gefällt."
„Dann werden die Sachakaner dich bald mehr fürchten, als mich und Lord Akkarin", erwiderte Sonea erheitert.
„Das würde bedeuten, dass wir nicht mehr gebraucht werden", bemerkte Akkarin. Doch auch er wirkte amüsiert.
Rothen war erfreut. Er hatte nicht mit einem derart positiven Resultat gerechnet.
„Was ist mit den Versuchen acht und neun?", fragte er. „Fandet Ihr sie zu schwach?"
„Ja", antwortete Akkarin. „Sie haben meinen Schild zwar geschwächt, jedoch nicht genug um ihn durch einen unmittelbar darauffolgenden Angriff so weit zu senken, dass ich ihn nicht rechtzeitig wiedererrichten könnte. Mit der letzten Phiole würde der Schild eines durchschnittlichen sachakanischen Magiers vermutlich für einen kurzen Augenblick zusammenbrechen und ihn verwundbar machen."
„Ich verstehe." Rothen hätte eher zur vorletzten Phiole gegriffen, weil ihm die letzte selbst für den Kampf gegen Sachakaner übertrieben stark erschienen war. Wenn der Gegner zu früh starb, würden die Folgen seines Todes verheerender sein als der Schaden, den die stärkste Phiole anrichtete. Aber Rothen war kein Krieger und besaß so gut wie keine Erfahrung im Kampf gegen schwarze Magier. Mit einem Mal wurde ihm bewusst, dass er ihre Stärke die ganze Zeit unterschätzt hatte.
„Seid Ihr bereit für die zweite Versuchsreihe?", fragte er seine beiden Probanden. „Bei dieser werden die Substanzen in den Phiolen Eurem Schild Energie entziehen."
Akkarin und Sonea nickten. Sie gingen zurück zu der Stelle, wo sie während der ersten Versuchsreihe gestanden hatten, und die zweite Runde begann. Die ersten Phiolen hatten wie die Schildsenker mit den Flammen nur wenig Effekt. Ein kleiner weißer Nebelfleck war alles, was Rothen bis zur dritten Phiole beobachten konnte. Die Wirkung steigerte sich nur langsam mit jedem stärkeren Schildsenker, bis Rothen sich zu fragen begann, ob die Substanzen dieser Testreihe überhaupt effektiv mit einem magischen Schild reagierten. Erst bei der neunten Phiole breitete sich der Nebel über eine größere Fläche auf der Vorderseite des Schildes aus, als der Inhalt der Phiole mit dem Schild reagierte und dieser an Energie verlor. Der zehnten Phiole gelang es sogar, die komplette Vorderseite des Schildes zu schwächen. Genug Fläche für einen Angriff, befand Rothen.
Als Nächstes folgten die beiden Versuchsreihen, deren Substanzen aus zwei Komponenten bestanden, die erst miteinander reagieren durften, wenn sie auf den Schild trafen. Gespannt verfolgte Rothen, wie die Phiolen am Schild der beiden schwarzen Magier zerbrachen. Bei den mechanischen Schildsenkern war während der ersten Phiolen die Deformierung des Schildes mit bloßem Auge nicht zu erkennen. Erst ab der fünften Phiole konnte Rothen einen Effekt erkennen. Umso gespannter war er daher, als er die letzte Phiole dieser Versuchsreihe warf.
Der Schild von Akkarin und Sonea verformte sich, als würde er von einer riesigen unsichtbaren Faust getroffen und dehnte die Oberfläche an der Aufschlagstelle, bis Rothen glaubte, sie würde zerreißen. Der Effekt erinnerte ihn ein wenig an einen gewaltigen Kraftschlag.
Durch die Reihen der Zuschauer ging ein leises „Oh". Akkarin hob überrascht die Augenbrauen, während Soneas Augen sich für einen kurzen Moment weiteten. Dann grinste sie zu Rothens Erleichterung.
Die Versuchsreihe, deren Ergebnis Rothen indes mit der größten Spannung entgegensah, hatte er sich für zuletzt aufgehoben. Die Idee war von Lord Sarrin gekommen. An ihrer Entwicklung hatte Rothen beinahe so viel Freude wie an der Versuchsreihe mit den Feuereffekten gehabt.
Die Effekte der schwächeren Phiolen waren hier deutlicher sichtbar als bei den ersten drei Versuchsreihen, was weniger an ihrer Stärke als an der Art ihre Reaktion lag, wusste Rothen. Bereits die erste Phiole erzeugte ein flackerndes Leuchten dort, wo sie zerbrochen war. Bei der zweiten wurde das Leuten heller. Als die dritte Phiole am Schild von Rothens beiden Probanden zerbrach, ging ein leises Raunen durch die Magier und Novizen auf der Tribüne. Aus dem diffusen Leuchten waren kleine Blitze geworden, als die beiden Substanzen mit dem Schild reagierten und ein Teil seiner Energie sich in die Umgebung entlud. Mit jeder Phiole wurden die Blitze größer und breiteten sich aus, bis schließlich kaskadenartige Entladungen über den ganzen Schild jagten und die Gesichter der beiden Probanden in unheilvoll flackerndes Licht getaucht wurden. Fasziniert und voll Ehrfurcht, sah Rothen zu, bis nur noch winzige Funken von der Entladung übrig waren.
Die Zuschauer jubelten. Rothen gestattete sich, aufzuatmen. Für einen gewöhnlichen Magier wären die letzten Phiolen dieser Versuchsreihe vermutlich verheerend gewesen. Aber der Effekt war überwältigend gewesen.
„Ihr solltet die stärksten Mixturen aus Versuchsreihe zwei, drei und vier ähnlich stark dem von Farand kreierten Schildsenker machen", sagte Akkarin, als er und Sonea zu ihm zurückkehrten. „Wenn wir mit Phiolen unterschiedlicher Effekte angreifen, erschweren wir es dem Gegner, sich darauf einzustellen."
Womit die Gilde den Überraschungseffekt auf ihrer Seite hätte. „Farand und ich werden etwas Entsprechendes herstellen", sagte Rothen. „Wenn es Euch recht ist, wiederholen wir das hier in einer Woche und testen die Resultate."
„Eine gute Idee."
„Bitte gebt mir ein Protokoll über Eure eigenen Beobachtungen während der Tests und des ungefähren Magieverlusts Eures Schildes je Phiole", sagte Rothen.
Der schwarze Magier nickte. „Ihr werdet es morgen erhalten."
Da es nichts mehr zu sehen gab, leerte sich die Tribüne. Die höheren Magier verließen das Portal und betraten die Kampffläche. Garrels Neffe grinste. Selbst Lord Peakin, der neuen Forschungsprojekten oft kritisch gegenüberstand, wirkte beeindruckt.
„Meinen Glückwunsch, Lord Rothen!", dröhnte Balkan. „Ihr habt ausgezeichnete Arbeit geleistet."
„Vielen Dank, Hoher Lord", erwiderte Rothen.
„Mit diesen Waffen werden wir die Sachakaner das Fürchten lehren", fügte Lord Garrel hinzu.
Sein Neffe trat zu Sonea. „Und hattest du Angst?", feixte er.
„Nicht so viel, wie du gehabt hättest, hättest du hier unten gestanden", gab sie kühl zurück.
Rothen kicherte. Er hätte zu gern Regins Gesicht gesehen, hätte er neben den beiden schwarzen Magiern unter dem Schild gestanden. Wie sein Onkel war er nur mit seinen Worten mutig.
„Lord Rothen, was sind die genauen Ergebnisse Eurer Versuche?", fragte Peakin.
In wenigen Worten fasste Rothen seine Resultate zusammen. „Von drei Versuchsreihen werden Farand und ich noch stärkere Mixturen herstellen", schloss er. „Nächste Woche werden wir sie testen. Wenn sie ähnlich stark sind, wie Phiole zehn aus der ersten Versuchsreihe, können wir danach mit der Massenherstellung beginnen. Und dann werden wir hoffentlich in der Lage sein, die Sachakaner so weit zu schwächen, dass es möglich sein sollte, sie mit Magie zu besiegen."
Die höheren Magier schienen zufrieden. Die erwartete Freude darüber blieb dennoch aus. Denn mit einem Mal begriff Rothen, wie viel Verantwortung auf seinen Schultern lastete.
„Sonea, hast du dir dein Vorhaben auch gut überlegt?"
Sonea hielt inne und wandte sich zu Akkarin. Dachte er wirklich, sie plane etwas Törichtes?
„Da gibt es nichts zu überlegen", antwortete sie hart. „Angesichts der Situation ist es das Beste."
Er musterte sie nachdenklich. „Natürlich", sagte er dann trocken. „Jede andere Entscheidung würde die Frage aufwerfen, ob du immer noch du selbst bist."
Sie lächelte grimmig und klopfte an die Tür, vor der sie standen.
„Herein!"
Die Tür schwang auf und sie traten in das geräumige Büro im ersten Stock des Heilerquartiers. Sonea verneigte sich vor Lady Vinara, die in einem Sessel saß und eine Mappe studierte. Als die Heilerin sie erblickte, runzelte sie die Stirn.
„Lord Akkarin, Sonea", sagte sie überrascht. „Was kann ich für Euch tun?"
„Sonea hat Euch etwas mitzuteilen", antwortete Akkarin, eine Hand zwischen ihre Schulterblätter gelegt. Für Sonea bedeutete das so viel wie, dass er in dieser Situation nichts anderes als ihr Mentor war.
Das Oberhaupt der Heiler musterte sie mit kritischem Blick. „Ich nehme an, es ist nicht von persönlicher Natur."
„Nein."
Lady Vinara schloss die Mappe und erhob sich. Sie ging zu einem Regal, zog eine Schublade heraus und steckte die Mappe in ein Fach, das mit mehreren anderen Mappen gefüllt war. Dann wandte sie sich ihnen zu.
„Bitte setzt Euch", forderte sie Akkarin und Sonea auf und wies auf zwei freie Sessel.
Sie setzten sich. Sonea verspürte eine leise Nervosität, ob der Reaktion der Heilerin auf das, was sie ihr zu sagen hatte. Sie wusste, das war albern. Lady Vinara würde Verständnis für ihre Situation haben, sie würde Sonea nicht verurteilen.
„Also, Sonea." Das Oberhaupt der Heiler betrachtete sie streng. „Worum geht es?"
Sonea widerstand dem Drang, einen Blick zu Akkarin zu werfen. Sie wollte nicht den Eindruck erwecken, sie wäre sich ihrer Sache unsicher. Sie holte tief Luft und straffte ihre Schultern.
„Zunächst möchte ich Euch danken", begann sie. „Der Unterricht bei Euch ist sehr interessant und lehrreich. Es bereitet mir sehr viel Freunde von Euch unterrichtet zu werden und ich weiß zu schätzen, dass Ihr Euch die Zeit nehmt, mich Dinge zu lehren, die nicht auf meinem Lehrplan stehen."
„Danke." Lady Vinara schien aufrichtig erfreut. Dann wurde sie wieder ernst. „Aber das ist nicht der Grund deines Besuchs, richtig?"
Sonea schüttelte den Kopf.
„Nein, Mylady." Sie sah auf ihre Hände, die sie in ihrem Schoß gefaltet hatte. „Es geht darum, dass ich mich entschieden habe, nur noch die für einen Grundkurs vorgesehenen Wochenstunden bei Euch zu absolvieren. Ich möchte nicht undankbar erscheinen, aber ich kann das jetzt, wo wir uns offiziell im Krieg mit den Sachakanern befinden, nicht mehr verantworten. Sicher habt Ihr bereits einen Lehrplan für dieses Halbjahr ausgearbeitet und ich möchte mich entschuldigen, wenn Eure Arbeit vergebens war. Aber ich sehe es als meine Pflicht, Lord Akkarin bei seiner Forschung nach allen Kräften zu unterstützen. Ich kann die Menschen nicht ruhigen Gewissens heilen, wenn da draußen eine sehr viel größere Gefahr für sie lauert."
Eine Weile herrschte Schweigen. Lady Vinara betrachtete sie, die Lippen zu einer dünnen Linie zusammengepresst.
Hoffentlich ist sie nicht verärgert, dachte Sonea. Oder noch schlimmer: Was, wenn sie jetzt enttäuscht von mir ist? Sie hatte sich dafür entschieden, ihrer Lehrerin diese Entscheidung persönlich mitzuteilen, also musste sie mit ihrer Reaktion leben. Hätte Lady Vinara von Akkarin oder Rektor Jerrik davon erfahren, hätte Sonea sich davor gefürchtet, ihr bei ihrer nächsten Stunde unter die Augen zu treten.
„Ich kann nicht sagen, dass ich deine Entscheidung in Bezug auf das, was du im Heilerquartier leisten kannst, begrüße", sagte das Oberhaupt der Heiler schließlich. „Angesichts der Umstände erscheint es mir jedoch als das Vernünftigste." Sie bedachte Akkarin mit einem vielsagenden Blick. „Tatsächlich habe ich seit vorgestern Nacht bereits damit gerechnet."
Nur nicht damit, dass ich diese Entscheidung treffe, übersetzte Sonea die Worte ihrer Lehrerin. Obwohl ihr missfiel, dass Lady Vinara ihren Mentor noch immer für ein Ungeheuer hielt, verspürte sie eine ungeahnte Erleichterung, weil Lady Vinara ihre Entscheidung so gut aufnahm.
„Ich bin froh, dass Ihr das so seht, Mylady", sagte sie. Sie verzichtete nur ungern auf drei Doppelstunden Heilkunst pro Woche. Sie hatte so hart gearbeitet, damit sie diese wieder erhalten durfte! Neben der Vorbereitung auf die Sachakaner war dies der Hauptgrund gewesen, um den von Akkarin geforderten Ansprüchen in Strategie gerecht zu werden.
Aber jetzt befanden sie sich jetzt im Krieg. Sonea hatte eine Verantwortung zu tragen. Wenn sie dieser nur dann gerecht werden konnte, indem sie auf eine ihrer Lieblingsbeschäftigungen verzichtete, dann nahm sie dieses Opfer bereitwillig auf sich.
„Sonea."
Sie hob den Kopf und begegnete dem Blick der anderen Frau.
„Du sollst wissen, dass ich immer bereit sein werde, dich zu unterrichten, sofern es deine Zeit und deine Noten erlauben." In den Worten der Heilerin schwang eine Spur von Loyalität mit, die Sonea erschaudern ließ. „Selbst nach deiner Ausbildung."
„Vielen Dank, Lady Vinara", erwiderte sie erfreut.
„Ihr solltet dabei nicht vergessen, dass Sonea keine Heilerin werden wird." Akkarins Stimme war leise, aber erfüllt von einer unterschwelligen Warnung.
„Lord Akkarin, das ist mir bewusst", entgegnete Lady Vinara kühl. Wo andere eingeschüchtert reagiert hätten, blieb sie erstaunlich selbstbewusst, wie Sonea mit einiger Bewunderung feststellte. „Allerdings sehe ich Sonea eher als schwarze Magierin denn als Kriegerin. So wie ich das verstehe, kann sie dies mit jeder Disziplin verbinden. Sie hat die Kriegskunst als Disziplin gewählt, weil es die Umstände erforderten. Doch sie kann mit ihrem Potential sowohl in der Heilkunst als auch in der Alchemie neue Wege beschreiten."
„Das sehe ich ebenso", erwiderte Akkarin glatt. „Trotzdem solltet Ihr davon absehen, Sonea Ideen in den Kopf zu setzen, die sich während ihrer Ausbildung und im Hinblick auf die momentane Situation nicht realisieren lassen. Nach ihrem Studium steht es ihr hingegen frei, ihre Freizeit so zu verbringen, wie es ihr beliebt."
Lady Vinara nickte. Ihrer sauertöpfischen Miene nach zu urteilen, verkniff sie sich eine passende Erwiderung. Sonea unterdrückte ein Grinsen. Akkarin ließ sich keine Vorschriften bezüglich seiner Aufgaben als Mentor machen, wenn auch die höheren Magier das allenthalben versuchten.
„An welchem Tag wünscht Ihr, dass ich Sonea unterrichte?", fragte das Oberhaupt der Heiler.
„Am Vierttag. Es ist der einzige Tag, an dem ihr anschließender Unterricht in Kriegskunst in der Arena stattfindet. An den übrigen Tagen wäre es hingegen bequemer, ihre Stunden in Kriegskunst auf nach der Mittagspause zu verlegen, was im Hinblick auf unsere Forschung effektiver wäre."
„In Ordnung", sagte Lady Vinara. „Also ab morgen?"
„Ja." Akkarin sah zu Sonea. „Gibt es noch etwas, das du ansprechen möchtest?"
Sie schüttelte den Kopf. „Nein, Lord Akkarin."
Akkarin nickte kaum merklich. „Ich wünsche noch einen angenehmen Tag, Lady Vinara", sagte er und erhob sich.
„Ich Euch und Sonea auch", erwiderte die Heilerin.
Sie verließen das Heilerquartier und passierten die Gebäude der Universität. Ein paar Novizen, die auf dem Rückweg ins Novizenquartier waren, kamen ihnen entgegen. Trotz des über Nacht gefallenen Schnees veranstalteten sie keine Schneeballschlacht.
Anscheinend sind sie noch zu geschockt von der Gildenversammlung, fuhr es Sonea durch den Kopf. Tatsächlich erging es ihr nicht viel anders, wenn auch sie dank Akkarin mehr von den Geschehnissen mitbekam als die übrigen Novizen.
Sie betraten den Waldweg, der zur Arran-Residenz führte. Die einsetzende Dämmerung vertiefte die Schatten zwischen den Bäumen. Ohne die Sonne wirkte der Schnee hier wie nur eine hellere Version eines gleichförmig grauen Himmels.
Sonea konnte nicht beschreiben, was sie empfand. Sie hatte gerade etwas, das ihr Freude bereitete, für etwas aufgegeben, dessen Bedeutung alles andere in den Schatten stellte. Es war nicht das erste Mal, das sie so gehandelt hatte. Aber dieses Mal fühlte es sich sehr viel endgültiger an, als bei der Wahl ihrer Disziplin oder als sie sich entschieden hatte, schwarze Magie zu erlernen. Doch die Umstände waren heute andere. Sie war aufgewühlt, doch sie wusste sie hatte das Richtige getan.
„Danke, dass Ihr mitgekommen seid", sagte sie.
„Ich habe nur meine Pflicht getan", erwiderte Akkarin. „Du hättest meiner Anwesenheit nicht bedurft."
„Das wäre, als hätte ich es hinter Eurem Rücken getan." Sonea zweifelte nicht daran, dass sie Lady Vinara ihr Anliegen auch ohne sein Beisein schonend beigebracht hätte. Doch Akkarin war nichtsdestotrotz ihr Mentor.
„Sonea, du bist erwachsen. Du kannst deine Entscheidungen für dich treffen. Ich erwarte nur, dass du mich davon in Kenntnis setzt."
Sie nickte. „Selbst dann hätte ich es nur mit Eurer Erlaubnis getan."
Akkarin blieb stehen und wandte sich ihr zu. Er fasste sanft ihr Kinn und hob es, bis sie ihn ansah. Sonea erschauderte. Wie kam es, dass es sich selbst jetzt wo sie nur Mentor und Novizin waren, so intim anfühlte?
„Das versteht sich von selbst", sagte er. Eine Weile betrachtete er sie nachdenklich. „Sonea, ich habe dir das nie gesagt", fuhr er schließlich fort. „Doch ich finde, du solltest es wissen. Ich wollte nie einen Novizen. Als ich dich gewählt habe, tat ich es, weil ich keine andere Wahl hatte, aber ich habe das keinen Moment bereut. Du bist eine gute Novizin. Selbst, wenn man die Umstände, die dir das erschweren, unberücksichtigt lässt."
Sonea starrte ihn überrascht an. Sie wusste, er sagte das nicht, weil er sie liebte. Er sagte es, weil es die Wahrheit war. Sie hatte indes nie damit gerechnet, dass er ihr bei diesem Thema so viel Offenheit entgegenbringen würde.
„Ich dachte immer, ich wäre ungehorsam, rebellisch und würde Euch nur Ärger machen."
Akkarin lachte leise. „Manchmal bist du das", stimmte er zu. „Aber ich bin bereit darüber hinwegzusehen, wenn mich dein Eigensinn davon abhält, einen folgeschweren Fehler zu begehen."
Sonea lächelte. Auf eine seltsame Weise fühlte sie sich geehrt. „Dann sollte ich mir wohl ein Mindestmaß von Ungehorsam bewahren", bemerkte sie.
Akkarin musterte sie schweigend. Irgendetwas an seinem Gesichtsausdruck ließ Sonea wünschen, ihn jetzt einfach zu küssen. Doch sie hielt sich zurück. Sie fand, dass er zuerst von seiner Rolle als Mentor zu ihrem Geliebten wechseln musste. Ihm dabei zuvorzukommen, wäre ihr respektlos erschienen.
„Dir das auszutreiben wäre gar nicht möglich, ohne dabei irreparablen Schaden anzurichten", erwiderte er trocken und ließ von ihr ab. Dabei streifte sein Daumen ihre Wange. Soneas Haut kribbelte, wo er sie berührt hatte.
„Soll mich das jetzt beruhigen?", fragte sie.
Akkarins Mundwinkel zuckten. Er streckte eine Hand nach ihr aus.
„Das bleibt dir überlassen."
Erst als die Sonne hinter den Horizont gesunken war, ließ Asara ihr Pferd in einen gemächlichen Trab fallen. Sie wies auf eine Gruppe Dornbeersträucher.
„Dort werden wir heute Nacht lagern."
Wurde auch langsam Zeit, dachte Dannyl. Seit Sonnenaufgang waren sie in einem raschen Tempo abseits der Straßen durch die um diese Jahreszeit karge Landschaft, die als die Fruchtbaren Regionen Sachakas bezeichnet wurde, gen Westen geritten. Sie hatten keine einzige Pause eingelegt. Asara war vorausgeritten und hatte jeden Versuch einer Unterhaltung unterbunden. Dannyl war das nur recht gewesen. Er hatte die Zeit gebraucht, um wieder zu sich zu finden und die Ereignisse der vergangenen Tage mit Abstand zu rekapitulieren.
Als sie die Dornbeersträucher erreichten, zügelte Asara ihr Pferd und saß ab. Mit einem unterdrückten Stöhnen tat Dannyl es ihr nach. Es tat unendlich gut, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Nach diesem Gewaltritt schien jeder Muskel in seinem Körper zu schmerzen und er griff nach seiner Magie, um sich zu heilen.
Asara hatte ihr Pferd in eine Lücke zwischen den Sträuchern geführt. „Wo bleibt Ihr?", rief sie. Es klang leicht ungehalten.
„Ich komme", antwortete Dannyl und beeilte sich ihr zu folgen.
Zwischen den Dornbeersträuchern befand sich eine freie Fläche, die gerade genug Platz für zwei Menschen und zwei Pferde bot. Auf dem Boden wuchs vertrocknetes Gras in Büscheln.
„Sattelt Euer Pferd nicht ab", sagte Asara. „So sind wir schneller, sollten wir gezwungen sein, rasch aufzubrechen."
Dannyl zuckte unwillkürlich zusammen. „Werden wir verfolgt?", fragte er. Den ganzen Tag über hatte er keine Spur von Verfolgern gesehen und er bezweifelte, dass die Sachakaner etwas von ihrer abenteuerlichen Flucht mitbekommen hatten.
Sie betrachtete ihn, als sei er nicht mehr ganz bei Verstand. „Ihr habt Euch mit dem König angelegt. Das bleibt nicht ungestraft. Wenn sie Euch nicht in der Stadt finden, werden sie irgendwann darauf kommen, dass Ihr nicht mehr dort seid."
„Kito und ich haben nur eine Audienz erbeten, um mit ihm eine diplomatische Lösung für die gegenwärtige Krise zu finden", sagte Dannyl. „Wir haben uns völlig korrekt verhalten."
„Dannyl", sagte sie sanft. „In dem Moment, in dem Marika erfuhr, dass Eure Leute einen seiner Ashaki getötet haben, wurde jede Diplomatie hinfällig. Ihr konntet das nicht wissen. Es war nicht Eure Schuld."
„Die Hinrichtung von Marikas Ashaki war doch nur ein Vorwand, um der Gilde den Krieg zu erklären."
„Ja und nein." Asaras Blick wurde mitfühlend. „Sagen wir, er hat nur noch einen Grund gesucht, es offiziell zu machen."
Dannyl betrachtete sie zweifelnd. Es fiel ihm schwer, die sachakanische Denkweise zu verstehen, sie unterschied sich so sehr von jener der zivilisierten Völker der Verbündeten Länder. Nur langsam kam er dahinter, warum Marika in Ikaros Tod eine Rechtfertigung zum Krieg sah, es jedoch nicht als Provokation seinerseits betrachtete, dass seine Leute die kyralische Grenze ausspioniert hatten. Die Sachakaner betrachteten Kyralia auch nach fast eintausend Jahren noch immer als ihr Eigen und glaubten, mit diesem Land und seinen Bewohnern zu verfahren zu dürfen, wie es ihnen beliebte.
Asara hatte ihn derweil nachdenklich gemustert. „Bereitet schon einmal das Lager vor", wies sie ihn an. „Ich werde mich um die nötigen Schutzvorkehrungen kümmern. Dann werden wir heute Nacht unbehelligt sein."
Dannyl nickte nur und holte ihren Proviant von den Pferden. Er stellte Brot, Pökelfleisch und mehrere exotische Früchte, die er von seinem Rundgang über den Markt in Arvice kannte, bereit. Er fand sogar einen Weinschlauch und zwei Decken, die er zwischen den Dornbeersträuchern ausbreitete.
Als ein helles Lachen hinter ihm erklang, zuckte er zusammen.
Dannyl fuhr herum. Asara stand wenige Schritt vor ihm und betrachtete ihn mit offenkundiger Erheiterung.
„Sind alle kyralischen Männer so gefügig?"
Dannyl blinzelte verwirrt, während er versuchte, von ihren Worten nicht gekränkt zu sein. „Ich stimme nur mit Eurer vorgeschlagenen Aufteilung der Arbeit überein", erwiderte er. Er hatte das unbestimmte Gefühl, dass der Schild, den Asara um das Lager errichtet hatte, besser als sein eigener war. Da war es nur sinnvoll, wenn er sich um ihr leibliches Wohl kümmerte.
Sie lachte erneut. „Ihr seid wirklich interessant, Dannyl Gildenmagier", bemerkte sie und ließ ihre Augen anerkennend über seinen Körper wandern.
Wundervoll, dachte Dannyl voll Unbehagen. Hoffentlich kommt sie nicht auf die Idee, mich zu verführen. Gegen eine schwarze Magierin würde er kaum eine Chance haben, wenn sie es darauf anlegte. Ob es helfen würde, ihr gegenüber so aufzutreten, dass sie ihn nicht für den schwachen Kyralier hielt?
Asara ließ sich auf einer der Decken nieder und kreuzte die Beine. „Setzt Euch", forderte sie ihn auf. „Ihr solltet etwas essen."
Noch immer ein leises Unbehagen verspürend setzte Dannyl sich ihr gegenüber. Er brach ein Stück von dem Brot ab und wählte eine der exotischen Früchte.
„Ich will Antworten", sagte er.
„Und ich habe versprochen, sie Euch zu geben." Asara griff ebenfalls nach einer Frucht und biss hinein. „Was wollt Ihr wissen, Dannyl Gildenmagier?"
„Wer Ihr seid. Wieso Ihr mich gerettet habt und wieso Ihr frei seid." Die einzigen freien Frauen in diesem Land waren Ichani. Aber welches Interesse sollten Ichani daran haben, ihn sicher nach Hause zu bringen?
„Ich werde mit Eurer zweiten Frage beginnen, Sie erscheint mir am einfachsten zu beantworten." Asara nahm einen zweiten Bissen von ihrer Frucht. „Ich habe Euch gerettet, weil eine Freundin mich darum gebeten hat. Sie steht mit Akkarin, Eurem früheren Hohen Lord in Verbindung. Er hat sie beauftragt, Eure Rettung zu organisieren. Sie selbst hätte noch drei Wochen gebraucht, um Arvice zu erreichen. Ich bin jedoch in der Stadt stationiert."
Sie brauchte keine Details zu nennen. Dannyl wusste auch so, wie sie kommuniziert hatten. Die Beunruhigung, die er aufgrund dessen verspüren sollte, blieb indes aus. Ohne die Existenz dieser Blutjuwelen wäre er möglicherweise nicht mehr am Leben.
Asara lächelte versonnen. „Eigentlich ist es nicht unsere Aufgabe, Männer aus Notsituationen zu retten. Aber ihr Gildenmagier seid fast so hilflos wie Sklaven oder sachakanische Ehefrauen. Nehmt es mir nicht übel, doch ohne höhere Magie ist auch der stärkste Gildenmagier schwach."
Sie ist ziemlich direkt, bemerkte Dannyl. Bei ihrem Maß an Selbstsicherheit und der Macht, über die sie gebot, war das indes nicht verwunderlich.
„Von Eurem Standpunkt aus betrachtet, ist das sicher richtig", sagte er.
Sie lachte erneut. „Ihr habt wirklich ein Talent für Euren Beruf. Zu schade, dass Ihr bei Marika nichts ausrichten konntet."
„Danke", murmelte Dannyl verdrossen. Wenigstens schien sie ihn nicht für einen kompletten Versager zu halten. Denn das wäre das Letzte gewesen, was er nach seiner Niederlage in Arvice gebrauchen konnte. Auch wenn er die während seiner Novizenzeit erfahrenen Schmähungen inzwischen verwunden hatte, wurden seine Erinnerungen daran jedes Mal aufgefrischt, sobald ihn jemand herablassend behandelte. Damals hatte er so ziemlich jeden Menschen, der ihm nahestand, enttäuscht. Sogar seinen eigenen Vater.
Zu seiner Erleichterung schien Asara jedoch kein Interesse daran zu haben, ihn zu kränken. „Marika ist nicht gerade für seine Diplomatie bekannt", fuhr sie fort. „Aber das ist ein typischer Charakterzug sachakanischer Männer, was einer der Gründe ist, warum er das Land nur durch die Aussicht auf Krieg vereinen kann."
Dannyl nickte und bediente sich an den Früchten. „Dieser Divako, aus dessen Haus Ihr mich gerettet habt", begann er. „Ihr sagtet, er wäre einer von Marikas Beratern. Was wisst Ihr über ihn?"
„Divako ist Marikas Finanzmeister. Er berät den König bezüglich der Steuern, die dieser von seinen Ashaki eintreibt, und wichtiger Investitionen. Momentan hat er wahrscheinlich alle Hände voll zu tun, um eine Finanzierung für Marikas Kriegspläne zu finden."
Also war Divako ein wichtiger Mann in Arvice. „Habt Ihr ihn getötet?", fragte Dannyl.
Asara schüttelte den Kopf und ihre Miene wurde stur. „Wir mischen uns nicht ein."
„Wer ist wir?", verlangte Dannyl zu wissen. „Gehört Ihr einer Gruppe an?"
Asara streckte sich auf ihrer Decke aus. „Das ist richtig", antwortete sie, „ich gehöre einer Gruppe an, die im Verborgenen arbeitet. Wir nennen uns Die Verräter. Die meisten von uns leben an einem geheimen Ort in den Bergen, doch wir haben überall im Land Leute. Es gab uns schon vor dem letzten Krieg zwischen Kyralia und Sachaka."
„Was ist Eure Aufgabe?"
„Wir sind Frauen, die anderen Frauen helfen. Aber wir beobachten auch die politischen Ereignisse im Land. Manche von uns sind Sklavinnen, andere sind frei, was für uns jedoch keinen Unterschied macht. Die Frauen, die zu uns kommen, wurden von ihren Meistern oder Ehemännern sehr schlecht behandelt. Bei uns haben sie die Chance auf ein besseres Leben."
Dannyl war fasziniert. In Sachaka hatte er etwas, das so gut war, nicht erwartet. Aber wahrscheinlich existierten sie genau aus diesem Grund, überlegte er dann. Bei genauerem Betrachten fand er es jedoch nicht verwunderlich, dass bestimmte die Unterdrückten gegen die Tyrannei rebellierten. „Gebieten alle Mitglieder Eurer Gruppe über schwarze … das heißt höhere Magie?", fragte er.
„Die meisten, ja. Aber nicht alle wählen diesen Weg. Manche sind es zufrieden, einfache Arbeiten wie das Nähen von Kleidung oder das Herstellen alltäglicher Gegenstände zu verrichten. Sie dienen uns anderen als magische Quellen. Freiwillig."
„Wie erfährt eine Frau, die von ihrem Mann oder Meister misshandelt wird, von Euch?"
„Ihr stellt viele Fragen, Dannyl Gildenmagier", bemerkte Asara erfreut. „Wie ich vorhin sagte, gehören auch viele Sklaven zu uns. Sie können sehr viel unauffälliger agieren, weil die Ashaki ihnen keine Beachtung schenken. Die Informationen werden mündlich weitergeben, eine von uns tritt unauffällig an die Frau heran, dann wird eine Befreiungsaktion organisiert."
„Steckt Ihr diese Frauen auch in Kisten?"
„Manchmal." Sie betrachtete ihn augenzwinkernd. „Bei unserer Arbeit ist es sehr wichtig, kein Aufsehen zu erregen. Der König und seine Ashaki dulden unsere Aktionen nur sehr bedingt. In Eurem Fall kam noch hinzu, dass Ihr Kyralier seid. Ihr wärt sofort aufgefallen. Jedoch diente die Kiste auch unserem eigenen Schutz. Während wir Mittel und Wege haben, eine Wahrheitslesung zu verhindern, würde Marika aus Euren Gedanken von unserem geheimen Fluchtweg aus der Stadt erfahren, solltet Ihr eines Tages in seine Hände geraten. Ich hoffe, Ihr versteht, dass ich diese Vorkehrung treffen musste. Deswegen war es wichtig, dass Ihr möglichst wenig davon mitbekommt."
Dannyl verstand. Er hatte nur eine vage Vorstellung des Weges, auf dem er aus der Stadt und zu diesem Haus gelangt war, von wo aus sie auf Pferden weiter geritten waren. Er wollte nicht dafür verantwortlich sein, dass die Verräter ihre Arbeit nicht mehr richtig ausführen konnten.
„Ihr sagtet, Eure Arbeit würde nur bedingt geduldet", sagte er. „Wie habt Ihr das gemeint?"
„Wir haben einen Vertrag mit dem König, der besagt, dass wir Befreiungsaktionen in kleinem Rahmen durchführen dürfen, uns aber nicht in politische Angelegenheiten einzumischen haben. Dieser Vertrag existiert seit Jahrhunderten. Er sichert sozusagen unser Überleben." Ein durchtriebenes Lächeln huschte über Asaras Gesicht. „Was ein weiterer Grund ist, warum Eure Rettung so still und heimlich geschehen musste."
Dannyl hob anerkennend die Augenbrauen. „Dann bin ich Euch zu noch größeren Dank verpflichtet, als ich zunächst dachte", erwiderte er. Er wollte niemanden in den Konflikt zwischen Sachaka und Kyralia hineinziehen. Wie auch immer es Akkarin gelungen war, die Verräter zu seiner Rettung hinzuzuziehen, er rechnete ihm und Asara diese Aktion hoch an.
Erheitert winkte sie ab. „Eure Rettung war eine nette Abwechslung zu dem sonst langweiligen Stadtleben."
„Wenn Ihr den Ashaki ihre Frauen und Sklaven stehlt, haben Eure Leute doch sicher viele Feinde", sagte er.
„Oh, wie recht Ihr da habt!" Sie griff nach dem Weinschlauch und trank einen Schluck. „Ihr solltet auch etwas trinken", sagte sie dann und reichte ihm den Schlauch. „Wahrscheinlich seid Ihr Besseres gewohnt, aber für unsere Verhältnisse ist der Wein recht gut."
Dannyl nahm den Weinschlauch entgegen und probierte vorsichtig. Der Wein war ein wenig sauer, aber deutlich besser, als jener, den er in der Herberge in Arvice getrunken hatte.
„Was unsere Feinde betrifft", fuhr Asara fort, als Dannyl ihr den Weinschlauch zurückgab, „ist jeder Ashaki, aber auch jeder Ichani daran interessiert, uns zu vernichten. Selbst der König wünscht sich nichts sehnlicher, als unser Versteck zu finden und auszuräuchern. Doch es ist uns gelungen, uns ihm nützlich zu machen."
„Wie?", fragte Dannyl. Daran, wie Asaras Stimme die Tonlage gewechselt hatte, konnte er erahnen, dass jetzt der weniger erfreuliche Teil kam.
„Ein Teil unserer Magierinnen arbeitet als Söldner." Sie machte eine Pause. „Das ist die andere, die dunkle Seite unseres Vertrags mit dem König."
„Also erledigt Ihr für ihn die Drecksarbeit", folgerte Dannyl. Bei einem Mann wie Marika konnte er sich allzu gut vorstellen, dass er unbequeme Ashaki gerne aus dem Weg schaffen ließ. Seine Vorgänger waren mit Sicherheit nicht anders gewesen.
Asara nickte. „Aber nicht nur für ihn. Es gibt immer einen Ashaki, der den Tod eines anderen wünscht. Manchmal heuern sie uns auch an, weil sie Hilfe bei der Verteidigung ihrer Ländereien gegen die Ichani oder ihre politischen Feinde brauchen. Hin und wieder erledigen wir sogar Aufträge für die Ichani. Wir werden gehasst, aber auch gefürchtet. Trotzdem versuchen wir, unser eigentliches Ziel nicht aus den Augen zu verlieren." In einem Anflug von Abscheu fügte sie hinzu: „Aber einige von uns wurden auf diese Weise auch verdorben und zu Ichani."
Dannyl nickte langsam. Er verstand, warum die Verräter so geworden waren. In einem von Bürgerkrieg und Unruhen geplagten Land mussten auch sie um ihr Überleben kämpfen. Und wenn man erst einmal dabei war, moralische Grundsätze für ein höheres Wohl zu brechen, war es kein weiter Weg mehr, dies auch zu eigenen Zwecken zu tun.
„Also bin ich ein Auftrag", folgerte er.
Sie schüttelte den Kopf. „Nein, das seid Ihr nicht. Wie ich sagte, tue ich diesen Gefallen einer Freundin. Sie ist auch eine von uns. Wie ich möchte sie keinen Krieg zwischen Kyralia und Sachaka."
„Warum seid Ihr gegen einen Krieg?", fragte Dannyl neugierig geworden.
„Weil er, egal wie er ausgehen würde, früher oder später unser Ende bedeuten würde."
Sie brauchte nicht mehr erklären. Würden die Sachakaner gewinnen, so würde das ihnen zu mehr Macht verhelfen, was die Verräter in Gefahr bringen würde. In dem unwahrscheinlichen Fall, dass Kyralia den Sieg davon trug, würde ihre Organisation ihre Existenzgrundlage verlieren, weil die Sklaverei abgeschafft werden würde. Dennoch fand Dannyl diese Sichtweise ein wenig engstirnig. Im Falle eines Sieges der Gilde würden die Verräter die Chance haben, Sachaka zu einem Land zu machen, das ihrem Ideal entsprach. Sahen sie das nicht oder wollten sie das nicht sehen?
„Es ist spät geworden", sagte Asara. „Ihr solltet Euch ausruhen. Die nächsten Tage werden genauso anstrengend wie der heutige. Ich werde Wache halten."
„Wann soll ich Euch ablösen?"
„Schlaft", sagte sie. „Sollte ich Eure Hilfe brauchen, werde ich Euch wecken."
Sie ließ keine Widerrede zu, erkannte Dannyl. Ob sie ihn für unfähig hielt, weil er keine höhere Magie beherrschte? Ihre leicht überhebliche Selbstsicherheit und das, was sie ihm an diesem Abend erzählt hatte, ließen jedoch den Schluss zu, dass sie wusste, was sie tat.
Nach den beiden vergangenen Tagen kam Dannyl das jedoch mehr als gelegen. Er wollte nur noch schlafen und sich keine Sorgen machen müssen. Gähnend streckte er sich auf seiner Decke aus und wickelte sich darin ein. „Gute Nacht, Asara", wünschte er.
„Gute Nacht, Dannyl Gildenmagier."
Bevor er einschlief, richtete er seinen Willen auf den Blutring unter seinem Hemd.
- Ich bin in Sicherheit und auf dem Weg zum Südpass.
