Kapitel 42 – Versprechen
Am sechsten Tag seiner Flucht aus Arvice wurde die karge Landschaft allmählich bergiger. Bis jetzt waren es nur flache, von Geröll bedeckte Hügel. Dannyl rechnete indes damit, dass sie spätestens am übernächsten Tag die ersten Vorberge des Stahlgurtgebirges erreichen würden. Von dort aus würde es noch zwei weitere Tage bis zur Grenze sein. Da sie mit minimalem Gepäck reisten und nur wenige Stunden ruhten, kamen sie erstaunlich rasch vorwärts. Obwohl sie noch immer keine Spur von Verfolgern entdeckt hatten, gab Asara ein rasches Tempo vor. Dannyl war das nur recht. Es verlangte ihm danach, dieses Land zu verlassen.
Doch zuvor hatte er noch etwas zu erledigen.
Die Luft über den Steinen flimmerte in der Mittagshitze. Nach dem feinen Nieselregen der vergangenen Tage hatte Dannyl den Sonnenschein willkommen geheißen. Inzwischen verfluchte er ihn jedoch. Am Morgen hatte Dannyl einige kleine Vögel gesehen, doch die Sonne schien jegliches tierische Leben in die spärlichen Schatten zu treiben. Erst, wenn sie im Westen versank, würde die Hitze der eisigen Kälte sachakanischer Nächte weichen.
Nicht zum ersten Mal war Dannyl fasziniert, wie sehr sich das Klima in diesem Land von dem in Kyralia unterschied. Und das alles nur auf Grund einer riesigen Wüste und dem Fehlen einer Bergkette, welche die heiße Luft aus Duna und den Ländern noch weiter im Norden abhält, dachte er.
Asara verlangsamte den Schritt ihres Pferdes, damit Dannyl zu ihr aufschließen konnte.
„Von jetzt an sollten wir wachsam sein", sagte sie. „Wir könnten auf Ichani treffen."
„Wird das ein Problem sein?", fragte Dannyl.
„Das kommt ganz darauf an" Sie wandte sich ihm zu. „Kein Reisender ist so dumm von der Straße abzuweichen. Wir befinden uns abseits des von den Ashaki bewohnten Gebietes. Wenn wir anderen Menschen begegnen, werden das höchstwahrscheinlich Ichani sein. Aber wir können einer Konfrontation vorbeugen. Ich werde mich als eine von ihnen ausgeben. Und Ihr werdet so tun, als wärt Ihr mein Sklave."
„Euer Sklave?", wiederholte Dannyl.
„Ihr habt richtig gehört." Die mandelförmigen Augen wanderten prüfend über seine Erscheinung. „Ihr seid ein Händler, der sich in den Ödländern verlaufen hat. Als Ihr mir begegnet seid, habe ich entschieden, Euch zu behalten, weil ich Euch so attraktiv fand."
Offenkundig musste Dannyl ein entsetztes Gesicht gemacht haben, denn Asara fügte erheitert hinzu: „Ihr habt mein Wort, dass ich nichts tun werde, was Ihr nicht auch wollt."
„Danke", murmelte Dannyl trocken. Asara hätte genügend Gelegenheit gehabt, ihn zu verführen, hätte sie es darauf angelegt. Nichtsdestotrotz erfüllte ihn die Vorstellung, so zu tun als ob mit Unbehagen.
„Glaubt mir, als Kyralier seid Ihr in diesem Land auf diese Weise am sichersten."
Sein Unbehagen beiseiteschiebend nickte Dannyl. Falls sie auf Ichani trafen, die mit Marika verbündet waren, wussten diese vielleicht bereits von seiner Flucht. Trotz Asaras Schutz zog er es vor, nicht als Gildenmagier erkannt zu werden. „Werden die Ichani Euren Täuschungsversuch denn nicht durchschauen?", fragte er.
„Die Ichani leben weit verstreut. Die meisten kennen einander nicht oder sind verfeindet. Begegnungen gehen nicht immer friedlich aus."
„Seid Ihr schon welchen begegnet?"
„Ja." Asara starrte auf den vor ihnen liegenden Hügelkamm. „Aber sie waren keine Bedrohung."
Dannyl erschauderte. Er kannte Asara inzwischen gut genug, um die ihren Worten unterliegende Bedeutung zu verstehen. Aber das bedeutete zugleich, dass für ihn kein Grund bestand, sich zu fürchten.
„Warum haben wir bis jetzt noch keine Anzeichen von Verfolgern gesehen?", fragte er.
„Ich weiß es nicht", antwortete Asara. „Vielleicht hat der König entschieden, Euch entkommen zu lassen, nachdem er seinen Zorn an Eurem Freund ausgelassen und seine Palastgarde Euch nicht in der Stadt gefunden hat." Sie hob die Schultern. „Andererseits hat Marika momentan wichtigere Sorgen, als einen entflohenen Gildenmagier. Sein Palast ist voll mit Ashaki, die er für seine Armee rekrutieren will, er wird die Palastgarde zu seinem Schutz brauchen. Trotzdem sollten wir wachsam bleiben."
Das machte Sinn. Marika hatte seine Verärgerung bereits über die Hinrichtung seines Ashaki durch die Gilde mit Kitos Ermordung kundgetan. Wieso sollte er seine Ressourcen darauf verschwenden, einen Gildenmagier zu verfolgen, der in ein paar Monaten wahrscheinlich im Krieg sterben würde, wenn er diese bei den Verhandlungen mit seinen politischen Gegnern benötigte?
„Wie weit ist es noch bis zum Südpass?", fragte er.
„Noch etwa drei bis vier Tage."
Dannyls Herz machte einen Sprung. Mit einem Mal schien die Zivilisiertheit der Verbündeten Länder wieder in greifbare Nähe gerückt. Trotz all seiner Erleichterung schob er seine Vorfreude jedoch beiseite. Wenn Asara sich auf ihn einließ, würde sein Aufenthalt in Sachaka noch eine unbestimmte Zeit andauern. Dannyl wollte nach Hause. Zu Tayend. Doch als Akkarin ihm erläutert hatte, worum es bei seinem neuen Auftrag ging, hatte er ohne zu zögern zugestimmt.
Und diese Sache war zu wichtig. Sie konnte sogar kriegsentscheidend sein. Bis jetzt hatte Dannyl jedoch damit gewartet, sein Anliegen Asara vorzutragen, da er sie erst besser hatte kennenlernen wollen, um einzuschätzen, wie er sie für sein Vorhaben gewinnen konnte. Die Verräterin war zuweilen recht wortkarg und ihre selbstsichere Art wirkte in Verbindung mit der Macht über die sie gebot einschüchternd. Nicht so, wie Sonea, die warmherzig und kumpelhaft war. Doch da Asara offenkundig kein Interesse daran hatte, ihn zu verführen, hatte er sogar seinen Charme bei ihr spielen lassen, in der Hoffnung, das würde ihm bei seinem Vorhaben helfen.
Als die Schatten länger wurden, entschied er, lange genug gewartet zu haben.
„Asara, ich habe eine Bitte an Euch."
Sie wandte den Kopf und musterte ihn mit ihren mandelförmigen Augen. „Ja?"
„Bringt mich zu Eurem Volk. Ich möchte zu Eurer Anführerin sprechen. Oder noch besser: zu allen."
Asaras Augen verengten sich. „Warum wollt Ihr das?"
„Weil die Gilde die Hilfe der Verräter braucht. Ihr wollt diesen Krieg doch ebenso wenig wie wir."
Ihre Mundwinkel verzogen sich zu einem Ausdruck von Sturheit. „Wir mischen uns nicht ein."
„Dennoch lehnt ihr diesen Krieg ab."
„Richtig. Trotzdem mischen wir uns nicht ein."
„Wenn die Verräter sich nicht einmischen, wird Marika Kyralia und Elyne erobern", sagte Dannyl. „Viele Unschuldige werden sterben oder zu Sklaven. Euer Volk würde gegen die eigenen Prinzipien verstoßen, wenn es das zulässt."
Asaras Augen funkelten. „Indem wir uns in diesen Krieg einmischen, gefährden wir uns selbst und wären niemandem mehr eine Hilfe", sagte sie stur.
„Aber indem Ihr Euch einmischt, würdet Ihr ein großes Unrecht verhindern. Angenommen, mit Eurer Hilfe gelingt es uns, diesen Krieg zu gewinnen, so wäre das ein Neuanfang für Sachaka. Die nichtmagische Bevölkerung würde sehr davon profitieren."
„Es würde keine Sklaverei mehr geben", erinnerte sie. „Sie ist gewissermaßen unsere Lebensgrundlage."
„Es würde Generationen dauern, die Denkweise der Ashaki zu ändern. Selbst wenn Sachaka den Krieg verliert, würde das die Ashaki nicht davon abhalten, ihre Frauen zu misshandeln und ihre Söhne nach ihrem Vorbild zu erziehen. Nicht, wenn sie es seit Jahrhunderten tun. Die Verräter würden sich um diese Frauen kümmern und könnten zugleich Ashaki für ihre Taten zur Rechenschaft ziehen, weil sie das neue Gesetz verkörpern."
Asara dachte über seine Worte nach. Ihre Miene war ungewohnt grimmig.
„Eure Ideen sind es wert, angehört zu werden, Dannyl Gildenmagier", sagte sie schließlich. „Aber rechnet Euch keine allzu großen Chancen aus. Wir überleben seit Hunderten von Jahren auf diese Weise. Die meisten von uns sehen in jeder Veränderung ein Risiko. Ganz besonders, wenn sie den Bruch mit dem Vertrag, den wir mit dem König haben, bedeutet."
Dannyls Herz machte einen Sprung. Asara war zuweilen ein wenig stur, aber sie war auch ein rationaler Mensch. Tatsächlich war es sehr viel einfacher gewesen, sie zu überzeugen, als Dannyl erwartete hatte. Ob sie insgeheim ähnlich denkt?, fragte er sich. Immerhin hatte sie sich bereits eingemischt, als sie ihn aus Arvice gerettet hatte.
„Mein Anliegen vorzutragen ist mir im Augenblick genug", erwiderte Dannyl lächelnd. „Vielen Dank, Meisterin Asara. Ich stehe tief in Eurer Schuld."
Asara betrachtete ihn finster. „Versucht nicht, Euch über mich lustig zu machen. Sonst bringe ich Euch auf der Stelle zur Grenze."
Dannyl verkniff sich ein Grinsen. „Das tue ich nicht. Ich dachte nur, es könne nicht schaden, ein wenig zu üben, falls wir auf Ichani stoßen."
Asara ließ diese Bemerkung unkommentiert. Eine Weile ritten sie schweigend durch die Mittagshitze. Sie überquerten einen Hügelkamm und ritten dann in ein flaches Tal, in dem es ebenso öde und trostlos war, wie überall auf ihrem an diesem Tag zurückgelegten Weg.
„Unsere Gesetze verbieten, dass ein Mann, der über Magie gebietet, unsere Zuflucht betritt", sagte sie plötzlich.
„Hattet Ihr nicht gesagt, dort würden auch Männer leben?", fragte Dannyl.
„Sie sind dort geboren oder kamen als Sklaven zu uns. Sie gebieten nicht über Magie und sie dürfen die Zuflucht niemals verlassen."
Dannyl war nicht überrascht. Auch wenn er die Denkweise der Verräter und diese Art der Benachteiligung der Männer als engstirnig empfand, konnte er sie dafür nicht verurteilen. Aus ihrer Sicht hatten sie damit recht. Sie hatten genug schlechte Erfahrungen mit männlichen Magiern gemacht.
„Und was tun sie stattdessen?"
„Sich nützlich machen. Entweder handwerklich oder als Quelle."
„Nun, für die Nichtmagierinnen Eures Volkes ist das sicher sehr angenehm."
Asara nickte grimmig. „Einige unserer Frauen sehr schlechte Erfahrungen mit den Ashaki gemacht. Sie fürchten Männer, die über Magie gebieten."
„Ich beabsichtige nicht, Eurem Volk zu schaden", versicherte Dannyl.
„Das weiß ich." Sie musterte ihn abschätzend. „Zumal Ihr als Gildenmagier kaum eine Bedrohung für uns darstellt", fügte sie ein wenig spöttisch hinzu.
„Danke", murmelte Dannyl trocken.
Asara lächelte dünn. „Ich riskiere viel, indem ich Euch zu meinem Volk bringe", fuhr sie fort. „Euch sollte bewusst sein, dass ich damit gegen unsere Regeln verstoße. So wie ich es getan habe, indem ich Euch aus Arvice gerettet habe."
„Und dafür bin ich Euch zutiefst dankbar, Asara", erwiderte Dannyl. „Wenn ich jemals die Gelegenheit dazu erhalte, so werde ich mich dafür erkenntlich zeigen."
„Das müsst Ihr nicht, Dannyl Gildenmagier", erwiderte sie sanft. Als sie fortfuhr, war sie wieder ernst. „Da ist etwas, das Ihr wissen solltet."
„Was?"
Ihr Blick begegnete seinem. „Eigentlich würde ich es Euch nicht erzählen, doch wenn Ihr mit meiner Anführerin und meinen Schwestern sprecht, werdet Ihr es früher oder später sowieso erfahren."
Alarmiert wartete Dannyl darauf, dass sie fortfuhr.
„Im vergangenen Jahr, kurz nachdem Eure Gilde Euren Anführer und seine Schülerin nach Sachaka verbannt hatte, erfuhren wir, dass Kariko und seine Anhänger die Invasion Eures Landes planten. Unsere Anführerin sandte Leute aus, um nach Euren beiden höheren Magiern zu suchen. Wir wollten ihnen unsere Hilfe anbieten, um die Ichani zurückzuschlagen."
Das war Dannyl neu. Er war sicher, Akkarin hätte nach seiner Rückkehr davon etwas in seinem Bericht erwähnt.
„Hätte Euer Volk damit nicht die Einmischung ausgeführt, die Ihr so strikt ablehnt?", fragte er.
Asara schwieg. Eine Weile starrte sie mit grimmiger Miene vor sich hin. „Die Verräter hatten kein Interesse daran, dass Kariko Kyralia übernimmt", antwortete sie schließlich. „Tatsächlich hätten wir Marika mit der Vernichtung dieser Ichani-Gruppe sogar einen Gefallen getan."
„Weil sie ihm unbequem waren?"
Sie nickte. „Und weil er nicht will, dass ein Ausgestoßener sich das nimmt, was er selbst begehrt."
Womit sich die Verräter auf einem schmalen Grad zwischen moralisch richtigem und moralisch falschem Handeln bewegten. „Eine Sache verstehe ich trotzdem nicht", sagte er. „Wieso sind Eure Leute weder beim Überfall auf das Fort noch bei der Schlacht von Imardin dabei gewesen?"
„Wir konnten Eure beiden höheren Magier nicht finden. Anfangs gingen wir davon aus, sie wären in die Ödländer hinabgestiegen. Als wir erkannten, dass dies nicht der Fall war, war es bereits zu spät. Die Ichani hatten Euer Fort überfallen und waren auf dem Weg nach Kyralia."
Sie seufzte leise. „Wir hätten so viel Leid verhindern können. Allein das wäre Grund genug, Eurer Gilde zu helfen und den Schaden wiedergutzumachen."
„Aber der Vertrag mit dem König hindert Euch daran."
„Ja." Sie wandte sich ihm zu. „Ich will ehrlich sein, Dannyl. Es gibt kaum etwas Verlockenderes, als dem König und seinen Ashaki den Krieg zu erklären. Doch für mein Volk steht dabei sehr viel auf dem Spiel."
Die Klinge raste direkt auf Sonea zu. Mehr instinktiv als bewusst wich sie zur Seite aus und leitete den Angriff an ihrem Körper vorbei. Den dadurch gewonnenen Schwung nutzend attackierte sie ihren Gegner, der ihren Schlag nur mit Mühe blockte.
Ihre Zuschauer jubelten. Hal fluchte in seiner Muttersprache.
„Los, mach ihn fertig!", rief Regin.
Sonea lächelte grimmig. Obwohl Hal über die größere Körperkraft verfügte, waren sie ebenbürtig. Akkarin hatte sie darauf trainiert, mit Geschicklichkeit und Wendigkeit ihre mangelnde Größe und Kraft auszugleichen. Die anderen Novizen im Kurs hatten ihre Mühe mit Sonea, weil sie gleichgroße Gegner gewohnt waren. Bei ihrer Halbjahresprüfung hatte Sonea deswegen gegen Lord Kerrin antreten müssen. Zu ihrer Überraschung war das Duell unentschieden ausgegangen.
Sonea schwante, der geschwätzige Krieger konnte sie wegen der dabei fast erlittenen Niederlage nicht sonderlich leiden. Wenn er einen Freiwilligen brauchte, um der Klasse eine neue Technik zu demonstrieren, zog er Regin oder Hal vor. Bereits in ihrer ersten Stunde hatte Kerrin ihr indirekt zu verstehen gegeben, was er davon hielt, dass eine Novizin seinen Kurs besuchte. Möglicherweise missfiel ihm auch die Art und Weise, auf die Akkarin sie unterrichtet hatte. Bei jeder Übung ließ er Sonea nur gegen die schwächeren Kursteilnehmer antreten. Nachdem sie wochenlang mit Akkarin trainiert hatte, war das frustrierend und sie fühlte sich unterfordert.
An diesem Tag hatte Kerrin indes beschlossen, ein kleines Turnier mit seinem Kurs zu veranstalten. Sonea und Hal waren dabei ins Finale gekommen. Sonea fand, sie hatte sich in Schwerkampf noch nie so amüsiert. Ohne Akkarins Unterricht wäre sie nie so weit gekommen, weil sie nicht gewusst hätte, wie sie auf die überlegene Stärke ihrer Gegner reagieren sollte. Sie ahnte, hätte sie diesen Kurs von Anfang an bei Lord Kerrin gehabt, wäre sie bereits in der ersten Runde ausgeschieden. Sie bezweifelte, Lord Kerrin hätte ihr gezeigt, wie sie ihre kleine Gestalt zum Vorteil nutzen konnte.
Sonea holte zum nächsten Angriff aus. Hals Schwert prallte gegen das ihre. Ein stechender Schmerz fuhr durch Soneas Handgelenk. Für einen Augenblick verlor sie das Gefühl in ihrer Hand. Ihr Schwert fiel zu Boden.
„Aufhören!", rief Lord Kerrin.
Doch Sonea war noch nicht mit ihrem Gegner fertig. Der Unterricht entwickelte sich gerade erst nach ihrem Geschmack. Rasch vertrieb sie den Schmerz mit Magie. Das Schwert flog zurück in ihre Hand. Hal starrte sie mit geweiteten Augen an.
„Der Gebrauch von Magie ist beim Schwertkampf verboten!", rief Kerrin. „Zur Strafe wirst du die nächste Stunde zuschauen."
Sonea und Hal tauschten einen Blick. Der hochgewachsene Junge aus Lan zuckte die Schultern. „Jetzt aufzuhören wäre unehrenhaft", sagte er.
Sonea nickte nur. Hal und Regin waren die einzigen ernstzunehmenden Gegner in diesem Kurs. Ausgenommen von ihrem Lehrer. Doch der schien es vorzuziehen, sie möglichst zu ignorieren.
„Sonea, Hal! Sofort aufhören!", brüllte Kerrin.
Vielleicht sollte ich lieber gehorchen, bevor das Ärger gibt, fuhr es Sonea durch den Kopf. Doch bevor sie sich dazu durchringen konnte, holte Hal zu einem seitlichen Schlag aus. Seine Absicht erkennend, lenkte Sonea sein Schwert nach oben ab. Hal verlor das Gleichgewicht und schlug der Länge nach hin.
Die anderen Novizen applaudierten.
Sonea machte einen Schritt nach vorne. Die Spitze ihrer Klinge berührte Hals Brust.
„Gar nicht schlecht für mein Mädchen", presste er nach Luft ringend hervor.
„Ich fasse das als Kompliment auf", erwiderte sie trocken. Sie reichte Hal die Hand und half ihm auf.
„Danke", murmelte er.
Sonea blinzelte verwirrt. „Wofür?"
Hal klopfte sich den Sand aus der Robe. „Dass wir das hier ehrenhaft beendet haben."
„Die Stunde ist für heute beendet", verkündete Lord Kerrin. „Gebt Eure Schwerter bei mir ab und verschwindet."
Augenblicklich trat Stille ein. Einige Novizen schnappten entsetzt nach Luft. Verwirrt sah Sonea sich nach dem Auslöser ihrer Reaktion um und erstarrte. Neben Lord Kerrin stand eine ihr nur allzu vertraute, schwarzgewandete Gestalt. Sie hatte nicht damit gerechnet, Zuschauer zu haben. Und schon gar nicht ihn.
Wie lange ist er schon da?, fragte sie sich mit plötzlichem Unbehagen.
„Ich glaube, das war doch keine so gute Idee", murmelte sie zu Hal.
Zögernd schritt sie zu den beiden Männern. Mit einem Mal waren ihre Knie weich. Sie versuchte, das Zittern ihrer Hände unter Kontrolle zu halten, als sie Lord Kerrin ihr Schwert übergab. Dann wandte sie sich zu dem Mann in den schwarzen Roben.
„Lord Akkarin", sagte sie eine Verneigung andeutend.
„Sonea." Seine Miene war so kühl und distanziert, dass sie nicht sagen konnte, ob er verärgert war, weil sie ihrem Lehrer nicht gehorcht hatte. „Warte vor der Arena auf mich. Ich wünsche noch ein paar Worte mit deinem Lehrer zu wechseln."
„Ja, Lord Akkarin." Sie folgte ihren Klassenkameraden aus der Arena.
Draußen wurde sie bereits von Regin erwartet. „Bekommst du Ärger?", fragte er.
Betont lässig zuckte Sonea die Schultern. Insgeheim war sie sich dessen jedoch nicht so sicher. Akkarin hatte mitbekommen, wie sie und Hal ihren Lehrer ignoriert und weitergekämpft hatten. Das würde ihn gewiss nicht erfreuen.
„Wahrscheinlich wollte er nur sehen, wie ich mich in den Kurs einfüge."
„Wenn er dich wegen vorhin zur Rechenschaft zieht, sage ich ihm, dass ich nicht wollte, dass du unehrenhaft verlierst", sagte Hal.
„Dann sag ihm auch, dass Lord Kerrin ihr nur die Versager als Gegner gibt", fügte Regin hinzu. „Und dass sie sich langweilt."
Sonea unterdrückte ein Seufzen. Seit der Gildenversammlung schien es, als wären Hal und Regin zu einer neuen Einigkeit gelangt. „Das ist nett von euch beiden. Aber wirklich nicht nötig. Ich werde schon alleine mit ihm fertig."
„Oh, ich vergaß, du machst sicher von den Vorteilen Gebrauch, die es mit sich bringt, Akkarins Freundin zu sein", feixte Regin. „Welche Gefälligkeiten musst du ihm erweisen, damit er dich nicht bestraft, wenn du unartig warst?" Er hielt inne und seine Miene hellte sich auf. „Oder stehst du auf Bestrafung?"
Sonea schnaubte. „Regin, so etwas habe ich nicht nötig", gab sie zurück. „Und ich sehe keinen Grund, warum ich mir deine Frechheiten bieten lassen sollte." Zudem würden ihr Gefälligkeiten bei Akkarin nichts nützen. Ihre Beziehung brachte ihr nicht den geringsten Vorteil, wenn es um ihre Ausbildung ging. Manchmal bescherte sie ihr eher Nachteile. Seit sie ein Paar waren, schien Akkarin strenger denn je.
Ihr Freund bedachte sie mit einem wissenden Blick. Sonea begnügte sich damit, ihn anzufunkeln und richtete ihren Blick auf das Portal.
Nach einer scheinbaren Ewigkeit näherten sich Stimmen und Akkarin und Lord Kerrin traten ins Freie.
„ … erwarte, dass Sonea ein Gegner zugeteilt wird, der ihrem Potential gewachsen ist", sagte Akkarin gerade. Seine Stimme war leise, doch Sonea konnte jedes Wort deutlich verstehen.
„Sonea ist für meinen Kurs überqualifiziert", protestierte Kerrin hilflos und mit hörbarer Furcht.
„Ich bin sicher, Ihr werdet eine Lösung finden, die alle Beteiligten zufriedenstellt", erwiderte Akkarin glatt.
„Selbstverständlich, Lord Akkarin", sagte Kerrin ungewohnt unterwürfig. „Ihr könnt Euch auf mich verlassen."
„Ich habe nichts anderes erwartet." Akkarin nickte dem Krieger zu. „Guten Tag, Lord Kerrin."
Sonea unterdrückte ein Kichern. Doch als Akkarin auf sie und ihre beiden Freunde zu schritt, kehrte ihre Furcht zurück.
„Lord Akkarin", sagte Hal und Regin und verneigten sich.
Akkarin ignorierte die beiden Novizen. „Komm, Sonea", sagte er. „Gehen wir nach Hause. Es ist bald Zeit zum Abendessen." Eine Hand zwischen ihre Schulterblätter gelegt führte sie er davon.
Aus den Augenwinkeln bemerkte Sonea, wie Hal und Regin ihnen hinterherstarrten. Sich zu einem Lächeln zwingend winkte Sonea ihnen.
„Dein Kampf hat mich beeindruckt", sagte Akkarin, als sie außer Hörweite waren. „Es ist keine Schande, Magie zu verwenden, wenn einem das Schwert aus der Hand fällt. Auch wenn manche das anders sehen. Bei der Wucht, mit der dein Gegner angegriffen hat, hättest du den Schlag unmöglich abfangen können."
Sonea nickte, erleichtert, weil er das so sah.
„Trotzdem erwarte ich, dass du deinem Lehrer gehorchst", fuhr er fort. „Es ist mir egal, um wessen Ehre es dabei geht. Bei dieser Kunst nicht den Anweisungen des Lehrers zu folgen, kann unangenehme Konsequenzen haben. Ein Schwert ist eine gefährliche Waffe."
„Ich weiß", sagte Sonea. „Ich bitte um Verzeihung. Es ist nur …" Sie brach ab. Sollte sie ihm wirklich sagen, wie entsetzlich sie sich in diesem Kurs langweilte? Sollte sie ihm sagen, dass sie sich unterfordert fühlte? Oder wie sehr sie sich danach sehnte, all den dunklen Gefühlen Ausdruck zu verleihen, die seit der Kriegserklärung der Sachakaner in ihr tobten?
„Sonea, ich verstehe deine Situation. Ich werde darüber hinwegsehen, wenn du mir versprichst, dass sich dieser Vorfall nicht wiederholt und unerwünschte Emotionen in praktischer Kriegskunst auslebst. Bis zu deiner übernächsten Stunde wird Lord Kerrin dir einen Gegner zugeteilt haben, der deinen Fähigkeiten gerecht wird."
Sonea war nicht überrascht, weil er ihre Strafe nicht aufgehoben hatte. Eine Stunde auszusetzen, war ihr indes lieber, als sich über Lord Kerrins Behandlung zu ärgern.
„Danke", sagte sie. „Es tut mir leid, dass ich Euch enttäuscht habe. Ich verspreche, Lord Kerrin zu gehorchen." Aber nur, weil ich dir gehorche, fügte sie für sich hinzu.
Akkarin nahm das mit einem Nicken zur Kenntnis. „Es wäre mir lieber, könnte ich dich weiterhin unterrichten", sagte er. „Doch dazu fehlt mir die Zeit."
„Das ist schon in Ordnung", erwiderte Sonea. Akkarin sollte seine Zeit für wichtigere Dinge als ein albernes Wahlpflichtfach nutzen. „Aber wenn Lord Kerrin findet, ich sei für diesen Kurs überqualifiziert, solltet Ihr mir vielleicht einen anderen Lehrer suchen."
Akkarin lachte leise. „Seinen Stolz zu verletzen, ist kein Grund, dich wieder aus diesem Kurs zu nehmen", sagte er. „Lord Kerrin ist ein sehr fähiger Lehrer. Er wird sich von jetzt an hüten, dir nicht die Ausbildung zukommen zu lassen, die deinen Fähigkeiten entspricht."
Sonea lächelte. Anscheinend hat unsere Beziehung doch Vorteile, fuhr es ihr durch den Kopf. Doch sie war sicher, er hätte früher dasselbe getan. Akkarin mochte kein Mann sein, der mit Freuden einen Novizen erwählte, doch seit sie seine Novizin war, erledigte er diese Aufgabe mit größter Verantwortung und Gewissenhaftigkeit, wenn auch das nicht immer angenehm war.
„Ich bin vielleicht geschickter als die anderen Novizen, aber sie sind mir an Kraft überlegen", wandte sie ein. „Ebenso wie Lord Kerrin. So betrachtet bin ich gar nicht so gut."
„Geschick kann mangelnde Körperkraft kompensieren. So wie Körperkraft mangelndes Geschick kompensiert. Das Prinzip ist dasselbe wie beim magischen Kampf. Doch Körperkraft ist in einem Kampf zwischen Magiern nutzlos."
Sonea nickte. Ihre durch ihr Wahlpflichtfach gewonnene Geschicklichkeit erlaubte es ihr, einem Angriff auszuweichen, was Magie sparte. In Duellen galt dies als schlechter Kampfstil und als feige. Aber wenn sie und Akkarin gegen die Sachakaner antraten, würden sie ihre Magie nicht sinnlos verschwenden dürfen. Ihre Lektionen im Schwertkampf hatten ihre Beweglichkeit und ihre Reaktion deutlich verbessert.
„Es täte dir gut, zuweilen deine Fähigkeiten anzuerkennen", bemerkte Akkarin. „Das wäre eine angemessene Form, um Stolz zu zeigen."
Sonea schnaubte leise. „Es ist besser, bescheiden zu sein. Denn sonst würde man mich für eingebildet halten und das würde nicht nur ein schlechtes Licht auf mich, sondern auch auf meinen Mentor werfen."
Die Dunkelheit hatte sich schon vor einigen Stunden über das Gelände der Gilde gesenkt und die Wege zwischen den Gebäuden waren dementsprechend verlassen, als Rothen und Farand die Novizenquartiere umrundeten und auf den Dome zuhielten. Sie hatten bewusst einen Weg gewählt, auf dem man sie von den Sieben Bögen aus nicht sehen konnten. Der Schnee knirschte leise unter ihren Stiefeln und ließ die Nacht heller wirken, so dass sie auch ohne eine Lichtkugel genug sehen konnten. Rothen war das nur recht.
Sein Novize trug eine kleine Schachtel, deren Innenraum ausgepolstert war, und eine Mappe mit Notizblättern und Schreibzeug. Seinem eifrigen Gesichtsausdruck nach zu urteilen freute er sich auf diese ungewöhnliche Abendbeschäftigung. Doch auch Rothen verspürte eine leise Vorfreude. Auch wenn er Farands Begeisterung nur bedingt teilte, war ihr Vorhaben kurzweiliger als ein Besuch im Abendsaal.
Im Dome warteten bereits zwei vertraute schwarzgewandete Gestalten im Schein einer Lichtkugel. Akkarin und Sonea.
Die Miene seiner ehemaligen Novizin drückte Verwirrung aus. Als sie Rothen und Farand jedoch erblickte, lächelte sie.
„Hallo, Rothen und Farand", sagte sie.
„Guten Abend, Sonea", erwiderte Rothen lächelnd und begrüßte dann ihren Mentor. „Ich hoffe, der Termin zu dieser Stunde kommt euch beiden nicht ungelegen."
„Morgen ist Wochenende", sagte Akkarin. „Insofern sind Sonea und ich flexibel."
Sonea schüttelte den Kopf. „Trotzdem frage ich mich, warum Ihr uns für die Tests spätabends in den Dome bestellt, Rothen."
Rothen lächelte schief. „Sagen wir, ich wollte das Spektakel der letzten Tests vermeiden."
Das war indes nur die halbe Wahrheit. Seit der Demonstration in der Arena waren mehrere Alchemisten auf ihn zugekommen und hatten ihm Ratschläge gegeben, wie er die drei Schildsenker-Varianten, die Akkarin sich stärker gewünscht hatte, verbessern konnte. Peakin und sein Vorgänger Sarrin waren dabei die Schlimmsten gewesen. Zu Beginn hatte Rothen sich noch über die positive Resonanz seiner Kollegen auf sein Projekt gefreut. Alsbald hatte er sich davon jedoch zusehends entnervt gefühlt. Er und Farand hatten bereits einen Ansatz gehabt, die Versuchsreihen gemäß Akkarins Wünschen anzupassen. So gut gemeint die Hilfe seiner Kollegen war, konnte er sie nicht gebrauchen. Er hatte sie jedoch auch nicht abweisen wollen und ihnen gesagt, er würde ihre Vorschläge bei seinen Überlegungen berücksichtigen und sich über ihre Hilfe bei der späteren Massenproduktion freuen.
In der vergangenen Woche hatte Rothen zu seinem Leidwesen erkannt, dass er es vorzog, sein Projekt fortzuführen ohne, dass ihm jemand hineinredete. Von seinem Erfolg würde das Überleben der Gilde abhängen. Er konnte nicht konzentriert daran arbeiten, wenn jeder ihm einen anderen Vorschlag machte, wie seine Schildsenker zu wirken hatten. Auch wenn seine Kollegen das anders sahen. Hätte er die heutigen Tests angekündigt, hätte das erneut die gesamte Gilde zusammengebracht und die gutgemeinten Ratschläge seiner Kollegen hätten kein Ende genommen.
„Dann eignet sich der Abend des Vierttages natürlich am besten", bemerkte Akkarin.
„Das war auch mein Gedanke", sagte Rothen. „Der Weg hierher war nur ein wenig umständlich."
Der ehemalige Hohe Lord bedachte ihn mit einem wissenden Lächeln. „Wurdet Ihr gesehen?"
Rothen schüttelte den Kopf. Die meisten Magier waren bereits im Abendsaal und er hoffte, mit seinen Tests fertig zu sein, bevor sie diesen wieder verließen. „Wenn Ihr bereit seid, beginnen wir", sagte er.
Akkarin und Sonea entfernten sich ein Stück und wandten sich dann ihm und Farand zu.
„Die Schildsenker sollten ähnlich stark sein, wie die Variante mit den Feuer-Effekten", teilte Rothen ihnen mit.
„Sonea und ich haben uns entsprechend vorbereitet."
Akkarin und Sonea tauschten einen kurzen Blick, dann zog er sie zu sich. Um die Schildfläche zu verkleinern, wusste Rothen. Trotzdem konnte er sich bei dem Anblick ein Lächeln nicht verkneifen. Dem gespannten Gesichtsausdruck Soneas nach zu urteilen, glaubte er, dass sie sich auf die Tests der verbesserten Schildsenker freute.
Er sah zu seinem Novizen. „Möchtest du dieses Mal die Phiolen werfen?"
Farand strahlte. „Sehr gern, Mylord."
Lächelnd öffnete Rothen die Mappe mit seinen Notizen. „Dann leg los, sobald Akkarin das Zeichen gibt."
Erfreut öffnete Farand die Schachtel. „Ich fange mit den Nebel-Schildsenkern an", erklärte er. „Also mit Versuchsreihe zwei." Er war einen zögernden Blick zu Akkarin und Sonea. „Lord Rothen und ich haben zwei Varianten der zehnten Phiole hergestellt, Mylord. Die eine ist etwas schwächer, als die andere. Ich werde mit der schwächeren beginnen."
Akkarin nickte nur. Auf sein Zeichen warf Farand die erste Phiole.
Mit Spannung beobachtete Rothen, wie die Phiole auf die beiden schwarzen Magier zuflog und an ihrem Schild zerschellte. Dieses Mal hatten sie aus Zeitgründen keine Tests vorab im Steinbruch vorgenommen. Das neue Halbjahr und die Kriegsvorbereitungen hatten ihn fest in ihrem Griff.
Der Effekt war spektakulär. Das in der Lösung enthaltene Ammonium entzog dem Schild zusammen mit den übrigen Zutaten noch effektiver Magie, als in der vorherigen Variante. Durch den erhöhten Energieaustausch zwischen der Substanz und dem Schild bildete sich ein kalter Nebel, der so dicht war, dass Rothen seine beiden Probanden für mehrere Augenblicke nicht mehr sehen konnte. Bei der zweiten Phiole hielt der Effekt sogar länger als die Flammen bei dem Feuer-Schildsenker. Die Effektivität seiner Phiolen bemaß sich dabei an ihrer magischen Wirkung, die nur indirekt mit visuellen Effekten zusammenhing.
„Lord Akkarin, Sonea was sind Eure Beobachtungen?", fragte Rothen, nachdem die Wirkung der zweiten Phiole verklungen war.
„Die Stärke der zweiten Phiole war in etwa vergleichbar mit Eurem stärksten Feuer-Schildsenker", antwortete der schwarze Magier.
Rothen notierte sich seine Worte. „Also würdet Ihr zu dieser raten?"
„Ja."
„Dann kannst du nun mit den beiden Phiolen der nächsten Versuchsreihe fortfahren", teilte Rothen seinem Novizen mit, nachdem er sich eine entsprechende Notiz gemacht hatte.
„Ja, Mylord", antwortete Farand. Er ging in die Hocke und zog eine Phiole mit einer klaren Flüssigkeit heraus. Ein mechanischer Schildsenker.
Wie schon bei der Testreihe in der Arena war der Effekt nahezu transparent. Rothen konnte jedoch deutlich erkennen, wie der Schild auf Brusthöhe der beiden schwarzen Magier stark deformiert wurde. Bei der zweiten Phiole war der Effekt nicht stärker, sondern über eine größere Fläche verteilt.
„Unscheinbar, aber überaus wirksam", sagte Akkarin.
„Ist das schlecht, Mylord?", fragte Farand verunsichert.
„Das kommt darauf an, welchen Effekt dieser Schildsenker haben soll. Der Magieverlust war deutlich stärker. Insofern findet die zweite Phiole meine Zustimmung."
„Dann kommen wir nun zu den Blitz-Schildsenkern", sagte Rothen von einer unterschwelligen Unruhe erfüllt. Bald würden die ersten Magier aus dem Abendsaal kommen. Ich fühle mich wahrhaftig von ihnen verfolgt, dachte er. Allerdings hatte er noch nie so unter Druck gestanden, etwas Brauchbares aus Alchemie zu erzeugen.
Bei der letzten Versuchsreihe war es die erste Phiole, die die schwarzen Magier überzeugte. Die über den Schild rasenden Blitze verursachten ein regelrechtes Gewitter, als die Magie des Schildes in die umgebende Luft entladen wurde. Die Chemikalien in der zweiten Phiole waren dagegen so bemessen, dass sie einander abschwächten und Rothen begriff, bei den Berechnungen einen Fehler gemacht zu haben.
„Lord Akkarin, was sagt Ihr zu den Ergebnissen?", fragte Rothen, nachdem die beiden schwarzen Magier ihren Schild fallengelassen hatten und zu ihm und Farand zurückgekehrt waren.
„Die von mir genannten Varianten reichen aus. Stärker solltet Ihr Eure Phiolen nicht machen."
„Aber dann wären sie effektiver", wandte Rothen vorsichtig ein.
„Das ist richtig, doch wir müssen auch an den Schutz unserer eigenen Leute denken."
„Wir wollen die Sachakaner erschöpfen", fügte Sonea hinzu. „Aber nicht vorzeitig töten. Habt Ihr einmal gesehen, was mit einem schwarzen Magier passiert, der stirbt, während er noch im Besitz seiner kompletten Magie ist?"
„Ich kann es mir vorstellen", murmelte Rothen. Sonea hatte ihm erzählt, wie es in den Hüttenvierteln ausgesehen hatte, nachdem die Diebe dort einen ahnungslosen Ichani einen Hinterhalt gelockt und getötet hatten. Doch er hatte am eigenen Leib erfahren, wie wenig Wirkung seine Angriffe bei den Sachakanern gezeigt hatten. Daher war er dementsprechend bemüht, eine Waffe zu erfinden, die spürbaren Schaden verursachte. Darüber vergaß er immer wieder die damit verbundene Gefährlichkeit der möglichen Folgen.
Er sah zu Akkarin. „Wenn Ihr sagt, die Stärke der Schildsenker wäre in Ordnung, werde ich es dabei belassen. Wirklich wissen werden wir es jedoch erst, wenn es soweit ist."
Akkarin nickte. „Wir werden damit rechnen müssen, dass nicht alle unsere Gegner zu Beginn einen starken Schild haben, weil sie uns unterschätzen."
„Also wären schwächere Schildsenker doch besser?"
„Nein. Sie werden sich schnell darauf einstellen und ihre Schilde stärker machen." Als er Rothens Verwirrung sah, runzelte er die Stirn. „Belasst die Schildsenker bei ihrer bisherigen Stärke. Sollte die Gilde den bevorstehenden Angriff überleben, könnt Ihr über eine Änderung nachdenken."
Rothen nickte. Da sie nicht wussten, was sie erwartete, war dies vermutlich das Beste. Vielleicht sollte ich den Krieg als Feldversuch und die Armee der Sachakaner als eine besonders große Testgruppe betrachten, überlegte er. Denn erst im Einsatz würde sich zeigen, wie viel seine Schildsenker wirklich taugten.
„Im Fall der mechanischen Schildsenker könntet Ihr versuchen, die Deformation auf eine größere Fläche auszudehnen", schlug Akkarin vor. „Zu viel Kraft auf einer kleinen Fläche könnte den Schild an dieser Stelle ungewollt durchlässig machen. In dieser Hinsicht sind Eure bisherigen Resultate bereits an der Grenze dessen, was ich für sicher erachte. Wenn es Euch jedoch gelingt, eine ähnlich starke Wirkung wie bei den anderen Versuchsreihen zu erzeugen, so würde der Gegner mehr Magie verbrauchen. Das Risiko ihn vorzeitig zu töten, wäre somit geringer."
„Das klingt vernünftig." Rothen machte sich eine Notiz in seiner Mappe. „Ich denke, das sollte sich machen lassen." Bei der Gelegenheit würde er überlegen, ob ihm etwas Ähnliches für die Nebel-Schildsenker gelang.
„Die Effekte bei dem neuen Nebel-Schildsenker und bei dem mechanischen sind nicht besonders aufregend", sagte Farand, als sie zur Universität zurückgingen. „Wir sollten sie noch verbessern."
„Wozu?", fragte Rothen. Die visuellen Effekte waren Nebenwirkungen der eigentlichen Reaktion mit einem magischen Energiefeld. „An ihrer Wirkung auf den Schild würde das nichts ändern."
„Aber es würde besser aussehen."
Rothen schüttelte den Kopf. Entweder ich bin zu alt oder zu wenig Alchemist, um das zu verstehen, dachte er. „Das ist nicht der Zweck, den unsere Schildsenker erfüllen sollen."
„Auf die Sachakaner würde es einschüchternder wirken", wandte Farand ein. „Sie würden sich fürchten."
Da musste Rothen seinem Novizen recht geben. Bei den ersten Tests hatte Sonea mit deutlichem Unbehagen auf die stärkeren Phiolen reagiert. Die Sachakaner würden in Panik geraten, weil sie keine alchemistischen Phiolen erwarten würden. Trotzdem hielt er die Idee nicht für praktikabel.
„Es wäre möglich, die Effekte durch die Zugabe entsprechender Chemikalien zu verstärken, ohne dass die magische Wirkung der Schildsenker davon beeinträchtigt wird", sagte er. „Das wäre jedoch kostspielig und zumindest meines Erachtens eine Verschwendung von Ressourcen und Geld, das wir lieber in unsere übrigen Kriegsvorbereitungen investieren."
„Ihr könntet die Idee wenigstens den höheren Magiern unterbreiten, Mylord", sagte Farand.
„Das könnte ich", erwiderte Rothen, schwor sich jedoch, genau das nicht zu tun. Er wusste, was sie ihm darauf antworten würden. Die Krieger und die Heiler würden die stärkeren visuellen Effekte als unnütz empfinden, Peakin würde die Idee mit seiner Vorliebe für effektvolle Alchemie unterstützen, Administrator Osen würde wegen der zusätzlichen Ausgaben stöhnen und am Ende würde Akkarin sich mit dem Argument der psychologischen Wirkung auf ihre Feinde durchsetzen. Es gab bereits genug der Leute, die sich in Rothens und Farands Projekt einmischten. Er wollte nicht, dass auch noch darüber diskutiert wurde. Schenkte er Akkarins Worten Glauben, so waren die Schildsenker genau richtig für einen Kampf gegen schwarze Magier. Es war müßig, Verbesserungen vorzunehmen, wenn der eigentliche Praxistest noch bevorstand.
Allerdings hatte er selbst das perfekte Gegenargument, wie ihm plötzlich bewusst wurde, als er darüber nachdachte, wie er sich fühlen würde, wenn ihn jemand mit einer ihm unbekannten Waffe angriff.
„Dem Gegner mit Feuer und Blitzen Angst einzujagen, ist niemals eine schlechte Idee", sagte er zu seinem Novizen. „Aber noch mehr werden sie das fürchten, was sie nur wenig oder gar nicht sehen können."
Ein breites Lächeln huschte über Farands Gesicht. „So habe ich das noch gar nicht betrachtet, Mylord!"
- Was hast du gefühlt, als du Isara getötet hast?
Die kalte Stimme in Savaras Kopf war nicht zu ignorieren. Sie versuchte, sie auszublenden, doch sie schlüpfte immer wieder hinter die Barrieren ihres Widerstandes.
Vor ihrem geistigen Auge spielte sich der Tag, an dem ihr damaliger Auftraggeber von dem Ichani, für dessen Liquidierung er sie angeheuert hatte, überfallen wurde, so klar und deutlich ab, als wäre es gerade erst geschehen. Sklaven rannten umher und brachten sich in Sicherheit, als ihr Auftraggeber Dakova attackierte.
Alle, bis auf einen, der mit grimmiger Miene neben Dakova Stellung bezog.
Da war nichts, rein gar nichts gewesen, was Savara empfunden hatte und das gehörte nicht zu den Dingen, die sie der fremden Präsenz zeigen wollte. Doch er hatte ihr ihren Geheimniswahrer genommen. Sie konnte ihre Gedanken nicht vor ihm verbergen.
Ihre Erinnerung eilte weiter, bis zu der Stelle, wo sie die Frau das erste Mal bewusst sah. Sie war ein wenig mager. Wäre sie besser genährt und würde keine Kleidung tragen, die staubig und zerrissen war, hätte sie sogar hübsch sein können.
- Zeig es mir, befahl die kalte Stimme.
Savara wollte sich weigern, ihm zu gehorchen, aber die Präsenz ihres Peinigers durchbrach ihren Widerstand. Hilflos musste sie mit ansehen, wie er die Erinnerungen wieder hervorholte. Wie sie die Sklaven abgeschlachtet hatte, während ihr Auftraggeber sich mit Dakova und seinem Magiersklaven duellierte. Es wäre nicht nur unprofessionell gewesen, Mitleid mit den Sklaven zu empfinden. Nein, die Ichani waren Abschaum und so waren es auch ihre Sklaven.
Savara hätte das anders gesehen, würden diese nur aus Furcht ihren Meistern gehorchen und wäre ihr Gehorsam widerwillig. Stattdessen brachten sie ihren Meistern diese absolute und verabscheuungswürdige Ergebenheit entgegen, von der ihr schlecht wurde.
Ihre Erinnerung überschlug sich und sie sah sich Isara gegenüber. Die dunklen Augen der jungen Frau starrten Savara furchterfüllt an. Ein Schlag hatte genügt, um sie niederzustrecken. Dann war Savara über ihr gewesen, hatte ihren Hals aufgeschlitzt und ihre Magie genommen, bis nichts mehr davon übrig war. Sie war nur eine von wenigen gewesen, die Savara erwischt hatte, bevor Dakova den Rest seiner Sklaven getötet und ihren Auftraggeber besiegt hatte.
Als sie aufgesehen hatte, hatte sich der Sklave an Dakovas Seite ihr zugewandt. Sein Gesichtsausdruck war furchterregend, als er auf sie zu schritt und sie mit einem Kraftschlag nach dem anderen attackierte, bis sein Meister ihn zurückrief.
Savara lachte innerlich.
- Es macht keinen Unterschied, weißt du?, sandte sie mit kalter Befriedigung. Ich hätte sie auch getötet, wenn ich gewusst hätte, dass du sie liebst.
Der Schmerz, der daraufhin in Savaras Kopf explodierte, war schlimmer als alles, das sie je erlebt hatte. Jeder Muskel ihres Körpers verkrampfte sich und sie wusste instinktiv, die Qual, die sie durchlitt, war nichts im Vergleich zu seiner …
Savara zuckte zusammen und schob die Erinnerung so weit fort, wie sie nur konnte. Das Gefühl von seelischer Vergewaltigung kehrte zurück, sobald sie nur einen flüchtigen Gedanken daran verschwendete, was er mit ihr getan hatte.
Es hatte etwas in ihr zerbrochen.
Und sie wusste, dass sie es nicht anders verdient hatte.
Je größer der Abstand zwischen ihr und Kyralia wurde, desto öfter drängten die Erinnerungen an jene Nacht in den Hüttenvierteln zurück in ihr Bewusstsein. Daran, wie er sie überwältigt und ihren Geheimniswahrer genommen hatte. Und wie er sie anschließend verhört hatte. Anschließend hatte er ihr den Geheimniswahrer zurückgegeben. Doch dieser nützte ihr nichts gegen ihn, weil er ihr sein Blutjuwel so implantiert hatte, dass sie es nicht mehr entfernen konnte.
Ein solches Blutjuwel enthielten für gewöhnlich nur Sklaven, die sich als sehr loyal erwiesen.
Oder als höchst ungehorsam.
Hätte Savara einen Weg gewusst, wie sie alle demütigenden Erinnerungen an jene Nacht aus ihrem Gedächtnis löschen konnte, so hätte sie das getan. Dann hätte sie auch gelöscht, was sie damals bei dem Angriff auf Dakova getan hatte. Aus der Sicht ihres neun Jahre älteren Ichs waren ihre Taten von damals so verabscheuungswürdig, wie sie die Ichani und ihre Sklaven damals erachtet hatte. Daran änderte auch die Tatsache nichts, dass sie die Ichani noch immer verabscheute, aber ihre Sklaven inzwischen als hilflose Opfer sah. Es änderte nichts an dem, was sie getan hatte. Es gab keine Entschuldigung dafür.
Savara hatte sich oft eingeredet, dass sie nur durch Skrupellosigkeit zu einer wirklich guten Söldnerin geworden war. Und sie war gut – sie war die beste ihres Volkes. Aber dafür hatte sie die Prinzipien der Verräter verraten und gegen ihre Regeln verstoßen.
- Ich hätte sie auch getötet, wenn ich gewusst hätte, dass du sie liebst.
Sie hatte diese Worte gesagt, weil sie ihn hatte verletzen wollen, wohl wissend, dass sie dafür bezahlen würde. Aber sie hatte diese Worte auch gesagt, weil es die Wahrheit gewesen war.
Es war ein Fehler gewesen, nach Imardin zurückzukehren. Schon bei ihrem ersten Besuch in der Stadt hatte sie die Begegnung mit Akkarin vermieden. Dass sie weder etwas über ihre Identität noch über ihr Volk preisgeben durfte, war ihr eine willkommene Entschuldigung gewesen, während sie ihn auch auf Grund ihrer gemeinsamen Vergangenheit gemieden hatte. Damals hatte sie nur geahnt, dass da etwas zwischen Akkarin und dieser schmutzigen, abgemagerten Sklavin gewesen war. Erst seine Wahrheitslesung hatte ihre Vermutung bestätigt.
Jetzt gehörte ihr Leben ihm. Für ihr Volk war sie tot. Nur Nachiri wusste, dass sie noch am Leben war und wenn Savara ihren Worten Glauben schenkte, tat sie besser daran, ihren übrigen Schwestern aus dem Weg zu gehen. Selbst wenn sie eines Tages in das kleine Tal im Gebirge zurückkehren sollte, das von ihrem Volk als Die Zuflucht bezeichnet wurde, so würde sie dort nicht mehr willkommen sein. Sie würde als Ichani gelten. Dafür hatte Akkarin gesorgt.
Mit unterdrückter Wut starrte Savara in die trostlose Leere der Ödländer. Vor ihr am Horizont war ein dunkelroter Streifen zu erkennen, der allmählich breiter wurde und in flammendes Orange und Gelb ausfächerte. Die vier Kyralier lagen auf der Ladefläche des Karrens und schliefen. Kals Schnarchen zog vermutlich gerade die Aufmerksamkeit jedes Ichani im Umkreis von mehreren Meilen auf sich. Savara hatte schon mehrfach vergeblich versucht, es ihm abzugewöhnen und schließlich aufgegeben.
Ihre Reise nach Arvice würde bei ihrem gegenwärtigen Tempo noch zwei Wochen dauern – zu lange für Savaras Geschmack. Doch das bot ihr auch ausreichend Gelegenheit, um sich eine glaubhafte Geschichte auszudenken, warum sie Marika bei seinem Krieg unterstützen wollte. Savara war vor einigen Jahren in der Stadt gewesen. Die damals gesammelten Informationen würden ihr bei ihrem Plan vielleicht nützlich sein.
Ein Lächeln stahl sich auf ihre Lippen. Sie wäre nicht Savara, würde sie darin nicht eine Möglichkeit sehen, die Situation zu ihrem eigenen Vorteil zu nutzen. Auch in der Stadt lebten Verräter. Indem sie Marika ausspionierte, konnte sie wichtige Informationen an ihre Leute übermitteln und dann würde die Große Mutter ihr verzeihen.
Eine grimmige Befriedigung breitete sich in ihr aus. Sie würde ihren Auftrag erfüllen, aber sie würde auch ihren eigenen Plan verfolgen, um wieder zu ihrem Volk zurückkehren zu dürften. Sie war alles andere als Akkarins Yeel.
Sie war vielmehr ein wilder Limek.
„Ich denke, ich könnte etwas von meinem Geld für dieses Projekt erübrigen." Luzille stellte ihre Tasse beiseite und blickte Sonea strahlend an. „Jeder Mensch sollte Zugang zu frischem, sauberem Wasser haben."
Sonea war froh, dass die junge Elynerin das so sah. Rothen hatte ihr versichert, das Projekt könnte auch ohne ihre und Luzilles finanzielle Unterstützung realisiert werden. Aber es war so viel befriedigender, sich daran zu beteiligen. Es verlieh ihr das Gefühl, zumindest irgendetwas für die Hüttenleute versucht zu haben, wenn sie und Akkarin in wenigen Monaten starben.
„Glaubst du, dein Mann hat etwas dagegen?", fragte sie.
Luzille winkte lachend ab. „Es ist ihm sicher lieber, als wenn ich eine Arbeit verrichte, die nicht meiner privilegierten Geburt entspricht." Sie verdrehte die Augen. „Zudem lasse ich mir nicht von ihm vorschreiben, für was ich mein Geld ausgebe."
Sonea zog es vor, nichts darauf zu erwidern. Sie hatte Akkarin versprochen, sich nicht in die Ehe von Balkan und Luzille einzumischen. Sie griff nach ihrem Glas und trank einen Schluck Pachisaft.
Luzille schien ihr Schweigen anders zu interpretieren. „Mach dir keine Sorgen, meine Süße", sagte sie und berührte Soneas Arm. Ihre blauen Augen leuchteten aufgeregt. „Das wird unser Projekt. Mein brummiger Bovar wird uns das nicht streitig machen."
Er kann den Bau immer noch verbieten, dachte Sonea, sprach es jedoch nicht aus. Doch damit würde Balkan den König gegen sich aufbringen. Noch wusste Merin nichts von Rothens Idee, doch nach allem, was er seit dem Sommer für die Hüttenviertel getan hatte, bezweifelte Sonea, er würde sich gegen etwas aussprechen, das die Lebensqualität in den Hüttenvierteln verbesserte.
Luzille wedelte zu dem Silbertablett mit kleinen, süßen Kuchen, das auf dem Tisch zwischen ihnen stand.
„Iss, Liebes. Du siehst halb verhungert aus."
Sonea unterdrückte ein Schnauben. Dennoch nahm folgsam einen Kuchen und biss ein Stück davon ab. Luzille hatte nicht die geringste Ahnung, wie anstrengend ihr Alltag war. Selbst die Wochenenden waren in diesem Halbjahr anstrengend. Wenn Sonea nicht gerade lernte oder Akkarin bei seinen Experimenten assistierte, verlangte Luzille ihre Aufmerksamkeit für Menüvorschläge, Tischdekorationen und Gästelisten. Es war erst das zweite Wochenende nach den Winterferien und Sonea beschlich die Ahnung, die folgenden Wochenenden würden ähnlich verlaufen.
„Deine Familie lebt im Äußeren Ring, richtig?"
Sonea nickte und schluckte die Reste des Kuchens hinunter. „Ja", antwortete sie. „Meine Tante und ihr Mann leben im besseren Teil der Hüttenviertel."
„Gibt es dort sauberes Wasser?"
„Nein."
„Oh, dann werden sie sicher begeistert sein, wenn ihre Nichte solch wohltätige Dinge für sie tut!", rief Luzille begeistert.
„Ja, wahrscheinlich", stimmte Sonea zögernd zu. Das Gespräch rief ihr ins Gedächtnis, wie sehr sie Jonna und Ranel vermisste. Seit sie in der Gilde lebte, waren nie mehr als ein paar Wochen, in arbeitsreichen Zeiten auch schon einmal zwei oder drei Monate zwischen ihren Besuchen vergangen. Jedoch nie ein halbes Jahr.
„Ist alles in Ordnung, Süße?"
Sonea sah auf. Luzilles blauen Augen musterten sie besorgt. Diese Frau kommt wunderbar ohne Gedankenlesen aus, fuhr es ihr durch den Kopf.
„Ja." Sie schloss die Augen und unterdrückte ein Seufzen. „Ich vermisse meine Familie nur."
„Oh, du armes Ding!" Luzille streckte eine Hand aus und strich über Soneas Schulter. „Ist es, weil du die Gilde nicht verlassen darfst?"
Sonea nickte nur.
„Warum sagst du ihnen dann nicht, dass sie dich hier besuchen sollen?"
„Weil sie sich vor den Magiern fürchten."
„Ich verstehe." Luzille schenkte sich Sumi nach und lehnte sich Sonea nachdenklich anblickend in ihrem Sessel zurück. Eine widerspenstige blonde Locke fiel ihr in die Stirn. „Dann musst du sie ja schon sehr lange nicht mehr gesehen haben."
„Das letzte Mal kurz vor der Schlacht von Imardin."
„Aber sie kommen doch zu deiner Hochzeit, nicht wahr?"
Sonea hob die Schultern. „Ich weiß nicht."
„Was soll das heißen?"
„Ich …", Hitze stieg in Soneas Wangen, „... nun, ich habe sie noch nicht eingeladen."
Luzilles Augen weiteten sich. „Du hast deine Familie noch nicht zu deiner Hochzeit eingeladen?"
„Ich wusste nicht wie", antwortete Sonea in einem Anflug von Verlegenheit. Sie durfte die Gilde nicht verlassen und Jonna und Ranel konnten nicht lesen. Die Zeit bis zur Hochzeit schien immer schneller zu verstreichen und sie hatte noch keine Gelegenheit gehabt, Akkarin ihrer Familie vorzustellen.
Luzille schüttelte ihre blonden Locken. „Dann wird es aber langsam Zeit. Schreib ihnen eine Einladung."
Sonea seufzte und erklärte der anderen Frau ihr Problem. „Ich möchte nicht, dass sie sich die Einladung von einem Schreiber vorlesen lassen müssen", schloss sie. „Ich würde sie lieber persönlich einladen, aber die Gilde wird mir nicht erlauben, dafür in die Stadt zu gehen. Ich meine, es ist kein berechtigter Grund."
Luzille entfuhr ein Laut der Empörung. „Und ob es das ist! Nachdem du und Akkarin diese Sachakaner gejagt habt, sind sie euch mindestens das schuldig." Sie beugte sich über ihren Sessel und berührte Soneas Knie. „Ich werde mit meinem Mann reden. Meine Liebe, ich verspreche dir, er wird dich in die Stadt gehenlassen!" Soneas Knie tätschelnd erhob sie sich. „Warte hier."
Bevor Sonea protestieren konnte, war die andere Frau schon aus dem Zimmer gerauscht.
Wundervoll!, dachte Sonea. Der Grund, aus dem sie ihre Familie noch nicht zu ihrer Hochzeit eingeladen hatte, ging Balkan nichts an. Sonea verspürte einen unterdrückten Zorn auf ihre neue Freundin. Was dachte Luzille, wer sie war?
Einen tiefen Atemzug nehmend zwang Sonea sich zur Ruhe. Luzilles Absichten waren von guter Natur, sie hatte es nicht verdient, wenn Sonea sie deswegen anfuhr.
Während sie wartete, sah sie sich um. Das Zimmer, das sie früher bewohnt hatte, war überhaupt nicht wiederzuerkennen. Die Mitte des Raumes wurde von einer Sesselgruppe ausgefüllt, das Bett war verschwunden und an den Wänden hingen Gemälde, die fremde Landschaften, wahrscheinlich in Elyne, darstellten. Einzig der Schreibtisch war geblieben. Auf ihm befanden sich mehrere auf Stickrahmen gespannte Stoffe.
Sonea erhob sich und betrachtete die filigranen Arbeiten, die überhaupt nicht zu der widerspenstigen Frau zu passen schienen. Sie war hingerissen. Luzille hatte sich damit wahrhaftig selbst verwirklicht.
Die Zeit schien sich zu dehnen, als Soneas Anspannung wuchs. War das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen, dass Luzille so lange brauchte, um Balkan zu überreden? Ein Teil von Sonea begann sich indes zu wünschen, ihre Freundin würde Erfolg haben. Sie vermisste Jonna und Ranel so sehr, dass es die Demütigung wert war.
Endlich ging die Tür auf.
„Ich habe ihn bearbeitet", erklärte Luzille strahlend. Sie griff nach Soneas Hand. „Komm mit."
Sonea ließ sich von ihr auf den Flur ziehen, von wo aus die junge Elynerin zielstrebig auf die Bibliothek zuhielt in.
„Sonea, komm herein."
Der Hohe Lord saß hinter einem Schreibtisch, auf dem sich mehrere Mappen stapelten. Zögernd trat Sonea näher. Sie hörte, wie sich die Tür hinter ihr schloss. Das Fehlen von Schritten sagte ihr, das Luzille sie allein gelassen hatte.
„Guten Tag, Hoher Lord", sagte Sonea und verneigte sich. Es fühlte sich seltsam an.
Balkan wies auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch. „Setz dich."
Sie gehorchte unbehaglich.
„Meine Frau hat mir berichtet, du möchtest deine Familie persönlich zu deiner Hochzeit einladen", sagte Balkan. „Ist das richtig?"
„Ja, Hoher Lord", beeilte Sonea sich zu sagen. „Sie können weder Lesen noch Schreiben. Ich habe sie seit der Schlacht nicht mehr gesehen und sie sind Lord Akkarin noch nie begegnet." Sie runzelte die Stirn. Es missfiel ihr, mit Balkan über ihre Familie sprechen zu müssen. Doch es war zu spät, sich aus dieser Situation wieder herauszuwinden. „Es wäre nicht richtig, ihnen eine Einladung zu schicken, die sie sich von einem Schreiber vorlesen lassen müssen. Aber ich werde diesbezüglich bald eine Entscheidung treffen müssen."
Der Hohe Lord musterte sie aufmerksam. „Ich gebe dir recht", sagte er. „Das wäre nicht angemessen."
Sonea betrachtete ihn gespannt und versuchte seine Intentionen zu deuten. Er schien nicht abgeneigt, sie ihre Familie besuchen zu lassen, doch sie befürchtete fast, er würde ihr eine Alternative vorschlagen, die ihr weniger gefallen würde.
„Erzähl mir von deiner Familie", forderte er sie auf. „Wie leben sie? Welcher Arbeit gehen sie nach?"
Ein Seufzen unterdrückend holte Sonea tief Luft. Dann erzählte sie ihm, wie Jonna und Ranel sie nach dem Tod ihrer Mutter aufgenommen hatten, weil ihr Vater verschwunden war, und wie sie sich in den Hüttenvierteln durchgeschlagen hatten. Sie erzählte ihm, wie sie zwei Jahre lang in einem Bleibehaus im Nordviertel gelebt hatten und Kleider und Schuhe für wohlhabende Leute geflickt hatten. Sie erzählte ihm von Ranels schlimmem Bein und dass sie deswegen meistens die Lieferungen übernommen hatte. Auch wie sie bei der Säuberung vor mehr als drei Jahren aus dem Bleibehaus hinausgeworfen worden waren und dass ihre Familie seitdem mit zwei kleinen Kindern im besseren Teil der Hüttenviertel lebte, ließ sie nicht aus.
„Hm", machte Balkan, nachdem sie geendet hatte.
Sonea starrte auf ihre nervös-feuchten Finger. Sie war noch immer der Meinung, das Leben ihrer Familie ginge Balkan nichts an. Aber er war der Hohe Lord, von seiner Entscheidung hing ab, ob ihr Wunsch in Erfüllung ging.
„Deinem Bericht entnehme ich, dass du ein sehr inniges Verhältnis zu deiner Familie hast", sprach Balkan schließlich. „Das für sich genommen würde dafür sprechen, dir deinen Wunsch zu gewähren. Aber …", er beugte sich vor und sein Blick wurde streng. „Nachdem du und Lord Akkarin während der Jagd auf Ikaro und diese Spionin auf zweifelhafte Weise von Euren Sonderrechten Gebrauch gemacht habt, wäre das Grund genug, dein Anliegen abzulehnen. Doch ich fürchte, ich bin dir und Akkarin etwas schuldig."
Sonea brauchte mehrere Augenblicke, um die Bedeutung hinter seinen Worten zu begreifen.
„Vielen Dank, Hoher Lord", stammelte sie überrascht.
Der Hohe Lord nickte grimmig. „Ihr bekommt die Erlaubnis, am nächsten Wochenende in die Stadt zu gehen, um deine Familie zu besuchen. Bis Sonnenuntergang müsst ihr jedoch wieder zurück sein." Er verzog das Gesicht, als würde etwas sein Missfallen erregen. „Damit es keinen Aufstand in der Gilde gibt, werdet ihr eine Eskorte von Kriegern erhalten."
Soneas Herz machte einen Sprung. „Akkarin darf mitkommen?"
Balkan wirkte amüsiert. „Deine Familie sollte deinen Verlobten kennenlernen, findest du nicht?"
