Kapitel 33 – Nächtliche Jagd
Sonea glaubte, noch nie so sehr neben sich gestanden zu haben, wie in dieser Nacht. Der Gedanke an das, wofür sie die Gilde verlassen hatten, erfüllte sie mit Grauen. Heute Nacht würden sie Blut vergießen. Aber dieses Mal würde es anders sein. Als sie gegen die Ichani gekämpft hatten, war Krieg gewesen. Sie hatten um ihr eigenes Überleben gekämpft, aber auch darum Kyralia vor dem Untergang zu bewahren.
Aber dieses Mal würden sie auf Befehl töten. Mit schwarzer Magie. Es war als hätte die Gilde durch diese Entscheidung ein Stück jener Moral und Werte verloren, die Sonea den Magiern inzwischen zugestand. Sie fragte sich, wie Akkarin darüber dachte. Ob er bei dieser Sache Bedenken hatte?
- Sonea, es muss sein, sandte er durch den Ring. Die Sicherheit von Kyralia steht auf dem Spiel. Wir dürfen diese Sachakaner nicht entkommen lassen.
- Ich weiß, erwiderte sie. Aber ich fühle mich trotzdem nicht wohl dabei.
- Das solltest du auch nicht.
Sonea seufzte. Seine Worte spendeten ihr nur wenig Trost. Sie war nicht so hart wie er.
Vielleicht, so überlegte sie, wenn ich mir lange genug einrede, das Richtige zu tun, werde ich mich nicht mehr ganz so schlecht bei dem Gedanken fühlen, zwei Menschen zu töten, die mir persönlich nichts getan haben. Sie brauchte nur daran zu denken, was der sachakanische Spion Lord Darren und den Menschen in den Bergen angetan hatte, um seinen Tod zu rechtfertigen.
Ikaro ist ein Killer!, rief sie sich ins Gedächtnis. Er muss aufgehalten werden!
Bei der Frau war es schwieriger, gute Argumente zu finden, weil sie eine Freundin von Cery war. Zumindest hatte Cery sie dafür gehalten.
„Es war ein Fehler, ihr zu vertrauen", hatte er in Osens Büro mehr zu sich selbst als zu den anderen gesagt. Aber es waren weniger seine Worte gewesen, als wie er sie gesprochen hatte, was Sonea glauben ließ, dass ihr Freund eine persönliche Beziehung zu dieser Frau hatte. Und Cery war ihr Freund. Wenn sie diese Frau töteten, würden sie damit auch Cery weh tun. Sonea ahnte jedoch, dass sie spätestens, wenn es zu einem Kampf kam, anders darüber denken würde.
Aber abgesehen davon, dass sie Cery hintergangen hat, kann sie nur eine Ichani sein, überlegte sie. Wieso sonst sollte eine Sachakanerin schwarze Magie beherrschen? Damit wird sie genug Unschuldige auf dem Gewissen haben, dass ich mich nicht ganz so schlecht fühlen werde, wenn wir sie töten.
Sie passierten die Residenz des Hohen Lords. Einen absurden Augenblick lang fragte Sonea sich, ob die Geheimtür im Keller noch immer funktionierte. Allein die Vorstellung, dass Balkan sie benutzte, um durch die Tunnel unter der Universität zu schleichen, war völlig absurd. Bestimmt hatte er sie versiegeln lassen.
„Haben wir überhaupt einen Plan?", fragte sie ihre beiden Begleiter, nachdem sie den Schild passiert hatten.
„Zunächst gehen wir zu Cerys Versteck." Akkarin, der voraus schritt, wandte den Kopf zu ihr. „Seine Leute müssen informiert werden, damit sie uns bei der Suche helfen." Er sah zu Cery. „Du solltest auch Boten zu den anderen Dieben schicken. Wir brauchen ihre Unterstützung."
Cery nickte eifrig. Offenkundig fühlte er sich alles andere als wohl in seiner Haut. „Wenn sie erfahren, um was es geht, werden sie uns bereitwillig helfen", sagte er.
„Als Stadtwache des Äußeren Rings sollte das selbstverständlich sein", entgegnete Akkarin und fuhr damit fort, den Tunnel entlangzuschreiten.
Sonea konnte seinen Zorn regelrecht spüren und sie war sicher, das kam nicht durch ihre Ringe. Unter Akkarins Distanziertheit wurde ihr Freund zusehends nervös. Das Selbstbewusstsein, mit dem Cery ihm noch am Nachmittag wie einem alten Geschäftspartner begegnet war, schien sich in Nichts aufgelöst zu haben.
„Lord Akkarin, ich muss mich bei Euch entschuldigen", begann er. „Ich hätte Euch von Savara erzählen sollen, als sie das erste Mal in die Stadt kam. Aber sie hatte mich um Diskretion gebeten."
„Du hast nur getan, was du tun musstest", erwiderte Akkarin kühl. „Doch in Zukunft wirst du mich über jeden Sachakaner, der die Stadt betritt oder verlässt, informieren. Egal, welche Beziehung du zu ihm oder ihr hast. Nur so kann unsere Zusammenarbeit funktionieren."
„Das werde ich", versprach Cery.
„Gibt es noch etwas, das du mir über diese Frau zu sagen hast?"
„Ich weiß nicht viel mehr, als ich vorhin gesagt hab'."
Cery schluckte und nahm einen tiefen Atemzug. Als er fortfuhr, fiel er wieder zurück in den Hüttenslang. „Als sie im Sommer hier war, wollte sie mir beim Aufspüren der Spione helfen. Ich hatte meine Leute auf sie angesetzt, weil ich dachte, dass sie vielleicht selbst'n Spion ist. Aber sie hielt Wort. Sie bot mir an, 'n paar zu töten, was ich wegen Euch abgelehnt hab'. Das war ihr sogar recht, weil sie nicht wollte, dass Ihr was von ihr mitkriegt. Weil eigentlich war sie nur zum Beobachten hier."
„Zum Beobachten?", wiederholte Akkarin. Er hielt inne und wandte sich Cery zu.
„Das hat sie gesagt."
Akkarin runzelte die Stirn. „Ist das alles, Ceryni?"
„Alles, was Ihr über sie wissen müsst."
Akkarins dunkle Augen bohrten sich in die Cerys. Sonea verspürte jähes Mitleid mit ihrem Freund. Sie wusste nur zu gut, wie unangenehm Akkarins durchdringender Blick war, wenn sie etwas angestellt hatte.
Er wandte sich ab und setzte seinen Weg durch den Tunnel fort.
„Was soll das überhaupt heißen, dass sie zum Beobachten hier war?", fragte Sonea, während sie hinter ihm hereilte.
„Ich weiß es nicht. Aber wir werden es hoffentlich bald herausfinden."
„Wahrscheinlich war's nur 'ne Ausrede", sagte Cery. Er stieß einen obszönen Fluch aus. „Sie hat mich gesquimpt! Sie hätte mir alles Mögliche erzählen können und ich hätt's geglaubt!"
Wahrscheinlich wird Cery sich nach dieser Geschichte noch einmal gründlich überlegen, wem er sein Vertrauen schenkt, dachte Sonea. Sie fand dennoch, Akkarin war zu hart zu ihrem Freund. Er wusste doch selbst, wie wichtig es war, nur das preiszugeben, was nötig war! Nicht alle Sachakaner waren ihre Feinde. Cery wäre als Dieb nicht so weit aufgestiegen, würde er sein Vertauen leichtfertig verschenken. Er würde einen guten Grund gehabt haben, dieser Frau zu vertrauen.
Aber was, wenn es mehr gewesen war?, fuhr es ihr durch den Kopf, als sie daran dachte, wie ihr Freund vorhin in Osens Büro errötet war. War diese Savara die Frau, die Cery geliebt hatte? Sonea konnte sich kaum vorstellen, wie entsetzlich er sich jetzt fühlen musste, wenn sie recht hatte. Er hatte ihr in dem Glauben, sie sei auf der Flucht, seinen Schutz angeboten. Stattdessen war sie zu Ikaros Befreiung gekommen. Sie hatte Cery manipuliert und sein Vertrauen und seine Gefühle ausgenutzt, um an ihr Ziel zu gelangen.
- Sei etwas netter zu ihm, sandte sie durch ihren Ring. Er ist unser Freund.
- Er muss seine Torheit erkennen und lernen, seine Gefühle zurückzustellen, entgegnete Akkarin ungerührt. Ein solcher Fehler kann ihn mehr als nur seinen Ruf kosten.
Trotzdem fand Sonea, dass jetzt nicht der richtige Zeitpunkt für Lektionen war. Das Wissen, hintergangen worden zu sein und somit für den Ausbruch eines gefährlichen Killers verantwortlich zu sein, war für Cery im Augenblick vermutlich Strafe genug.
Ein Seufzen unterdrückend ließ sie sich ein Stück hinter Akkarin zurückfallen und bedeutete Cery mit ihr Schritt zu halten. „Gibt es irgendetwas, das ich für dich tun kann?", fragte sie leise.
Cery schüttelte traurig den Kopf. „Ich bin so'n blöder Mistkopf", murmelte er. „Warum hab' ich zwei Mal denselben Fehler gemacht und ihr vertraut?"
„Weil du sie liebst, Cery."
„Sie hat meine Gefühle ausgenutzt", sagte er hart. „Sie hat mich um den Finger gewickelt, bis ich wieder mit ihr zusammen sein wollte. Bevor sie vor'n paar Wochen wieder aufgetaucht ist, dachte ich, ich wär' endlich über sie hinweg. Ich hatte 'ne … 'n Mädchen kennengelernt, das eigentlich viel besser zu mir gepasst hätte. Vielleicht wäre irgendwann mehr draus geworden …"
„Das kann es immer noch", erwiderte Sonea sanft. Ihr Freund wirkte so elend, dass es ihr weh tat. Es fiel ihr schwer, ihm einen Rat zu geben, weil sie keine Erfahrung mit solchen Dingen hatte. Akkarin war der erste Mann, mit dem sie zusammen war, und sie wusste mit ziemlicher Sicherheit, dass er auch der Letzte sein würde. „Was empfindest du denn jetzt für diese Savara?"
Cery hob hilflos seine schmalen Schultern. „Ich weiß nicht. Ich' hab richtig Feuer gefangen, weil sie mich gesquimpt hat. Aber ich will trotzdem nicht, dass ihr sie tötet, auch wenn's nicht anders geht. Also wird'n Teil von mir sie wohl noch immer lieben."
Sie griff nach seiner Hand und drückte sie kurz. „Ich bin für dich da, wenn du mich brauchst", flüsterte sie.
„Danke", erwiderte er ebenso leise.
Sonea hätte ihm gerne gesagt, er solle sich, wenn das hier vorbei war, Zeit nehmen und beide Frauen eine Weile nicht sehen. Sicher würde er dann bald merken, welche er mehr vermisste. Doch wenn diese Jagd zu Ende war, würde nur noch eine von ihnen am Leben sein.
Sie erschauderte. Es war, als würde sie dadurch eine Art Vorentscheidung für Cery treffen. Und das war keine Entscheidung, die sie treffen wollte.
Vielleicht ist es nichts als ein dummer Zufall, dachte sie. Vielleicht war Savara den ganzen Nachmittag in Cerys Versteck und Ikaro wurde tatsächlich von einem andren Sachakaner befreit, der gerade erst in der Stadt angekommen ist. Die Stadtwache wird ihn nicht erkannt haben. Vielleicht hatte er sein Gesicht vermummt. Bei dieser Kälte hätte ihn niemand bemerkt.
Sie erreichten den Haufen aus Steintrümmern. Akkarin blieb stehen, darauf wartend, dass sie zu ihm aufschlossen. Er wirkte ungeduldig, ließ ihr Zurückbleiben jedoch unkommentiert.
„Möchtest du oder soll ich?", fragte er Sonea als würden sie diesen Weg jeden Tag nehmen.
„Ganz wie du möchtest", erwiderte sie.
„Dann mach du."
Sie nickte und konzentrierte sich auf Trümmerhaufen. Sie beeilte sich, die Fragmente in ihrem Geist zusammenzusetzen. Mit jedem Augenblick, der verstrich, konnten die beiden Sachakaner ihren Vorsprung ausbauen. Als sie ihre Augen wieder öffnete, sah sie die steinerne Treppe vor sich.
„Gut gemacht", murmelte Akkarin und stieg die Stufen empor.
Sonea folgte ihm, während Cery sich dicht hinter ihr hielt. Eine Weile wanderten sie schweigend weiter, einzig darauf bedacht, so bald wie möglich die Hüttenviertel zu erreichen.
Plötzlich blieb Akkarin stehen, so dass Sonea fast mit ihm zusammengestoßen wäre.
„Was ist?", fragte sie.
Er wandte sich zu ihr um. „Hast du das nicht gespürt?"
„Nein", sagte sie verwirrt. „Was soll ich gespürt haben?"
„Ikaros Magie wurde entfesselt."
Soneas Herz setzte einen Schlag aus. „Aber wie … ?", entfuhr es ihr. Sie hatte immer geglaubt, nur die höheren Magier waren in dieses Geheimnis eingeweiht.
„Ich weiß es nicht", antwortete Akkarin. „Es ist unmöglich, die Blockade selbst aufzuheben. Seine Komplizin wird dafür verantwortlich sein, doch das würde bedeuten, dass einige Sachakaner das dazu nötige Wissen besitzen. Wir sollten uns besser beeilen." Er sah zu Cery. „Bring uns auf dem kürzesten Weg zu deinem Versteck. Wir haben keine Zeit zu verlieren. Er wird jetzt sich Opfer suchen und sich stärken, um auf uns vorbereitet zu sein."
Cery nickte und drängte sich an Sonea und ihm vorbei. „Folgt mir."
„Konntest du spüren, wo Ikaro sich befindet?", fragte Sonea, während sie weiter durch die Tunnel hasteten.
„Nur grob", antwortete Akkarin. „Er hat seine Aura sofort verborgen. Doch ich konnte eine ungefähre Richtung ausmachen. Er muss irgendwo im nördlichen Teil der Stadt sein. Nordviertel oder Hüttenviertel nehme ich an. Wahrscheinlich wird er jetzt eine Weile dort bleiben, um sich zu stärken und weil die Hüttenviertel bessere Verstecke bieten, als die Straße zu den Pässen."
Sonea atmete innerlich auf. Also befanden sie sich noch in der Stadt. Sie verspürte keine allzu große Lust auf eine Verfolgungsjagd zur Grenze. Und das möglicherweise per Pferd. Bei ihren Reitkünsten würden Ikaro und Savara zu ihren Feinden entkommen. Zugleich verspürte sie jedoch auch eine nagende Furcht, die allmählich größer wurde.
Es war das erste Mal seit dem Unfall, dass sie wieder gemeinsam gegen schwarze Magier kämpfen würden.
„Endlich! Du bist zurück!" Auf Gols grobschlächtigem Gesicht spiegelte sich unendliche Erleichterung wider. „Wenn du hörst, hier alles los war, während du bei den Magiern warst …" Er hielt inne und seine Augen weiteten sich, als er sah, wer hinter Cery das Zimmer betrat. „Lord Akkarin, Lady Sonea", stammelte er und verneigte sich unbeholfen.
Sonea runzelte die Stirn. „Sonea genügt", sagte sie. „Ich bin nur Novizin, auch wenn die Roben etwas anderes suggerieren mögen."
Sie scheint zu viel Ansehen nicht zu mögen, fuhr es Cery durch den Kopf. Es hätte ihn jedoch gewundert, wenn sie es täte.
Er wandte sich zu Gol. Als Cery zusammen mit seinen beiden Begleitern sein Büro betreten hatte, hatte er seinen Leibwächter dort unruhig auf und ab tigernd vorgefunden. Den großen Mann brachte sonst nichts so schnell aus der Ruhe. „Was ist passiert?", fragte er, obwohl er glaubte, die Antwort bereits zu kennen.
Gol warf einen zögernden Blick zu den beiden schwarzen Magiern. „Das sollten wir besser allein besprechen, Chef."
„Akkarin und Sonea wissen Bescheid", sagte Cery. „Deswegen sind sie hier."
Sein Leibwächter wirkte für einen Augenblick verwirrt, nickte dann aber. „Kaum, dass du fort warst, hat sie sich wieder davon geschlichen", erzählte er dann. „Ich war grad' auf der Wache, um dich zu vertreten und hab's nur durch Kerran und Bulkin erfahren. Sie ha'm versucht, sie zu verfolgen, doch sie's ihnen entwischt."
Cery stieß einen rüden Fluch aus. „In welche Richtung ist sie geflohen?"
„In Richtung des Hafens und der Märkte."
Also in die Richtung, in die das Gefängnis lag. Sie hatte wahrhaftig keine Zeit verschwendet.
„Ich dacht', vielleicht wollt' sie nur wieder so'n heißen Fummel einkaufen und kommt zurück, wenn's dunkel wird, weil dann die Märkte schließen", fuhr Gol fort. „Aber sie's noch immer nicht zurück. Vor zwei Stunden brach dann das Chaos aus. Die richtige Stadtwache hat uns in Alarmbereitschaft versetzt, weil aus'm Gefängnis 'n gefährlicher Mörder ausgebrochen ist. Alle Diebe ha'm ihre Nachtstreifen heut' Nacht deswegen verstärkt. Ich hab' sofort 'nen Kurier zur Gilde geschickt, um dich zu warnen."
Cery seufzte. „Der Ausbrecher ist ein Sachakaner von der ganz üblen Sorte", klärte er seinen Leibwächter auf. „Savara hat ihm geholfen. Nur deswegen ist sie zurückgekommen." Der Kurier hatte ihn indes nicht erreicht. Als er zurückrechnete, wusste er auch warum. Zu diesem Zeitpunkt war er bereits bei der Einsatzbesprechung der Magier gewesen.
Gol erbleichte. „Hai! Deswegen also ihre heimlichen Streifzüge durch die Stadt!"
Cery nickte düster. „Genau."
Mit wenigen Worten brachte er seinen Leibwächter auf den neusten Stand. Er erklärte ihm, dass Akkarin und Sonea den Auftrag hatten, Savara und ihren Landsmann ausfindig zu machen und zu töten, und was auf dem Spiel stand, wenn sie entkamen. Und dass sie deswegen die Hilfe der Diebe brauchten. Gol hörte ihm mit wachsendem Entsetzen zu.
„Hab' ich was vergessen?", wandte er sich an die beiden schwarzen Magier, nachdem er geendet hatte.
„Nein." Akkarin sah zu Gol. „Wie viele Männer patrouillieren heute Nacht in den Hüttenvierteln?"
„Von uns'ren Leuten zwölf. Die Nachtstreifen sind eigentlich nur sechs Mann. Das's so Vorschrift. Heute Nacht mussten jedoch auch die von der Tagesschicht wieder 'raus."
„Einzeln oder in Gruppen?"
„Die Streifen sind immer zu zweit."
„Also gibt es sechs Gruppen je Bezirk?"
Gol nickte. „Ravi und Limek ha'm mehr Leute, glaub' ich. Aber die hatten vorher schon mehr."
„Wie viele?"
Cerys Leibwächter zuckte mit seinen massigen Schultern.
„Zusammen werden es nicht mehr als vier Gruppen sein", half Cery nach. Er wusste, Ravi beschäftigte mehr Männer, weil er unter Verfolgungswahn litt und Limek, weil er einen Teil der Märkte kontrollierte.
Akkarin runzelte die Stirn. „Was ist mit Kurieren?"
„Wir haben fünf. Falls Ihr mehr braucht, lassen sich die schnell auftreiben."
„Gut. Schick so viele Kuriere wie möglich los, um sämtliche Patrouillen in Cerys Wachhaus zu versammeln. Auch die der anderen Diebe. Sie sollen dort auf neue Anweisungen warten." Gol nickte nur und eilte los. „Ceryni, ich hoffe, du hast ein paar Gläser, die du entbehren kannst", wandte Akkarin sich an ihn. „Je mehr, desto besser."
Sonea sah zu ihrem Gefährten. „Du hast doch nicht etwa vor … ?", begann sie.
Akkarin beugte sich zu ihr hinab. „Doch genau das habe ich", sagte er leise. „Wir müssen handlungsfähig und flexibel sein."
Sie schenkte ihm ein finsteres Lächeln.
Cery ahnte, was die beiden vorhatten. „Braucht ihr noch irgendwas anderes?", fragte er.
„Wenn du uns noch zwei Schüsseln und zwei saubere Tücher, bringen könntest, wäre das wunderbar", antwortete Sonea.
„Kommt sofort." Cery verschwand, um das Gewünschte zu bringen. Als er mit einer Kiste voller Gläser und den übrigen Dingen zurückkehrte, hatten Akkarin und Sonea bereits zu beiden Seiten seines Schreibtischs Platz genommen und die darauf herrschende Unordnung zur Seite geschoben.
Cery setzte die Kisten auf dem Boden ab. Die beiden Schalen, die er gefunden hatte, stellte er in die Mitte des Tisches und legte die Tücher daneben.
„Sonea und ich werden jetzt Blutjuwelen herstellen", erklärte Akkarin. „Wir werden ein Juwel an jede Patrouille verteilen. So werden wir sofort erfahren, wenn jemand etwas Verdächtiges bemerkt."
Hoffentlich stellen die Patrouillen sich bei dem Gebrauch nicht allzu dumm an, dachte Cery. Die meisten fürchteten alles, was mit Magie zu tun hatte. Doch es war eine brillante Idee. Auf diese Weise konnten sie Savara und diesen Spion rasch finden.
Cery setzte sich auf einen freien Stuhl. Mittlerweile hatten Akkarin und Sonea die ersten Gläser aus der Kiste geholt. Akkarin zerschlug sein Glas an der Tischkante und sammelte die Scherben in der Schale. Sonea tat es ihm mit nach.
Bei diesem Anblick verzog Cery das Gesicht. Meine schönen Weingläser, dachte er verärgert, während er beobachtete, wie die beiden Glas für Glas zerbrachen. Vielleicht sollte ich für's nächste Mal wertloses Glas besorgen, das sie zertrümmern können.
„Die Gilde wird für den entstandenen Schaden aufkommen."
Cery zuckte ob Akkarins Worten zusammen. Er wollte lieber nicht wissen, ob der schwarze Magier gerade seine Gedanken gelesen hatte. Schaudernd versuchte er, sich auf etwas anderes zu konzentrieren. Doch sein Denken wurde von Savara und ihrem Verrat beherrscht. Und daran wollte er im Augenblick noch weniger denken, als an die Zerstörung seines Eigentums. Also beschränkte er sich darauf, die beiden schwarzen Magier bei der Herstellung der Blutjuwelen zu beobachten.
Sonea hatte ihren Dolch genommen und zog ihn fest über ihre Handfläche. Voll Bewunderung stellte Cery fest, dass sie dabei nicht einmal mit der Wimper zuckte. Ebenso wenig wie ihr Gefährte, vom dem Cery allerdings auch nichts anderes erwartet hatte. Fasziniert beobachtete Cery, wie aus dem Schnitt dickes, rotes Blut in ihre Schale mit den Scherben tropfte.
„Ich denke, das reicht", sagte Akkarin schließlich.
Sonea nickte und binnen weniger Augenblicke verschwand die Wunde. Sie wischte ihre Hand und den Dolch an ihrem Tuch sauber und starrte dann konzentriert auf ihre Schale. Mehrere lange Minuten verfolgte Cery, wie die beiden Tropfen aus Blut und geschmolzenem Glas emporschweben ließen und in der Luft zu kleinen Kugeln formten, die sie auf einer freien Fläche auf dem Tisch sammelten.
Endlich waren alle Blutjuwelen hergestellt. Akkarin nahm ein Tuch und schlug die roten Steine darin ein. Einen legte er jedoch beiseite.
„Hier", sagte er und warf es Cery zu. „Berühre ihn und denke intensiv, an was immer du möchtest."
Geschickt fing Cery den Stein auf. „Wozu?", fragte er.
„Zu Demonstrationszwecken." Er wandte sich zu Sonea. „Bevor wir sie verteilen, muss ich dir zeigen, wie man die Gedanken der Träger ausblendet", erklärte er ihr. „Sie werden ein Chaos in deinem Kopf auslösen, wenn du deine Blutjuwelen nicht kontrollieren kannst. Du musst diese Technik beherrschen, wenn du nur die wichtigen Informationen herauslesen willst."
Sonea nickte ernst. „Was muss ich tun?"
„Gib mir deine Hand."
Sie gehorchte und streckte ihren Arm aus.
Akkarin nahm ihre Hand. „Schließ deine Augen", wies er sie an.
Sonea schloss ihre Augen. Der schwarze Magier nickte Cery zu. Und jetzt verstand Cery auch, was er mit dem Blutjuwel machen sollte. Sonea würde erfahren, an was er dachte und Akkarin würde ihr zeigen, wie sie es ignorieren konnte. Doch woran sollte er denken? Wofür auch immer er sich entschied – Akkarin würde seine Gedanken erfahren. Die meisten Dinge, die ihn beschäftigten, gingen den anderen Mann jedoch nichts an. Sie waren entweder geschäftlicher Natur oder zu persönlich.
Nach kurzem Nachdenken fielen Cery schließlich einige Erinnerungen aus seiner Kindheit ein, in denen er und Sonea die Hüttenviertel unsicher gemacht hatten. Sie waren über Hausdächer geklettert, hatten sich in baufälligen Baracken ein Versteck gebaut und er hatte ihr gezeigt, wie man Geld und Essen stahl. Das erschien ihm einigermaßen unverfänglich und er war sicher, Akkarin wusste über diesen Teil ihrer Vergangenheit Bescheid. Sonea würde das gewiss amüsieren. Einen tiefen Atemzug nehmend berührte er den Stein und gab sich ganz seinen Erinnerungen hin.
„Du kannst jetzt aufhören, Ceryni", erklang Akkarins tiefe Stimme schließlich.
Cery öffnete die Augen. Sonea wirkte, als sei sie gerade aus einem tiefen Traum erwacht. Als sie ihn ansah, grinste sie.
„Das war sehr gut", sagte Akkarin leise zu ihr. „Du hast das Prinzip verstanden."
Sie lächelte. „Vielen Dank, Lord Akkarin", erwiderte sie ebenso leise. Der Respekt in ihrer Stimme war echt, doch Cery glaubte in ihren Augen ein Funkeln zu sehen, als wolle sie ihn zugleich aufziehen. Er verkniff sich ein Grinsen. Diese Beziehung hatte ohne Zweifel ihre Eigenarten. Aber sie besaß eine Vertrautheit, von der er nur träumen konnte.
Akkarin erhob sich. „Wir sollten jetzt zu deinem Wachhaus gehen und auf die Patrouillen warten, Ceryni."
Cery nickte. Er erhob sich und gab Akkarin das Blutjuwel zurück. „Ich bring' Euch hin."
Sonea blickte in die Gesichter der fast einhundert Männer, die sich in dem Warteraum von Cerys Wachhaus versammelt hatten. Einen größeren Raum als diesen konnte das ehemalige Bolhaus nicht aufweisen. Um genug Platz zu schaffen, hatte man die Bänke für die Wartenden an die Wand geschoben. Wie Cery ihr erklärt hatte, lagen dahinter mehrere Befragungsräume. Im Obergeschoss befanden sich Ruheräume für die Patrouillen und die Nachtschicht sowie das Büro des Captains. Es gab außerdem einen Keller mit Zellen, die zur vorübergehenden Unterbringung von Verbrechern gedacht waren, bevor sie ins Stadtgefängnis überführt wurden.
Die Patrouillen trugen allesamt das Incal der Stadtwache und die obligatorischen Kebin. Bis auf die von der Stadtwache gestellten Männer, von denen es zwei je Bezirk gab, trugen sie jedoch keine Uniform, was irgendwie seltsam wirkte. Soneas Vorstellungskraft versagte, als sie versuchte, sich diese Männer in den Uniformen der Stadtwache vorzustellen und fragte sich, wie es erst den Hüttenleuten ergehen würde, wenn es soweit war.
Dass das hier nun ein bedeutender Teil von Cerys Leben war, war für Sonea noch immer seltsam Professionalität, die Cery im Umgang mit den Patrouillen zeigte, zeugte jedoch davon, dass ihm diese Arbeit gefiel. Für Sonea war das indes keine Überraschung. Alle Diebe kümmerten sich trotz ihrer zwielichtigen Geschäfte um das Wohl der Hüttenleute. Dadurch, dass sie nun zur Stadtwache gehörten, besaßen sie ganz neue Möglichkeiten, ihren Schutzbefohlenen Sicherheit zu geben.
Cerys Kuriere hatten ganze Arbeit geleistet. Es hatte nicht lange gedauert, die komplette Stadtwache der Hüttenviertel zu versammeln. Kurz nachdem Sonea und Akkarin das Wachhaus erreicht hatten, waren auch die letzten Männer eingetroffen und sie hatten mit der Einsatzbesprechung beginnen können.
Akkarin hatte sich vor den Schreibtisch gestellt, an dem für gewöhnlich immer eine Wache saß und die Leute registrierte, die mit einem Anliegen kamen, und erteilte den Patrouillen neue Anweisungen. Die Männer lauschten ihm derweil gebannt und ehrfurchtsvoll.
„Wir nehmen an, dass sie sich die Unübersichtlichkeit der Hüttenviertel zunutze machen, um für ein paar Tage unterzutauchen, bevor sie die Stadt verlassen", sagte Akkarin gerade. „Es ist wahrscheinlich, dass die Frau Kenntnisse über die Straße der Diebe besitzt, was bedeutet, dass wir auch dort Patrouillen brauchen. Diejenigen, die die Straßen und Gassen durchkämmen, sollen besonders die Zugänge zu den Tunneln im Auge behalten.
„Der Mann hat ungefähr meine Größe, ist jedoch von sehr viel kräftigerer Statur. Er hat die für Sachakaner typische breite Stirn, schwarze, schulterlange Haare und seine Haut hat einen leichten Goldton. Zuletzt trug er einen Bart, den er sich während der Flucht jedoch abrasiert haben könnte. Er ist äußerst gefährlich und schreckt weder vor Gewaltanwendung noch vor Mord zurück. Da die Blockade seiner magischen Kräfte aufgehoben wurde, wird er töten, um sich zu stärken. Seine früheren Opfer hat er brutal zugerichtet, nachdem er ihnen mit einem oberflächlichen Schnitt am Hals die Magie genommen hat. Doch er tötet auch ohne die Absicht, seine magische Stärke vergrößern zu wollen."
Einige Wachen schnappten entsetzt nach Luft.
„Solltet ihr unterwegs auf Leichen stoßen, achtet besonders auf Verletzungen im Halsbereich oder an den Handgelenken, die aussehen, als wären sie zu gering um jemanden zu töten", fuhr Akkarin fort. „Sollten er und die Frau in Eile sein, wird das alles sein, was auf ihn hinweist."
Er nickte Cery zu, der auf Soneas anderer Seite stand.
„Die Frau ist klein", begann ihr Freund. „Sie's etwa 'nen halben Kopf größer als ich. Sie hat lange schwarze Haare, die sie meistens zu 'nem Zopf trägt. Ihre Augen sind mandelförmig. Auch sie hat 'ne breite Stirn und 'ne dunklere Haut. Sie's schlank und ziemlich gutaussehend. Sie bewegt sich sehr geschmeidig. Wie unser Flüchtling ist sie sehr gefährlich, vor allem mit'm Messer. Allerdings hat sie keine Neigung zu Brutalität oder sinnlosem Töten. Ihr Verhalten im Gefängnis zeigt, dass sie nur tötet, wenn's sich nicht vermeiden lässt. Meiner Meinung nach ist sie trotzdem 'ne gefährliche Killerin."
Als er zu Akkarin sah, lag in seinen Augen eine Härte, die Sonea erschaudern ließ. Wie schrecklich muss es für ihn sein, seine Geliebte zu einer unberechenbaren Verbrecherin zu erklären?, fuhr es ihr durch den Kopf. Nichtsdestotrotz war Cerys Rede sehr professionell gewesen und erinnerte bis auf den Hüttenslang gar nicht mehr an den Cery, wie sie ihn kannte. Er hatte es wirklich weit gebracht, erkannte Sonea mit leisem Stolz.
„Es ist möglich, dass beide Umhänge tragen, um nicht erkannt zu werden", fuhr Akkarin fort. „Die Frau trägt wahrscheinlich ein Messer wie dieses an ihrem Gürtel." Er hielt seinen juwelenbesetzten Dolch so, dass alle ihn sehen konnten. „Auch der Mann trägt ein Messer, das er einem Gefängniswärter entwendet hat. Wenn eine Gruppe einen Mann und eine Frau entdeckt, auf die die Beschreibung zutrifft, so möge sie ihnen unauffällig folgen und Meldung an mich und Sonea mit Hilfe dieser Juwelen machen."
Akkarin schlug das Tuch auseinander, in dem er die Blutjuwelen transportiert hatte. Einige Männer sogen überrascht die Luft ein. Er reichte Sonea das Tuch und sie nahm es vorsichtig entgegen.
„Jede Patrouille erhält nun einen dieser Steine", fuhr er fort, während Sonea durch die Reihen der Männer ging und die Blutjuwelen verteilte. „Der Gebrauch ist einfach. Um Meldung an uns zu machen, genügt es, das Juwel zu berühren und die entsprechenden Worte zu denken, anstatt sie laut auszusprechen. Sonea und ich werden eure Gedanken hören und zudem alles sehen und hören, das ihr hört und seht. Berührt daher das Juwel nur, wenn ihr uns etwas Wichtiges mitzuteilen habt, und jede Viertelstunde, damit Sonea und ich euch wenn nötig neue Anweisungen geben können. Nachdem ihr Meldung gemacht habt, haltet den Kontakt und wartet auf unsere Befehle. Erschreckt nicht, wenn ihr meine oder Soneas Stimme in eurem Kopf hört." Ein paar Männer murmelten etwas Unverständliches, das nicht sehr erfreut ob dieser Vorstellung klang. „Sobald die beiden Sachakaner gefasst sind, gebt die Blutjuwelen an Ceryni. Von einem Verkauf würde ich abraten. Sie bestehen aus Glas und sind somit wertlos."
Sonea spürte eine heftige Enttäuschung ob dieser Worte. Erst dann wurde ihr bewusst, dass es nicht ihre eigenen Gefühle waren. Sie sah sich um. Einige Männer spielten gedankenverloren mit den roten Kugeln.
„Das ist wirklich nur Glas?", raunte ihr der Mann vor ihr zu.
Sie nickte. „Glas und Blut."
Seine Augen weiteten sich. „Blut?"
„Nur so könnt ihr darüber zu uns sprechen", erklärte sie.
Der Mann erschauderte kurz und steckte den Stein dann wortlos in seine Hosentasche.
Nachdem Sonea das letzte Blutjuwel verteilt hatte, kehrte sie zurück an Akkarins Seite.
„Bevor Ceryni euch euren Suchbereich zuteilt, solltet ihr euer Blutjuwel testen", sagte Akkarin.
Er wies die Patrouillen an, einzeln vorzutreten. Beide Männer mussten nacheinander ihr Blutjuwel berühren und einen einfachen Satz in Gedanken formulieren. Bei den meisten funktionierte das auf Anhieb. Sonea versuchte sich zu merken, welche Gruppen mit ihren Blutjuwelen ausgestattet waren, doch sie verlor bald den Überblick.
Anschließend schickte Cery die Patrouillen zurück zu ihren Bezirken. Zwei Männer je Bezirk sollten den entsprechenden Teil der Straße der Diebe absuchen, während die anderen in das Gewirr der Hüttenviertel entlassen wurden.
„Wir hätten den Kriegern an den Stadttoren auch Blutjuwelen geben sollen", murmelte Sonea.
„Das hätten wir", stimmte Akkarin zu. „Aber die Magier hätten erst darüber diskutieren wollen. Zudem bezweifle ich, dass sich die beiden Flüchtlinge in der Nähe der Stadtmauer sehen lassen werden."
Sonea seufzte. „Damit hast du wohl recht." Sie beobachtete, wie die letzten Männer das Wachhaus verließen. „Und was werden wir jetzt tun?", fragte sie. „Bleiben wir hier und warten darauf, dass sie etwas finden?"
Akkarin schüttelte den Kopf. „Wir beginnen unsere eigene Suche. Wir können ebenso gut auf ihre Nachrichten reagieren, wenn wir unterwegs sind."
Sonea nickte. Das war auf jeden Fall besser, als hier zu sitzen und zu warten.
„Ceryni, wo würde Savara sich in einer Situation wie dieser verstecken?", wandte Akkarin sich an ihren Freund. „Gibt es einen Ort in der Stadt, zu dem sie gehen würde, wenn sie in Schwierigkeiten steckt? Ein anderer Ort als dein Versteck?"
Cery runzelte die Stirn. „Es gibt'n paar Stellen, wo sie sein könnte", antwortete er schließlich. „Ich kann mir aber nicht vorstellen, dass sie dort ist."
„Wir werden sehen", erwiderte Akkarin. „Das wäre zumindest ein Anfang."
Wenn Cery daran zurückdachte, wie entsetzt er gewesen war, als der ehemalige Hohe Lord Sonea das erste Mal mitgenommen hatte, um einen sachakanischen Spion zu verhören, überraschte ihn seine damalige Aufregung nun. Sonea hatte es von dem kleinen hilflosen Mädchen zu einer gefürchteten Magierin gebracht. Sie konnte auf sich selbst aufpassen und sie hatte Akkarin.
Wahrscheinlich ist sie an seiner Seite sogar sicherer als an jedem anderen Ort, fuhr es Cery durch den Kopf. Akkarin war der stärkste Magier der Gilde, die Spione, die er jahrelang gejagt hatte, hatten ihn gefürchtet. Und das nicht ohne Grund. Dieser Mann war nicht nur der mächtigste Gildenmagier – er war auch der gefährlichste.
Und es war so viel besser, dass sie an dieser Suche teilnahm. Akkarin war noch immer verärgert, weil Cery ihm Savaras Existenz verschwiegen hatte. Wäre er mit dem schwarzen Magier alleine gewesen, so hätte er sich noch viel unbehaglicher gefühlt. Soneas Gegenwart wirkte wie ein weiches Polster, das den Zorn des anderen Mannes zu dämpfen schien.
Hoffentlich kann sie Savaras Tod verhindern. Sonea hatte ein weiches Herz. Vielleicht konnte sie Akkarin überreden, Savara zu verschonen und stattdessen ihre Kräfte zu blockieren. Schließlich war es nicht sie gewesen, die die Gefängniswärter getötet hatte. Ein Teil von Cery weigerte sich noch immer zu glauben, dass sie an dem Gefängnisausbruch ihres Landsmanns beteiligt gewesen sein sollte. Aber er konnte auch nicht glauben, Savara habe sich auf dem Rückweg von den Märkten nur in den Tunneln verlaufen.
Nein, sie hatte ihn schamlos ausgenutzt und hintergangen.
Und trotzdem konnte er den Gedanken, dass sie dafür sterben musste, nicht ertragen.
Nachdem sie über eine Stunde die Hüttenviertel durchstreift hatten, hatten sie noch keine Spur von Savara oder dem Spion gefunden. Hin und wieder hielten Akkarin und Sonea inne, wenn eine der Streifen ihnen Meldung machte. Bis jetzt war das indes immer falscher Alarm gewesen. Auch in den Verstecken, zu denen er Akkarin und Sonea geführt hatte, hatten sie nichts gefunden, was darauf hinwies, dass sich dort jemand in den letzten Tagen aufgehalten hatte.
Cery wusste nicht, ob ihn das erleichtern sollte. Je länger es dauerte, bis sie Savara und diesen Spion fanden, desto länger blieb sie am Leben. Doch zugleich würden Menschen sterben, weil sich der Spion stärken würde. Vielleicht hatten er und Savara die Stadt bereits verlassen. Und das war beinahe noch schlimmer. Beide hatten in Imardin vermutlich genügend Informationen gesammelt, die besser nicht in die Hände der Sachakaner gerieten. Cery konnte nur ahnen, was das war. Dass die Gilde von den Plänen der Sachakaner wusste? Oder die Bestätigung, dass die Gilde tatsächlich nur zwei schwarze Magier hatte und diese wie Gefangene hielt?
Cery gefror das Blut in den Adern. Egal, wie er für Savara empfand, er sah es als seine Pflicht, Akkarin und Sonea zu helfen, einen Krieg mit Sachaka zu verhindern oder zumindest hinauszuzögern. Wenn es stimmte, was Sonea ihm erzählt hatte, dann würde die Invasion der Ichani im Vergleich dazu nur ein Schwarm Agamotten gewesen sein.
Ich wünschte, diese Jagd wär' schon vorbei, dachte er ein Seufzen unterdrückend. Dann wüsste ich wenigstens, woran ich bei Savara bin.
Vor ihnen tauchten Lichter auf, die in der Luft zu schweben schienen. Es roch nach Salz, Schlick, fauligem Wasser und totem Fisch.
Sie waren am Hafen.
Diesen Ort hatte Cery sich für zuletzt aufgespart. Savara wusste von seinem Boot. Er hatte sie einmal für ein paar Stunden mit hinaus aufs Meer genommen. Nach den Schneestürmen der vergangenen Woche war der Hafen jedoch zugefroren und die Gilde hatte noch keine Magier geschickt, um ihn von dem Eis zu befreien. Trotzdem war es möglich, dass sie sich mit dem Spion dort versteckte. Es war nicht gerade ein Ort, an dem man nach ihr suchen würde.
„Ist das der Hafen?", fragte Sonea. Ihr Blick war auf etwas weit über ihren Köpfen gerichtet und ihre Miene drückte offenkundige Verwirrung aus. „Wieso hängen diese Laternen in der Luft?"
„Sie hängen an den Schiffsmasten", antwortete Akkarin. „Es sind Positionslichter."
„Aber das Wasser ist zugefroren", wandte sie ein. „Sie können doch gar nicht auslaufen."
„Ich nehme an, die Besatzungen lassen sie brennen, damit sie sich auf ihren Schiffen zurechtfinden."
„Warum wundert es mich nicht, dass du solche Dinge weißt?", murmelte sie trocken.
Akkarin erwiderte nichts darauf und Cery erhielt den Eindruck, dass sie sich aus irgendeinem Grund auf seine Kosten amüsierte. Er schüttelte den Kopf. Die Beziehung der beiden war wirklich seltsam.
Der schwarze Magier wandte sich ihm zu. „Wieso glaubst du, sie würden sich im Hafen verstecken?"
„Ich hab'n Boot", antwortete Cery. „Sie weiß davon. Vielleicht denkt sie, sie wär' hier sicher."
Er bedeutete den beiden schwarzen Magiern, ihm zu folgen. Sie passierten mehrere Piers, an denen größere Handelsschiffe von Übersee ankerten. Nach ungefähr einhundert Schritt erreichten sie den Bereich für die Privatyachten. Die Boote, auf deren Rumpf neben den Namen ein Incal gemalt war, gehörten Leuten aus den Häusern. Andere hatten reiche Kaufleute aus einem der Stadtviertel als Besitzer. Und eines gehörte einem Dieb.
Einen Anflug von Stolz verspürend bog Cery auf einen schmalen, schneebedeckten Steg ab, auf dem sie hintereinandergehen mussten.
„Keine Spuren", hörte er Akkarin hinter sich murmeln.
„Sie könnten sich levitiert haben", sagte Sonea.
„Möglich", sagte er. Er schien nicht wirklich überzeugt.
Sie erreichten das Ende des Stegs.
Stolz wies Cery auf das kleine Schiff zu ihrer Linken. „Das hier's die Pantoffelmädchen", sagte er mit gesenkter Stimme.
Soneas Augen weiteten sich. „Das ist ja eher eine kleine Yacht!", hauchte sie hingerissen.
Cery lächelte schief. Anscheinend hatte er nicht zu viel versprochen, als er ihr wenige Stunden zuvor das Angebot gemacht hatte, sie und Akkarin damit zu einer Insel zu fahren. Als er daran zurückdachte, konnte er kaum glauben, dass dies am selben Tag gewesen war.
Er machte einen Schritt auf die Landebrücke. „Ich geh' voran", erklärte er. „Wenn sie euch als Erstes sieht, wird sie nicht kooperieren. Sie vertraut mir."
Er schritt zum Deck und sah sich um. Auch hier war alles mit Schnee bedeckt. Nichts deutete darauf hin, dass in den letzten Stunden jemand hier gewesen war.
„Sie sind nicht hier gewesen." Seufzend ließ Sonea sich auf eine Kiste fallen. Sie wirkte frustriert und erschöpft. Cery setzte sich ihr gegenüber. Akkarin begann derweil mit finsterer Miene auf dem Deck auf und ab zu schreiten.
Plötzlich hielt er inne. Sein Blick glitt ins Leere.
„Bekommt er gerade Nachricht von 'ner Streife?", fragte Cery leise.
Sonea schüttelte den Kopf. „Nein, daran würde er mich durch seinen Ring daran teilhaben lassen."
„Aber was macht er dann?"
Sie hob die Schultern. „Ich glaube, er versucht sie zu spüren."
„Wie?", fragte Cery neugierig. „Ich dachte, Magier verbergen ihre Aura."
„Akkarin hat einige ziemlich unheimliche Fähigkeiten", antwortete sie. „Wie das mit dem Gedankenlesen. Er kann aber auch spüren, wenn ein anderer Magier Magie wirkt. Das ist so ähnlich, als hättest du ein ganz besonders gutes Gehör oder sehr scharfe Augen."
Cery verspürte einen leisen Neid. Er besaß kein magisches Potential und würde diese Fähigkeiten niemals erwerben können. Aber wenn ich sie hätte, wär' ich wirklich der mächtigste Dieb der Stadt!
Plötzlich zuckte Sonea zusammen.
„Was ist?", fragte er.
Sie antwortete nicht.
Cery warf einen Blick zu Akkarin. Der schwarze Magier wirkte mit einem Mal angespannt. Cerys Herz setzte einen Schlag aus. Wenn sie beide es spürten, dann musste eine Patrouille etwas entdeckt haben.
Schließlich löste Akkarin sich aus seiner Starre und trat zu ihnen. „Wir haben sie", teilte er Cery mit. „Sie sind in Gorins Bezirk am anderen Ende der Hüttenviertel. Die übrigen Patrouillen werden …"
Er brach ab. Im gleichen Augenblick keuchte Sonea auf. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie auf einen Punkt in der Takelage.
Das kann nichts Gutes bedeuten, fuhr es Cery durch den Kopf. Die Reaktion der beiden Magier erfüllte ihn mit Furcht.
„Die Patrouille ist tot", hauchte Sonea. „Ich habe ihnen gesagt, sie sollen sich verstecken … aber es war zu spät …" Sie atmete viel zu schnell und ihr Oberkörper begann zu zittern.
Mit wenigen Schritten war Akkarin bei ihr. Er fasste sie sanft an den Schultern und richtete sie auf, bis sie gerade saß. „Atme ganz tief und langsam", wies er sie an.
Sie gehorchte ohne Protest. Allmählich wurde sie wieder ruhiger.
„Wer von ihnen hat …?", begann Cery. Den Rest der Frage konnte er nicht über die Lippen bringen. Allein die Vorstellung, es könnte Savara gewesen sein, war zu entsetzlich.
„Es war Ikaro", antwortete Akkarin. „Sonea hat aus der Perspektive des Mannes, der das Blutjuwel hatte, gesehen, wie sein Partner von Ikaro getötet wurde. Anschließend hat sie erlebt, wie der Spion auch ihn getötet hat, so als wäre sie an seiner Stelle gewesen. Sie hat dieses Blutjuwel hergestellt. Sie hat die Todesangst des zweiten Opfers unverfälscht und in ihrer vollen Stärke gespürt."
„Ich konnte es nicht mehr ausblenden", flüsterte sie. „Es war zu intensiv."
Cery erschauderte. „Dann wissen sie jetzt, dass sie gejagt werden?"
„Ikaro hat die Gedanken der Patrouille nicht gelesen. Wahrscheinlich hat er sie für eine gewöhnliche Nachtstreife gehalten. Sollte er jedoch das Blutjuwel gefunden haben, wird er Bescheid wissen."
„Wir sollten uns beeilen", sagte Sonea tonlos. Sie und Akkarin tauschten einen Blick. Dann reichte er ihr eine Hand und zog sie auf die Füße.
„Ceryni, kannst du uns Pferde besorgen?", fragte Akkarin.
Cery erhob sich. Trotz des gerade erlebten Schreckens verspürte er eine unendliche Erleichterung. Dieser Albtraum würde bald zu Ende sein. Und es war nicht Savara gewesen, die die Morde begangen hatte! Er sah die beiden schwarzen Magier an und lächelte schief.
„Nix leichter als das!"
Während der letzten halben Stunde waren sämtliche Patrouillen in die Richtung von Gorins Bezirk vorgerückt. Sonea und Akkarin hatten die Männer, die auf der Straße der Diebe unterwegs waren, in den Tunneln unter jenem Areal zusammengezogen. Die Übrigen umkreisten gerade die Gegend, wo zwei von Gorins Männern hinter den Sachakanern herschlichen.
In einem Bolhaus am Hafen hatte Cery mit seiner Autorität als Stadtwache drei Pferde geborgt, auf denen sie nun durch die engen, sich windenden Straßen der Hüttenviertel galoppierten. Sonea schwante, dass eine Gefälligkeit bei dem Borgen der Pferde ebenfalls eine Rolle gespielt hatte.
Zu dieser Stunde waren die Straßen wie ausgestorben, die schäbigen Häuser huschten wie dunkle Schatten an ihnen vorbei. Nur ein paar Betrunkene wankten aus den Bolhäusern, die sie passierten. Es musste bereits früher Morgen sein, wenn auch noch zu früh, als dass die Bäcker und Marktarbeiter ihr Tagewerk begannen. Zu Soneas Erleichterung würde dieser Ritt nur kurz sein. Sie war nicht erpicht darauf, Magie verschwenden zu müssen, um sich zu heilen, weil ihre Oberschenkel aufgescheuert waren und sie nicht mehr laufen konnte.
Immer wieder blitzten Bilder der Wachen in Gorins Bezirk, die auf Leichen von Ikaros Opfern gestoßen waren oder glaubten, die Flüchtigen gesichtet zu haben, in Soneas Geist auf. Sie kamen entweder direkt von den Männern, die ihre Blutjuwelen trugen, oder waren von Akkarin an sie weitergeleitet. Jedes Mal hielt Sonea entsetzt den Atem an und bereitete sich darauf vor, den Tod einer weiteren Wache hautnah mitzuerleben. Der Schrecken über den Tod der beiden Männer, während sie auf Cerys Boot gewesen waren, saß ihr noch immer zu tief in den Gliedern.
Nach diesem Vorfall hatten sie die übrigen Patrouillen zu Vorsicht angehalten und diese angewiesen, den Kontakt über die Blutjuwelen zu halten. Die Anspannung der Männer, die dabei waren, die beiden Sachakaner einzukreisen, war seitdem für Sonea nur schwer auszublenden. Selbst, nachdem sie sie verdrängt hatte, schien sich ihre eigene Nervosität vervielfacht zu haben.
Ein Bild von zwei verhüllten Gestalten in einer engen, finsteren Gasse blitzte vor ihren Augen auf.
- Das müssen sie sein!
- Ja, das sind sie, bestätigte Sonea, sich an die entsetzliche Szene wenige Minuten zuvor erinnernd. Seid vorsichtig. Wenn sie euch sehen, werden sie euch töten.
- Mein Partner's zum anderen Ende der Straße unterwegs. Er kennt 'nen Schleichweg.
- Nein! Hol ihn zurück. Bleibt zusammen.
- Sonea, es ist zu spät, sandte Akkarin. Sieh nur.
Am anderen Ende der Gasse tauchte eine einzelne Gestalt auf, die langsam näher kam.
Oh nein, dachte Sonea. Es gab nichts, was sie tun konnte, um die Katastrophe zu verhindern. Spätestens bei der zweiten Nachtstreife mussten die Sachakaner misstrauisch werden. Nur vage bekam sie mit, wie Akkarin seine Hälfte der Patrouillen zu dieser Straße beorderte.
„Wie weit ist es noch?", hörte sie Akkarin fragen.
„Keine fünf Minuten mehr", antwortete Cery.
Das brachte Sonea ein Stück zurück aus der Starre, in die sie gefallen war.
- Wie ist dein Name?, fragte sie den Mann in der Gasse.
- Voril.
- Gut, Voril. Egal, was gleich geschehen wird, bleib wo du bist und versteck dich. Wir sind gleich da. Halte solange durch.
- Wir sind befreundet. Ich kann ihn nicht im Stich lassen.
- Voril, das sind Sachakaner. Wenn dein Freund ihre Aufmerksamkeit erregt, werden sie ihn töten, egal was du versuchst. Und sobald sie bemerken, dass er nicht alleine ist, werden sie dich ebenfalls töten.
Sie konnte Vorils Angst spüren, als wäre es ihre eigene. Sonea atmete tief durch und schob sie beiseite. Durch den Ring beobachtete sie, wie Voril sich im Schatten eines Hauseingangs verbarg, so dass er das Geschehen auf der Straße weiter verfolgen konnte. Sonea unterdrückte ein Seufzen. Es wäre ihr lieber gewesen, hätte er diesen Ort verlassen. Aber so konnten sie wenigstens sehen, was die Sachakaner taten.
Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass Voril in Sicherheit war, sandte sie ihre Hälfte der Patrouillen ebenfalls zu dieser Gasse. Inzwischen befand sich die komplette Stadtwache der Hüttenviertel in Gorins Bezirk. Es war den Sachakanern nun nahezu unmöglich, unbemerkt zu entkommen.
Ohne Vorwarnung spürte Sonea plötzlich eine Panik, die nicht die ihre war. Sie sog scharf die Luft ein. Dann erinnerte sie sich wieder an das, was Akkarin sie einige Stunden zuvor gelehrt hatte. Sich auf sich selbst konzentrierend kontrollierte sie ihre Atmung und ihren Puls, bis sie wieder klar denken konnte.
Dann warf Sonea einen Blick durch Vorils Blutjuwel und ihr Herz setzte einen Schlag aus.
Sein Partner war die Gasse entlang gekommen, als würde er einen nächtlichen Spaziergang machen. Und er und die Sachakaner standen nun inmitten der schmalen Straße. Sonea konnte nicht sagen, wer von ihnen wen angehalten hatte. Aber es spielte auch keine Rolle mehr.
„Sie haben eine Patrouille", sagte sie laut. „Wie lange dauert es noch, bis wir da sind?"
„Noch zwei Querstraßen", antwortete Cery.
Als Sonea ihren Fokus wieder auf Voril richtete, lag sein Partner auf dem zertrampelten Schnee in der Gasse. Die beiden Sachakaner hatten gedreht und kamen zurück. Sonea wagte kaum zu atmen. Sie hielten direkt auf Voril zu.
- Voril, können sie dich sehen?, sandte sie.
- Weiß nicht.
- Versuch ins Haus zu gelangen.
- Ja, antwortete er nur.
Sonea hoffte, er war in seiner Vergangenheit ein hervorragender Schlösserknacker gewesen. Sie warf einen Blick zu Cery. Ihr Freund wies auf die Kreuzung vor ihnen und machte eine Handbewegung nach links.
- Voril, wir kommen dich jetzt retten, sandte sie.
Voril antwortete nicht. Erst da begriff sie, dass seine Präsenz nicht mehr durch das Blutjuwel spüren konnte. Zu spät, dachte sie. Wir kommen zu spät.
- Du hast getan, was du konntest, sandte Akkarin. Diese Männer wussten, was sie riskieren. Ohne sie hätten wir sie nicht so rasch gefunden.
- Ich weiß, es ist nur ...
- Ah, die Gilde lässt ihre beiden gehorsamen Yeel raus, um uns aufzuhalten.
Sonea zuckte zusammen. Sie hatte diese kalte Stimme erst ein einziges Mal gehört, aber sie würde sie immer wiedererkennen. Sie spürte denselben Zorn in sich aufwallen, wie bei der Anhörung im Herbst.
- Ja, antwortete sie grimmig. Aber dieses Mal werden wir euch vernichten.
Ihr Blickfeld zersplitterte. Einen langen Augenblick war sie verstört, dann begriff sie, dass Ikaro das Blutjuwel zerstört hatte. Für ihn war es nutzlos. Wenn er es behielt, würde sie alles sehen können, was er tat.
Endlich erreichten sie die Kreuzung. Sonea und Akkarin zügelten ihre Pferde und sprangen ab, bevor diese ganz zum Stillstand gekommen waren. Sonea brauchte einen kurzen Augenblick, um ihr Gleichgewicht wiederzufinden. Sie eilte auf Akkarin zu und ergriff seine ausgestreckte Hand, bereit ihre Magie der seinen hinzuzufügen.
„Cery, bleib hinter uns", murmelte Akkarin.
Ihre Freund nickte nur und ließ ihnen den Vortritt.
Dann rannten sie in die Gasse auf den Hauseingang zu, wo Voril gestorben war. Auf einen Blick konnte Sonea sehen, dass die Straße vor ihnen verlassen war.
- Wir sollten vorsichtig sein, sandte Akkarin. Ikaro hat seit der Entfesselung seiner Magie siebzehn Menschen mit schwarzer Magie getötet. Möglicherweise auch mehr. Selbst wenn sie kaum magisches Potential hatten, ist er jetzt sehr viel stärker.
Über Sonea brach eine Woge von Panik herein. Dieses Mal war es jedoch ihre eigene. Sie versuchte sie zu verdrängen, so wie sie die Gefühle der Blutjuwelenträger verdrängt hatte.
- Soll ich den Schild übernehmen?, fragte sie.
- Zumindest solange ich dir nichts anderes sage, antwortete Akkarin.
- Verstanden.
Vor dem Hauseingang hielt Akkarin inne.
- Sie werden wahrscheinlich versuchen, uns in einen Hinterhalt zu locken, sandte er. Aber solange sie im Haus sind, können sie uns nicht so leicht entkommen. Halte dich hinter mir und umgib uns mit einem Schild.
Statt einer Antwort drückte Sonea seine Hand kurz, zu nervös, um Worte zu benutzen. Einen tiefen Atemzug nehmend griff sie nach ihrer Magie und umgab sie beide mit einem starken Schild. Um den mit der Schildfläche verbundenen Magieverbrauch möglichst gering zu halten, hielt sie sich so dicht hinter Akkarin, wie es möglich war, ohne dass sie einander behinderten.
Akkarin wandte sich zu Cery und machte einige Zeichen in der Sprache der Diebe. Sonea glaubte 'warte draußen' und 'Pferde' zu verstehen. Die Antwort ihres Freundes war eine rüde Geste, die zugleich bedeutete, dass er verstanden hatte. Sonea unterdrückte ein Kichern und wurde dann schlagartig wieder ernst, als Akkarin durch die aufgebrochene Haustür trat. Einen tiefen Atemzug nehmend beeilte sie sich, ihm zu folgen.
In der Dunkelheit des Hauses waren nur Schemen zu erkennen. Erst als sie Akkarin die Laterne, die Cery die ganze Zeit über getragen hatte, weiterreichte, konnte Sonea sehen, was sich in dem dahinterliegenden Raum befand.
Sie standen in einer kleinen Wohnküche. Vorils Leiche lag keine zwei Schritt entfernt auf dem Holzboden. Soneas erstarrte. Es war der Mann, der sie in Cerys Wachhaus gefragt hatte, ob die Blutjuwelen wirklich nur ans Glas bestünden – Voril. Dass sie ihn, wenn auch nur flüchtig, gekannt hatte, machte seinen Tod umso entsetzlicher.
Von den beiden Sachakanern war derweil keine Spur zu sehen. Von oben drang jedoch ein seltsames rhythmisches Geräusch.
- Sie sind im oberen Stockwerk, sandte Akkarin. Sie werden damit rechnen, dass wir sie dort suchen. Damit sie uns nicht kommen hören, schweben wir.
- Ich werde darauf achten, dass unser Schild nach unten hin dicht bleibt, antwortete Sonea.
Akkarin deutete in Richtung der Treppe, die an einer Seite hinaufführte. Akkarin stellte die Laterne auf dem Boden ab. Dann schlang er einen Arm und Soneas Taille und schuf eine Scheibe aus Magie unter ihren Füßen. Während sie in völliger Dunkelheit die Treppenstufen hinaufschwebten, klopfte Soneas Herz so laut, dass sie glaubte, die Sachakaner müssten es hören. Sie wagte kaum zu atmen und zwang sich zur Ruhe. Akkarin war bei ihr, sie waren nicht mehr so unvorbereitet wie bei der Schlacht von Imardin. Und sie hatten eine große Menge Magie aus dem Dome bezogen.
Als sie mit dem Fußboden des oberen Stockwerks auf Augenhöhe waren, hielten sie. Vorsichtig spähten sie über die Kante. Fast hätte Sonea laut aufgelacht, als ihre Furcht für einen Moment in Erheiterung umschlug. Das seltsame Geräusch, das sie von unten gehört hatte, kam von dem Bett an der gegenüberliegenden Wand. Mit ihm schlug ihr ein übler Gestank von Bol entgegen.
Im gleichen Augenblick schossen mehrere rote Lichtblitze auf sie zu. Ihr Schild erbebte unter der in ihnen steckenden Magie und ein unheilvolles Flackern erfüllte den Raum. Akkarin schwebte mit Sonea die letzten Stufen empor. Eine unsichtbare Kraft krachte in ihren Schild. Unwillkürlich zuckte Sonea zusammen.
Ihr Blick fuhr zu zwei Schatten, die sich seitlich von ihnen bewegten.
- Wir können hier nicht kämpfen, sandte Akkarin. Es ist zu gefährlich.
- Aber wir können nicht warten, bis sie uns erschöpft haben, wandte Sonea ein.
- Nein, stimmte er zu. Was auch immer ich tue, kümmer dich um unseren Schild und sieh zu, dass der Mann dort drüben nicht getroffen wird.
- Verstanden, Lord Akkarin.
Akkarin wandte sich zu den beiden Gestalten. Sein Kraftschlag schleuderte die kleinere so heftig gegen die Wand, dass diese barst und nach außen wegbrach. Ein Teil des Daches stürzte ein. Sonea streckte ihren Willen aus und warf die Trümmer auf die Straße. Dann warf sie einen Blick über die Schulter. Der Betrunkene hatte von all dem nichts mitbekommen. Flüchtig fragte sie sich, wie er reagieren würde, wenn er aufwachte und das halbe Dach und eine Wand fehlten. Dann richtete sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf das Kampfgeschehen.
Vor ihr duellierte Akkarin sich mit einer Gestalt, die ihn fast überragte. Ikaro. Also war es die Frau, die auf die Straße gestürzt war. Wir müssen ihr folgen!, war alles, was Sonea denken konnte. Wenn sie verletzt war und daran starb, würde ihre Magie das komplette Viertel auslöschen.
Bevor sie Akkarin warnen konnte, erbebte ihr Schild so heftig, dass Sonea instinktiv noch mehr Magie hineingab. Im gleichen Augenblick wirbelte Ikaro herum und warf sich durch das Loch in der Wand. Ohne Soneas Hand loszulassen, stürzte Akkarin ihm hinterher.
Der Boden raste ihnen entgegen. Ihr Aufprall erfolgte nahezu ungedämpft. Aber Sonea blieb keine Zeit, sich davon zu erholen. Kaum, dass sie gelandet waren, zog Akkarin zu der Kreuzung, von der sie gekommen waren. Während sie rannten, attackierte er den Schild des Sachakaners mit unaufhörlichen Kraftschlägen.
An der Kreuzung kam Ikaro zum Stehen.
Er rief etwas auf Sachakanisch, das „Töte ihn!" hätte heißen können. Doch in jedem Fall war er ungehalten.
Eine Frauenstimme antwortete zögernd. Dann wurde die Kreuzung von zwei Lichtkugeln erhellt. Sonea erblickte Cery bei den Pferden, die an einen Laternenpfahl gebunden waren. Vor ihm stand die Sachakanerin.
Sie war also doch nicht verletzt. Und dann begriff Sonea, was sie getan hatte. Sie hatte die Wucht des Kraftschlags ausgenutzt, um zu entkommen.
„Ceryni, gib uns die Pferde", sagte sie. Ihre Stimme klang trotz des schweren Akzents lieblich. „Ich verspreche, dir wird nichts geschehen."
„Niemals", erwiderte Cery. Sein Gesichtsausdruck war hart. „Du bist'n Squimp, Savara. Lieber sterbe ich, als dir und deinem Volk zu helfen, Kyralia zu vernichten."
- Das ist nicht gut, sandte Akkarin. Ich werde die Frau von Cery ablenken. Wenn sie und Ikaro einzeln kämpfen, kümmere dich um ihn.
Sonea konnte nur nicken. Ihre Furcht, Cery könnte etwas geschehen, drohte sie zu überwältigen. Er hätte verschwinden sollen, als wir hier ankamen. Aber das hätte ihr Freund niemals getan. Nicht, weil er eine Vorliebe für magische Duelle hatte, sondern weil er diese Frau liebte. Sie konnte nur hoffen, dass Savara genug an ihm lag, um ihn zu verschonen.
„Cery, es muss nicht so enden", sagte die Frau.
Cery biss sich auf die Unterlippe und zögerte.
„Nein, das muss es nicht", sagte Akkarin kalt. „Heute Nacht wird es keine weiteren zivilen Opfer mehr geben."
Die Frau wandte sich um. Doch anstatt anzugreifen, starrte sie Akkarin aus geweiteten Augen an.
Doch auch Akkarin schien wie erstarrt.
„Du?", stieß er hervor.
