Kapitel 34 – Joint (Ad)Venture
Die Winkelgasse lag verlassen vor ihnen. Hermine richtete ihre verrutschte Kapuze und wischte sich die Haare aus dem Gesicht. Genauso wie ihr klammer Umhang klebten sie an ihrem Körper. Sie patsche mit Lucius durch den Regen und in ihrem Lauf mussten sie immer wieder Pfützen ausweichen.
„Sieh! Da vorne!" Lucius streckte den Zeigefinger in die Ferne. „Da versucht jemand einzubrechen!"
Tatsächlich hockte eine Gestalt vor der Ladentür von Weasleys Zauberhaften Zauberscherzen und schien sich am Schloss zu schaffen zu machen. Augenblicklich begannen Hermine und Lucius zu sprinten. Der Wind blies ihnen kalt ins Gesicht und peitschte Regentropfen entgegen. Sie konnten sich keinen Umweg leisten und so rannte Hermine durch die Pfützen. Schon nach Sekunden waren ihre Schuhe und Socken durchnässt.
„Keine Bewegung!", brüllte sie der Gestalt entgegen, die schon beim Geräusch der heraneilenden Schritte wehrlos die Hände in die Höhe gehalten hatte.
„Begrüßt ihr all eure Verabredungen auf diese Weise?" Tomasz schien mit sich zu ringen und musterte abfällig die Zauberstabspitzen, die ihm entgegengestreckt wurden.
Erleichtert atmete Hermine auf. „Tomasz! Was machst du dort unten?", fragte sie und schob hinterher. „Ist alles in Ordnung?" Er sah nicht gesund aus. Seine helle Haut schien fahl und unter seinen Augen zeichneten sich dunkle Augenringe ab.
Er neigte leicht den Kopf, seine Mimik war verzerrt, beinahe angewidert. „Ich binde mir die Schnürsenkel. Mir geht es gut."
Hermine war schon drauf und dran zu fragen, wieso sich seine Hände dann auf der Höhe des Türschlosses befunden haben, da bemerkte sie sein Zittern. Er versuchte, es zu verbergen, doch es war zu stark. Beinahe schien es so, als leide er unter Krämpfen. In ihr rief es Besorgnis wach. Er gehörte in ein Bett. Von Lucius erhielt sie einen sanften Stups an die Schulter. Natürlich, es gab wichtigere Dinge und Tomasz war ein erwachsener Mann – er würde wissen, was gut für ihn war. Mit einem letzten, prüfenden Blick auf ihr Gegenüber, forderte sie ihn auf, Platz zu machen und schloss schließlich auf. „Wo ist eigentlich Viktor?", fragte sie, als sie zu dritt den trockenen Innenraum betraten.
Es kam nur ein fahriges Achselzucken. „Ihm geht es nicht gut. Er ist gestern Abend noch im strömenden Regen unterwegs gewesen und nun hat er sich eine Erkältung eingefangen. Ein oder zwei Tage Bettruhe und dann ist alles wieder in Lot."
Viktor war krank und ruhte sich aus, er aber nicht? Das mutete ihr seltsam an. „Was hat er gestern Abend gemacht? Sicher, dass du nicht auch lieber im Bett bleiben solltest? Er scheint dich ja angesteckt zu haben."
Tomasz musterte sie von oben und unten und begann, seine Schuhe abzuputzen. Der Schlamm jedoch wollte nicht weichen, gleich, wie sehr er mit einem Tuch, das er im Tresen gefunden hatte, schrubbte. „Er war einkaufen. Es ist in Ordnung. Mein Zustand ist wohl oder übel chronischer Natur."
Sie warf einen argwöhnischen Blick zu Lucius hinüber und wollte sehen, ob er ihr Unbehagen teilte. Doch er war überhaupt nicht alarmiert. Seelenruhig, man hätte ihm die Schuhe beim Laufen besohlen können, streifte er durch den Laden und betrachtete die Einzelteile der Maschine. Vielleicht war sie wirklich übertrieben vorsichtig. Sie beschloss das Ganze auf sich ruhen zu lassen, doch eine Sache machte ihr immer mehr zu schaffen: „Bist du endlich fertig? Soll ich mit einem Zauber nachhelfen?", fragte sie Tomasz, der immer schneller und heftiger über den Stoff seiner Stiefel rieb.
Er hielt in der Bewegung inne und sah von seinen schmutzigen Schuhe auf. „Nein, danke." Noch immer waren Reste des braunen Schlamms an den Schnürsenkeln, doch langsam würde er akzeptieren müssen, dass manche Flecken nicht zu bereinigen waren.
Sie wunderte sich über seinen Putzfimmel. „Hast du die Bediengungsanleitung?"
„Ja." Er kramte in seinen Rucksack und holte ein Pamphlet hinaus. „Es ist ziemlich phantastisch. Die Maschine ist ein Kombinat aus Muggeltechnik und Magie."
„Funktioniert sie überhaupt in der Gegenwart von Magie?", schoss es aus Hermine heraus. Sie bemerkte Lucius' verwirrten Blick und fügte für ihn hinzu: „Muggeltechnik funktioniert nicht, wenn sich das Gerät an einem Ort befindet, der magisch aufgeladen ist. Kleinen Mengen können sie dabei noch standhalten. Wenn ich zum Beispiel in meinem Elternhaus zaubere, passiert nichts, nehme ich jedoch Technik mit nach Hogwarts, habe ich keine Chance, das Ding zum Laufen zu bringen."
Bedächtig wackelte Lucius mit dem Kopf hin und her. Er schien es verstanden zu haben. „Also müssen wir die ganzen Teile und Bleche noch mal umräumen? An einen Muggelort?"
Sie konnte nur mit den Schultern zucken. „Vielleicht."
Lucius seufzte. „Aber in der Maschine wird doch auch Magie angewandt? So empfindlich kann sie doch nicht sein."
„Nicht unbedingt", warf Tomasz ein. „Gegen die in ihr selbst verwandte Magie scheint sie immun zu sein, doch dabei handelt es sich ausschließlich um verstärkende Magie. Keine der anderen Arten sind zu finden und gegen diese anderen Arten wird sie nicht widerstandsfähig genug sein. Das war wohl der Grund, weshalb sie ursprünglich in Muggellondon aufgebaut worden war."
Ihre Münder klappten auf. Die einzelnen Worte, die er gesagt hatten, machten zwar für sich alleinstehend Sinn, aber der Zusammenhang war Hermine fremd. Auch Lucius schien ihm nicht folgen zu können, doch das tröstete sie wenig. „Da muss ich jetzt nachfragen: Welche Arten von Magie meinst du? Und was ist mit Muggellondon?"
Auf Voldemorts Stirn bildeten sich Falten. „Die drei Arten von Magie… Die verstärkende, die schaffende und die wandelnde. Eine Mischung dieser ist nicht möglich. Diese Gliederung stammt aus den 1850er Jahren von einem damals renommierten Theoretiker."
„Ich glaube, ich habe davon schon einmal gelesen", flüsterte sie.
Lucius stimmte ihr zu. „Ich denke, in einer meiner Studien bin ich darüber gestolpert."
„Eure Gesichter sehen nicht so aus. Hier, seht, vielleicht wird es dann deutlicher." Er blätterte wie wild herum. Als er die Seite endlich gefunden hatte, hielt er sie den Beiden mit einer triumphierenden Geste unter die Nase.
Hermine und Lucius studierten die mit spitzer Feder gezeichneten Abbildungen. Man brauchte mehr als einen Blick, um diese zu durchdringen, denn ein Teppich aus Beschriftungen und Erläuterungen machten es schwierig, das Wichtige vom weniger Wichtigen zu unterscheiden. Jedes geschriebene Wort sogen sie auf. „Was ist das?", fragte sie und deutete auf ein Behältnis, das an einen Arm der Maschine montiert werden sollte.
„Noch einmal von vorn", Tomasz seufzte. „Als erstes muss man von der Zielperson, also die, die man apparieren sehen möchte, eine magische Miniatur fabrizieren. Wie eine Voodoopuppe, diese Muggeldinger. Hier steht auch irgendwo ein Zauber …" Er strich wieder durch die Seiten, fand aber nicht das Gesuchte. „Na gut, dann eben nicht. Diese Puppe wird dann in den Behälter an der vorgesehenen Stelle gesteckt. Als nächstes nimmt man die Maschine in Betrieb, diese misst die Maße der Puppe aus und sucht einen Menschen, der diesen Maßen entspricht."
Sie hob die Hand, um etwas zu sagen. Bevor man ihr das Wort erteilen konnte, hatte Lucius sie schon unterbrochen: „Also eineiige Zwillinge sind damit nicht zu finden?"
„Davon gehe ich erst einmal aus", antwortete Voldemort. „Das erscheint logisch."
In Gedanken versunken strich Hermine immer wieder durch ihr wildes Haar, so als würde sie das Fell einer Katze bürsten wollen. Ihre Augen fixierten das Büchlein. „Wie geht das, Tomasz? Wie sucht die Maschine den Menschen?"
Für einen kurzen Moment biss er auf die Innenseiten seiner Wangen, dann nickte er nachdenklich. „Dafür bin ich zu lang aus der Muggelwelt raus … Irgendwie mit Überwachungselektronik und Internet."
„Zeige mal her!" Hermine nahm ihm die Anleitung aus der Hand und hielt sich das Blatt dicht vor die Augen. „Hm, ja, das sieht ziemlich …" Sie suchte nach einem passenden Wort. „Futuristisch aus. Nicht unmöglich, aber soweit ich weiß, gibt es kein so gut ausgebautes Videoüberwachungssystem und Vernetzungsmöglichkeit untereinander … Noch nicht, jedenfalls."
„Das ist seltsam", murmelte Voldemort und auch Lucius sah verloren aus. „Höchst eigenartig."
Hermine wurde von einer Welle der Hilflosigkeit erfasst. „Ich habe das Gefühl, immer, wenn wir eine Frage beantworten können, tun sich drei neue auf." Ihre Augen wurden ein wenig feucht, doch sie kämpfte gegen das Bedürfnis zu weinen an. Sie wollte vor den Beiden nicht in Tränen ausbreche. Es würde sie blamieren und die anderen im schlimmsten Fall demoralisieren, das konnten sie nicht gebrauchen.
„Ein Schritt vor und drei zurück", wisperte Lucius. „Wie soll ich da jemals meinen Sohn finden?"
Ein Ruck ging durch Tomasz' Körper. „Mit dieser Maschine." Er fuchtelte mit den Händen umher und wedelte immer wieder in Richtung der Einzelteile. „Lasst doch nicht die Köpfe hängen! Ich wurde von diesem Ding erfasst und mit einem neuartigen Gift wurde mir die Magie gestohlen – Doch dann bin ich es, der euch motivieren muss?" Er lachte gehässig und rollte die Anleitung zusammen, um damit Richtung Lucius' Gesicht zu stochern. „Besonders du würdest gut daran tun, dich zu beeilen, sonst ist dein Sohn bald ein Übeltäter! … Oh, ja, du hast richtig gehört."
„Du hast ihn gesehen? – Wo ist er? – Geht es Draco gut? – Wird er gefangen gehalten?", quoll es aus Lucius unvermittelt hervor. In heller Aufregung versetzt, packte er Tomasz an die schmalen Schultern und schüttelte ihn beinahe.
Dieser sah aus, als würde er gleich explodieren. „Fasse mich nicht an!"
Augenblicklich löste Lucius den Griff. Er war fester gewesen war als beabsichtigt. Entschuldigend hielt er die Hände in die Höhe.
Voldemort klopfte über seine Kleidung und fuhr über seine Schultern, als würde er Schmutz wegwischen. Dabei war er derjenige, der in ausgewaschener, viel zu großer Kleidung und schlammigen Schuhen vor ihnen stand. „Dolohov hat ihn in seiner Gewalt und möchte, dass Draco zu ihm überläuft und ihn in seinen Machenschaften assistiert."
„Ich verstehe nicht … – wieso?", rief Lucius entsetzt aus.
„Weiß der Geier warum!"
„Glaubst du, Tomasz, dass sie eine zweite Maschine haben?", warf Hermine ein.
„Ich bin mir sicher."
Wie eine Löwin im Käfig begann sie im Scherzartikelgeschäft auf und ab zu laufen. „Das ist alles sehr beunruhigend. Wir haben es mit einem mächtigen Gegner zu tun, offensichtlich. Einer, der sogar nicht scheut, sich gegen Voldemort zu stellen." Sie fing sich damit einen langen, dunklen Blick von eben jenem ein. Es verunsicherte sie, doch sie konnte das Verhalten nicht richtig einordnen.
„Draco war überzeugt, dass es Grindelwald ist, der alles zu verantworten hat."
„Grindelwald?", erschallte es ehrfürchtig im Chor. Hermines Herz hämmerte gegen ihren Brustkorb. Es schlug noch schneller, als sie das Amüsement ihres Gegenübers bemerkte. Tomasz war vom Horror in ihren Stimmen erheitert. „Was ist an einem zweiten herrschsüchtigen Schwerverbrecher so lustig?", fragte sie frostig.
„Er ist tot. Hundertprozentig."
Er hielt ihrem Blick stand und Hermine ärgerte sich noch mehr. „Woher weißt du das? Hast du ihn selbst umgebracht, Tomasz?"
Entgeistert spie er: „Ich? Ohne Magie? Nein, aber ich weiß es aus zuverlässiger Quelle. Es stand doch auch in den Zeitungen, nicht? Draco muss sich irren."
„Vielleicht irrst du dich?", feuerte Hermine wie aus der Pistole geschossen zurück. Dem Tagespropheten glaubte sie schon lange nichts mehr.
„Schluss jetzt damit!" Lucius trat zwischen sie. „Grindelwalds Tod stand vor einem halben Jahr im Propheten."
„Das könnte eine Falschmeldung gewesen sein", konterte Hermine. „Warum sollte Draco sich das ausdenken, Lucius?"
Der Malfoy zuckte ratlos mit den Achseln. „Weiß nicht ..."
„Er muss getäuscht worden sein. Draco hat nur das weitergetragen, was Dolohov weitergetragen haben wollte", warf Tomasz wieder ein.
„Tomasz, wie kommst du da...", wollte Hermine fragen, doch sie wurde jäh von Lucius unterbrochen. „Wir haben keine Zeit. Ich muss sofort zu meinem Anwesen!" In Windeseile setzte er sich in Bewegung. „Kommt mit! Der Alarmmeldezauber ist gerade! Jemand versucht, in mein Haus einzudringen."
Die plötzlich herrschende Aufregung konnte Voldemort nichts anhaben. Er wirkte beinahe stoisch. „Ich bin doch kein Hausmädchen oder ein Wachmann … Ich bleibe hier. Nicht, dass es eine Falle -"
„Nichts da! Du kommst mit!", protestierte Hermine und verharrte unnachgiebig auf ihrer Position. „Ansonsten verhexe ich deine Beine."
Ein ziehendes Argument. Widerwillig folgte er ihnen.
oOo
Die Rückkehr zum Anwesen der Malfoys war fest auf ihrer To-Do-Liste verankert gewesen. Immerhin hatte Lucius versprochen, dass sie die Bibliothek nutzen dürfe. Dies einzulösen hatte sie immer noch vor, auch wenn sie momentan keine weitere Recherche benötigten. Das Anwesen lag ruhig vor ihnen. Die dunklen Wolken hatten auch hierher das Unwetter gebracht. Es wirkte nicht, als wäre es Mittag, sondern eher früher Abend. An der Inneneinrichtung hatte sich nichts geändert. Das Herrenhaus sah immer noch aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen, doch Hermine hatte sich schon so an die Unordnung gewöhnt, dass sie ihr nicht als erwähnenswert aufgefallen wäre, hätte ihr neuer Begleiter sich nicht dazu geäußert.
Mit skeptischer Miene betrachtete Tomasz die aufgerollten Teppiche und verschobenen Möbel, während sie die kleinen Trampelpfade durch Berge an Gegenständen entlangschritten. „Etwas gesucht und nirgends gefunden?"
Als sein Blick die geköpfte und zerstochene Schlange fand, wurde er grün um die Nasenspitze und sie glaubte, er würde sich gleich übergeben. Hermine verstand es, selbst im leblosen Zustand war das Ungetüm furchteinflößend. Sie konnte keinem eine wohlbegründete Angst vor Schlangen übelnehmen, doch sein Körper begann zu beben. Beinahe fiel er um. Seine Haut wirkte noch blasser und fahler als zuvor. Die Stellen um seine Augen schimmerten gerötet. Er selbst sah aus wie eine wandelnde Leiche.
„Setz dich!" Lucius bemühte sich, ihn vom toten Tier wegzuführen und einen Sitzplatz zu organisieren.
Fahrig, beinahe geistesabwesend wehrte sich Tomasz gegen die Berührung. „Lucius, fasse ihn nicht an", warnte sie, in Erinnerung, wie er noch kurz zuvor leidenschaftlich den Malfoy angehisst hatte.
Wie eine heiße Kartoffel ließ Lucius ihn los. Was in seinem Gegenüber vorging, schien Voldemort aber nur halbwegs mitbekommen zu haben. Seine Augen wandelten gehetzt im Raum hin und her, ohne Halt zu finden.
„Setz dich!", sprach Lucius erneut und zog ihm einen Stuhl heran. „Du scheinst wiederholte Anfälle von Schwäche zu haben."
Er knurrte etwas, das niemand verstand. Lucius entschloss sich, nicht darauf einzugehen und positionierte sich stattdessen zwischen ihm und der Schlange. Er hatte sie als Quelle des Unwohlseins ausgemacht und wollte den Blickkontakt dorthin durchbrechen. Obwohl er nur gute Intentionen hatte, reagierte sein Gegenüber ungehalten. Tomasz zischte etwas, was Lucius beim besten Willen nicht entziffern konnte.
„Pssst!" Hermine kam zu den Beiden gehechtet. „Ich höre Schritte! Jemand kommt auf uns zu!"
Auf leisen Sohlen stellten sie sich zusammen und zogen ihre Zauberstäbe.
„Er muss den Alarmmeldezauber ausgelöst haben", flüsterte Lucius ihr zu. „Ich habe ihn erst nach dem Überfall Dolohovs aufs Anwesen gelegt. Vorher war immer jemand zuhause gewesen."
Sie nickte und legte die Finger an die Lippen.
Dicht standen sie beieinander. Vor Aufregung hielt sie die Luft an. Neben ihr konnte sie Lucius atmen hören. Die gewohnte Umgebung schien einen beruhigenden Effekt zu haben. Emotionslos suchten seine Augen die Dunkelheit vor ihnen ab. Auch sie richtete ihren Blick wieder nach vorn. Sie stierte in die Finsternis und lauschte: Die Schritte kamen näher und näher. Angst schnürte ihr die Kehle zu.
„Vater?"
Ein Blitz zuckte durch Lucius. Er sprang nach vorn, schnell wie der Wind.
„Draco!" Alle Vorsicht war vergessen.
Ein Wimpernschlag – er war auf ihn zugeeilt, hatte ihn ergriffen. Plötzlich lagen sie einander in den Armen und jemand schluchzte.
Hermine lächelte, als sie Vater und Sohn wiedervereint sah. Lucius hatte viel auf sich genommen, um Draco zu finden und dann … – lief er ihm geradewegs in die Arme. Sie wünschte sich, dass es mit Ron auch so einfach gehen würde. Was würde sie drum geben, endlich ihren Freund wieder in die Arme schließen zu können. Die Beiden gemeinsam zu sehen, gab ihr Hoffnung, dass auch sie sich bald wiedersehen würden. Des Rätsels Lösung um die verschwindenden Personen war zum Greifen nah, sie spürte es. Dann würden wieder alle zusammenkommen. Nur auf ein Wiedersehen mit Voldemort könnte sie getrost verzichten.
Lucius presste Draco so sehr an sich, dass er die Luft aus ihm herausquetschte. Hermine lachte und schüttelte den Kopf, während Draco sich aus der Umarmung seines Vaters herausschälte. Tomasz neben ihr hatte seinen Kopf wieder auf die Hände abgestützt. Seine Haltung war zusammengesackt und mit Schrecken prüfte sie seine Atemtätigkeit. Sacht hauchte er gegen ihre Hände und sie seufzte erleichtert. Was auch immer er hatte, es war mehr als eine Erkältung, aber wenigstens lag er nicht im Sterben. Ihm wurde gewahr, dass sie über ihn gebeugt stand und versuchte sie auf Abstand zu halten. Seine Versuche waren schwächlich, fast lächerlich, wäre die Situation nicht so ernst.
„Granger?", stieß Draco hervor. Mit vielen Fragezeichen sah er sie an.
Sie musste über sein dümmliches Gesicht schmunzeln. Draco Malfoy – wie die Kuh vorm neuen Tor … ein köstlicher Anblick.
„Und du?" Draco war entsetzt. Über Tomasz' Gegenwart …
Das … war seltsam … Jetzt sah sie sicher selbst dümmlich-verdattert aus. „Ihr kennt euch?" Sie wedelte mit dem Zeigefinger zwischen den Beiden hin und her. Tomasz entlockte sie damit keine Reaktion, doch Draco nickte andächtig mit dem Kopf.
„Wir … Äh, das ist eine lange Geschichte", stotterte er. Hermine entging nicht der fragende Blick, den er dem anderen zuwarf. Dieser starrte aber zu Boden und erwiderte ihn nicht, sodass sie daraus nicht schlau wurde.
„Ich habe Zeit", warf Hermine schnippisch ein. Natürlich konnte es zwischen ihnen nicht freundlich zugehen, nicht einmal, wenn sie sich langsam an Lucius' ständige Anwesenheit gewöhnte. „Du kannst ruhig ausholen. Wie kommt es, dass du wochenlang verschwunden warst, niemand wusste, wo du bist und du nun hier wieder auftauchst?"
Lucius schluckte. „Sie meinte es nicht so zynisch. Mich interessiert es auch … – Bei Merlin, wo warst du?"
„Ich meinte das genau so, wie ich es gesagt habe", presste sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
„Ich habe aber keine Zeit", schnaubte Draco. „Noch nicht einmal genug, um zu fragen, was Granger hier macht." Ihr Blut kochte, als er abfällig den Kopf schüttelte. „Kommt, ich brauche eure Hilfe."
Eilig drehte er sich um und winkte sie hastig heran. Sie folgten und Draco lotste sie durch die Gänge. Tomasz lief zwischen ihr und Lucius, denn Hermine fühlte sich unwohl, wenn sie ihn allein ließ. Die Bewegung tat ihm nicht gut, aber er beschwerte sich nicht. Vielleicht hatte er auch keine Kraft mehr, sie konnte seinen Gesundheitszustand mit dem ständigen Auf und Ab nicht einschätzen. Mit einem mulmigen Gefühl betraten sie das Zimmer.
Draco, der ihnen immer zwei Schritte voraus gewesen krächzte: „Hier! Ihr müsst ihr helfen!"
Hermine sah sich um: Sie waren wohl in Dracos Zimmer gelandet. Ihr Blick war sogleich von der blassen Gestalt, die im großen Bett förmlich versank, gefangen. Es war Daphne Greengrass. Regungslos lag sie auf der Decke. Sie schien zu schlafen. „Was ist mit ihr?"
Ihre eigene, zaghafte Stimme jagte ihr einen Schauer über den Rücken.
„In der Schlacht war sie von Greyback angefallen worden. Seitdem ist sie komatös." Draco setzte sich an ihre Seite und zog die Knie heran. Sein Kopf senkte sich, er seufzte und strich zart über ihre Hand. Verzweiflung sprach aus jeder Pose. „Ihr müsst ihr helfen!"
Sie nickte. Das würde sie ihn nicht noch einmal sagen lassen, doch sie kam nicht umhin zu fragen: „Wo war sie die ganze Zeit? Wo warst du?"
Betreten schaute Draco zu seinen Füßen. „Ich wurde entführt."
„Von wem?" Lucius war alarmiert, doch Draco sah nicht auf.
„Ich bin mir nicht mehr sicher. Es ist so verrückt. Er", er wies mit dem Kopf auf Tomasz, „wird es euch bestätigen können." Voldemort nickte leicht. Draco fuhr fort: „Hyperion Greengrass hat mich auf den Schlachtfeld geschockt, doch als ich Astoria, seine jüngere Tochter, Daphnes Schwester, gefragt hatte, meinte sie, es wäre auf Dolohovs Initiative passiert."
Lucius stieß einen zischenden Laut aus. Alles Geschehene verdichtete sich auf einen Übeltäter. „Dolohov, schon wieder! Wenn ich ihn noch einmal sehe, dann… dann… Argh!" Er konnte es nicht aussprechen, denn Draco zuckte zusammen.
Wie ein geschlagener Hund sah er zu seinem Vater hinauf. „Schon wieder?"
„Er hat das Haus verwüstet und er hat einen Brief an den Phönixorden geschrieben, um sie auf eine nachweislich falsche Fährte zu führen", erzählte Lucius,
„Was nicht geklappt hatte", bestätigte Hermine.
„Und er hat in seinem Keller Teile einer seltsamen Maschine gelagert, die die Leute verschwinden lassen kann."
„Ich unterbreche euch nur ungern", warf Voldemort ein, „Aber das Mädchen sieht wirklich aus, als könnte es Hilfe gebrauchen. Vielleicht einen Heiler?" Er ließ sich auf den Boden sinken und lehnte sich an das Bett.
„Äh, ja", begann Draco zu stammeln. „Da wäre noch etwas Wichtiges: Ich habe Wolfswurz gestohlen, weil Astoria meinte, es wäre ein Heilmittel." Er schluckte. Drei entsetzte Augenpaare sahen ihn an.
Hermine war geschockt. Wie konnte er solche infame Lüge glauben? Sie schlug sich in einer allzu enttäuschten Geste die Hände vor den Augen, als würde sie ihn nicht anblicken können. Doch dann versuchte sie, sich zu beherrschen. Draco hatte schon genug um die Ohren. Die anderen Beiden zeigten ihre Enttäuschung ungefiltert: Auch Lucius zog sein Gesicht zu einer verständnislosen Grimasse und Tomasz lachte leise in sich hinein. Draco biss sich auf die Lippe und sah kleinlaut in die Runde: „Ihr wusstet alle, dass dies eine Lüge war?"
Schnell schüttelten sie die Köpfe.
„Es steht nicht im Unterrichtsplan!", verteidigte ihn Hermine
Lucius versicherte: „Du hast es gut gemeint."
„Rares Sonderwissen." Tomasz rollte mit den Augen. „Also hat sie Wolfswurz verabreicht bekommen?"
Hilflos zuckte Draco mit den Achseln. „Ich weiß es nicht!", stieß er aus und seine Stimme war lauter, als er beabsichtigt hatte. „Ich meine, sie haben mir gesagt, es sei ein Heilmittel, deshalb habe ich es ihnen verschafft ... aber eigentlich ist es ein ziemlich gefährliches Gift. Ob sie es Daphne verabreicht haben? Keine Ahnung! Es geht ihr auf jeden Fall schlechter als zuvor."
„Hm."
„Hm."
„Hm."
„Nun sagt schon: Was denkt ihr?" Dracos Atem ging schneller.
Tomasz zog die Beine an und schlang seine Arme um die Knie. „Ich kann nur für mich sprechen, aber ich halte es für möglich. Es kann keine hohe Dosis gewesen sein, sonst wäre sie jetzt tot, aber mit einer leichten Vergiftung könnte man sie gut ruhigstellen."
Hermine schnipste mit den Fingern. „Du sagtest, sie war von Greyback angefallen worden? Dann war sie also bereits mit dem Lykanthropievirus infiziert?"
Er zuckte nochmals mit den Achseln. „Ich denke schon … ?"
Lucius tätschelte seine Schulter, doch Draco wiegelte seine Hand weg.
„Eine leichte Vergiftung würde das Immunsystem herunterfahren und die Vermehrung des Virus wäre somit erleichtert", überlegte Voldemort. „Es ist schon möglich, dass das so geplant war."
„Wir müssen sie zu Madam Pomfrey bringen!", forderte Hermine. „Unverzüglich!"
Bewegung kam in den Raum. Lucius half Tomasz auf, der mit einem skeptischen Blick die ihm angebotene Hand annahm. Ächzend hievte er sich hoch. Bei seinem leidlichen Anblick würde es weise sein, auch ihn der Medi-Hexe vorzustellen. Sie würde ihn zusammenstauchen und mindestens zu einer Woche Bettruhe verurteilen. Hermine überprüfte Daphnes Herzschlag und beugte sich tief über ihren Körper.
„ … Ich weiß, du glaubst nicht, dass es Grindelwald ist … ", sprach hinter ihrem Rücken Draco zu Tomasz.
Sie lauschte mit halbem Ohr, doch der Großteil ihrer Konzentration war auf den kräftigen Herzschlag gerichtet.
„ … Aber wer auch immer es ist, er muss aufgehalten werden … Und Dolohov!" Malfoy strotzte vor Tatkraft, doch es hatte kaum einen Effekt auf den geschwächten Tomasz.
„Oh! Ich bin erstaunt, dass du das sagst." Spott triefte aus dessen Stimme. „Immerhin denkt Dolohov, du seist sein S… –"
„Riddle!", zischte Draco unvermittelt. „Ich wollte dich nur warnen!"
Hermines Herz setzte für einen Schlag aus. Sie musste sich verhört haben …
Riddle?
Hatte Draco ihn gerade Riddle genannt?
Wie von der Tarantel gestochen schnellte sie herum. Angesicht zu Angesicht – Auge in Auge. Den mittelalten Mann, mit schwarzen Haarstoppeln, feingeschnittenen Gesichtszügen und hohen Wangenknochen, sah sie wahrlich mit anderen Augen. Mit dem charmanten Jugendlichen Tom Riddle, von dem Harry ihr berichtet hatte, hatte er wenig gemeinsam – sonst hätte sie ihn vielleicht aus den Beschreibungen erkannt. Doch das weiche, spitzzulaufende Gesicht, mit den ersten Spuren von Falten, hatte sie nicht einmal in diese Richtung ahnen lassen. Er hatte sie an der Nase herumgeführt.
„Riddle!", hisste sie.
Als er den Namen hörte, stieß Lucius ihn grob beiseite und sprang einen Schritt in die entgegengesetzte Richtung. Instinktiv suchte er das Weite. Riddle, der sich gerade noch an seinem Arm festgehalten hatte, geriet ins Taumeln. Nach einem Hin- und Herschwanken hatte er sein Gleichgewicht wiedergefunden. „Überraschung?"
Draco verstand die Welt nicht mehr.
Nur Sekunden verstrichen.
In Windeseile wollte Hermine zu ihrem Zauberstab greifen. Es war bereits ein eingespielter Prozess, der ihr keinen gedanklichen Befehl mehr abverlangte. Jedoch wurde sie von einer Hand gepackt und nach unten gezogen. Panisch schrie sie auf – sie versuchte, sich zu wehren, doch hinter den zierlichen Fingern steckte eine Menge Kraft. Mit Schrecken beobachtete sie, wie sich in Sekundenbruchteilen die Abmessungen von Daphnes Körper veränderten. Sie wurde größer und … – männlicher. Hermine versuchte nochmals, nach ihrem Zauberstab zu greifen, der in der Tasche ihres Umhangs war, doch es war vergebens.
Ein Stoß und sie fiel rücklings zu Boden. Es krachte, ihr Rücken schmerzte, weil sich irgendwas in ihn bohrte. Doch sie konnte nicht nachsehen, es blieb keine Zeit. Sie hob ihren Kopf hob und erkannte Grindelwald.
Seinen Stab in der rechten Hand und ihren in der linken erhob er sich vom Bett. Ihre Hand schnellte zur Tasche ihres Umhangs, doch griff ins Leere. Unbewaffnet war sie ihm ausgeliefert. Sie schnappte nach Luft, doch konnte vor Angst nicht atmen. Sie musste aus der Schussbahn. Hermine robbte, Grindelwald nicht aus den Augen lassend, von ihm fort, hin zu den Malfoys und … Voldemort.
Lucius entsandte einen ersten Fluch, den Grindelwald mit Leichtigkeit abblockte. Er setzte mehrere hinterher, doch sie brachten seinen Gegner nicht in Bedrängnis. Dieser hingegen kam nicht mal ins Schwitzen. Weder Draco noch Voldemort machten Anstalten zu helfen – sie flohen.
Geduckt krabbelte sie zur Zimmertür, wo sich die Wege der drei kreuzten. „Warum kämpft ihr nicht?"
„Ich kann nicht!", kreischte Draco ihr entgegen. Er wollte sich gerade in den Flur hinausretten, als ein Explosionszauber ihn knapp verfehlte. Der Fluch sprengte ein großes Loch in die Wand, knapp hinter ihm. Der Putz bröckelte, Staub füllte ihre Lungen und ließ sie krächzen.
Lucius wirbelte beinahe reflexartig herum. Nur für einen kurzen Augenblick war er abgelenkt. Es reichte.
Grindelwald verpasste ihm einen Schockzauber. Wie ein gefällter Baum kippte er um. Es schepperte und vibrierte unter ihren Fingerspitzen, als sein Kopf auf das Parkett traf.
Als nächstes folgte ein Stupor auf Voldemort, der ebenfalls der Länge nach umfiel und dann auf Draco, der einen erstickten Laut von sich gab.
Dann war sie an der Reihe. Der Zauber zischte durch die Luft. Sie konnte sich nicht zur Seite retten, sie war zu ungeschickt, Grindelwald zu nah. Es gab nichts, was sie tun konnte. Das letzte, was sie sah, waren die schmutzigen Schuhe Voldemorts. Kein Schlamm, sondern verkrustetes Blut klebte an seinen Sohlen.
