Kapitel 35 – In den Gewehrlauf blickend
„Wach auf!", rief jemand und er klang verzweifelt. „Wach auf! ... Bitte!" So ging es weiter.
„Sie wacht nicht auf. Was machen wir jetzt bloß?"
„Keine Sorge", versicherte ein anderer. „Es ist der Zauber, er wird schon schwächer."
„Nichts", kam noch eine Antwort von jemand anderem. Gleichzeitig drang ein Wimmern an Lucius' Ohr. Langsam setzte er sich auf und rieb sich verwirrt den Kopf. Neben ihm erwachte Hermine allmählich, doch er sah viel mehr Gestalten als die ihre. Er stöhnte und ächzte. Viele Menschen waren auf engem Raum und sie bewegten sich auf und ab.
„Hermine!"
„Colin?"
Hermine sprang auf die Füße und Lucius war fassungslos. Eine Kaskade an Gedanken setzte ein. Colin Creevey? Dies war doch der verschwundene Junge. Lucius lehnte sich ans Gitter. Um sich der Situation weiter gewahr zu werden, atmete er tief durch. Langsam glitt sein Blick durch den Raum und über die Anwesenden. Hermine hatte sich am anderen Ende der Zelle ebenfalls aufgerichtet und probierte, mit ihren Fingern ihr wirres Haar zu glätten. Immer wieder schob sie Strähnen hinter die Ohren, doch jedes Mal fielen sie zurück in ihr Gesicht. Colin Creevey hockte neben ihr und strich ihr unruhig über die Schulter. Tatsächlich! Das hieß…
… Dass sie in eine Falle getappt waren.
Er erinnerte sich an die letzten Momente. Vor seinem inneren Auge sah er Daphne, die reglos im Bett lag, bleich wie ein Laken. Dann verwandelte sie sich in Grindelwald, mit blonden, streng zurückgekämmten Haaren, so wie man ihn aus den Geschichtslehrbüchern kannte. Lucius schluckte und ein Schauer fuhr ihm über den Rücken. Der Gedanke an Grindelwalds Rückkehr war schon schlimm genug, doch da war mehr. Wer hatte Daphne in sein Haus gebracht? Seine Eingeweide zogen sich zusammen.
Draco … Draco hatte ihr helfen wollen. Sie hatten ihn gefunden gehabt! Endlich war seine lange, schmerzvolle Suche von Erfolg gekrönt gewesen. So vieles hatte er auf sich genommen, nur um seinen Sohn noch einmal in die Arme schließen zu können. Doch wo war er nun?
Hermine und Creevey waren bei ihm und in der anderen Zelle, hinter den Gitterstäben sah er Professor Slughorn stehen, der ihm einen skeptischen Blick zuwarf. In der Ecke, beinahe durch die Körper der anderen vor Neugier geschützt, sah er eine Person mit weasleyrotem Haar liegen.
„Ron?" Auch Hermine hatte die Gestalt entdeckt. „Ron! Was ist passiert? Was ist mir dir los?" Sie kreischte beinahe.
„Wo ist Draco?", flüsterte Lucius.
Niemand nahm Notiz von ihm. Er hatte zu leise gesprochen. Hermine schluchzte und übertönte das Rascheln seiner unruhigen Füße. Immer wieder schabte er mit seinen Schuhen über den Beton.
„Seitdem sie ein Experiment an ihm durchgeführt haben, ist er so!", stieß Creevey aus und sah in ihr erschrecktes Gesicht. „Er kann nicht mehr zaubern, aber es ist nichts Lebensgefährliches, keine Sorge. Mit mir haben sie es auch gemacht."
Hermine hielt inne und auch Lucius' Füße erstarrten in der Bewegung. Es dauerte Sekunden, bis sein Gehirn die Informationen verarbeitet hatte und noch länger, bis er nicht mehr daran zweifelte, dass er diese Worte gerade tatsächlich gehört hatte. Es wäre ein Moment gewesen, indem er sich dumm hätte vorkommen können, doch Hermine passierte genau dasselbe. Ihre Kinnlade war heruntergeklappt und mit weit aufgerissenen Augen schwenkte ihr ungläubiger Blick zwischen Creevey und Ron hin und her.
„Sie haben Ron das Gift verabreicht?", fragte sie ungläubig. „Draco erzählte davon."
„Wo ist Draco?", sprudelte es aus Lucius hervor und er wurde noch verwirrter, als er von den anderen angeblickt wurde, als hätte er gerade einen schlechten Witz gemacht. Nun fing das schon wieder an. Für seine Sorge um seinen Sohn verteufelte man ihn, dabei war es eine ehrlich gestellte Frage gewesen. „Was ist?"
Hermine hob die Augenbrauen und sah ihn verständnislos an. „Hinter dir."
Wie von einer Tarantel gestochen schnellte Lucius herum. Dort, hinter dem Gitter, an das er sich angelehnt hatte, eine Zelle weiter, saß Draco. Er brauchte nur seine Hand ausstrecken und schon würde er ihn an seinem Knie berühren können. „Ist alles in Ordnung?" Aufgeregt musterte er seinen Sohn. Sein Haar war zerzaust und er war bleich, beinahe fahl. Er hatte seine Arme um die angezogenen Beine geschlungen. Eine kauernde Haltung.
Draco schüttelte ermattet den Kopf, doch mit den Gedanken schien er woanders zu sein. Immer wieder glitt sein Blick zwischen Lucius und den anderen hin und her. „Mir geht es gut", sagte er mit leiser Stimme. Die brüchige Tonlage überzeugte Lucius eher vom Gegenteil.
Er wollte nach Draco greifen, ihn berühren, um ihm zu versichern, dass er ihn schützen würde, doch dieser wich seiner Hand aus. Den Blick zum nahen Boden gerichtet, wurde Lucius klar, dass etwas nicht stimmte. „Du bist allein in der Zelle?" Es mutete reichlich komisch an. Alle anderen waren zu zweit oder dritt in die engen Abschnitte gepfercht worden, doch Draco saß dort allein und regte sich nicht.
„Als sie euch gebracht haben, haben sie Greyback, der vorher dort eingesperrt gewesen war, herausgeholt und mitgenommen", informierte Colin Creevey die anderen.
„Warum haben sie das getan?", warf Hermine die Frage in den Raum, die sich wohl jeder gerade stellte.
Achselzucken.
„Wo ist Riddle?" Dracos Stimme schnitt durch die Luft. Hermine wie Lucius fiel auf, dass sie eine Person vergessen hatten. Wahrscheinlich war es mehr ein aktives Verdrängen gewesen. Riddle – Voldemort war niemand, den man einfach vergaß. Sie sahen sich um, doch nirgends war er zu finden.
oOo
Seine Füße kratzten über den Boden und seine Gelenke verdrehten sich schmerzhaft. Er biss die Zähne aufeinander. Zu seiner Linken zerrte Grindelwald an ihm. Dolohov hatten seinen rechter Arm gepackt und riss ihn vorwärts. Er stolperte, fiel beinahe, doch die Hände hielten ihn zurück. Er wurde in die Senkrechte gezogen. Einer der Beiden verpasste ihm einen Schlag auf den Rücken.
„Versuche erst gar nicht, dich zu wehren", wurde er von Grindelwald gewarnt. „Es wird dir nichts nützen."
Auch ohne die Worte Grindelwalds hätte er dies nicht in Erwägung gezogen. Sie waren zu zweit, sie hatten Magie – er nicht. Es wäre verrückt gewesen, zu denken, er könne sie überwinden. Voldemort musste sie überlisten. Es hieß, die Augen offen zu halten und keine Zeit mit sinnlosem Widerstand zu verbringen. Der geeignete Augenblick könnte jeden Moment gekommen sein.
Sie zerrten ihn in einen dunklen Raum. Er konnte nur Schemen sehen, seine Augen waren an die Finsternis nicht gewöhnt. Auf dem Bauch liegend blinzelte er, strengte sich an, etwas zu erkennen. Staub lag auf dem Boden, er atmete ihn ein. Sein Hals begann zu kratzen. Von irgendwoher klirrten Ketten. Immer wieder. Etwas bewegte sich.
Jemand schaltete das Licht an und es fiel auf einen monströsen Wolf, der mit schweren Eisenketten an der Wand festgebunden worden war. Er zerrte an den Fesseln, doch konnte sich nicht befreien. Voldemort wand den Kopf. An der einen Seite stand ein Regal mit Kolben und Reagenzgläsern, gefüllt mit verschiedenfarbigen Flüssigkeiten. Auf der anderen Seite eine dunkelgrüne Tafel. Auch der Rest des Raums glich einem Labor – dem Labor, in dem er aufgewacht war, nachdem man ihn aus der heulenden Hütte wegappariert hatte. Doch die alte Umgebung war durch eine Explosion in Schutt und Asche gelegt worden, es musste sich um ein Replikat handeln.
Mit festen Griffen führten sie ihn zum Tisch in der Mitte. Schlingen wickelten sich um seine Arme und Beine und banden ihn an das Holz, über die Platte gestreckt. Er wollte seine Zeit nicht mit nutzlosem Widerstand vergeuden, doch es trieb ihm den Schweiß auf die Stirn. Die Bewegungsunfähigkeit führte ihm gnadenlos seine Hilfslosigkeit vor Augen. Er hatte die Kontrolle verloren.
Dolohov musterte ihn mit einem unverkennbaren abschätzigen Blick. „Du kommst hier nicht mehr raus."
Wieder biss er die Zähne zusammen, diesmal malträtierte er seine Lippen. Er untersuchte die Umgebung, irgendwo musste es eine Schwachstelle geben. Wenn er es schaffte, einen Streit zwischen Dolohov und Grindelwald vom Zaun zu brechen, würden die Karten neugemischt.
Grindelwald wirkte desinteressiert. Er hatte sich von ihnen abgewandt und werkelte an einem Schreibtisch, der an der Wand neben der Tafel stand. „Du auch nicht", schnappte Voldemort ins Blaue hinein, Hauptsache, er hatte die Aufmerksamkeit des Russen. „Was macht ihr hier? Willst du es mir nicht stolz präsentieren?"
Dolohov grinste gehässig. „Das hättest du wohl gern. Cru-"
„Nicht!", unterbrach Grindelwald die Zauberformel. „Zuerst muss Blut abgenommen werden." Er holte eine Kanüle und winkte damit den Russen zu sich heran. Dieser trat seelenruhig einen Schritt zurück, um seinem Komplizen Platz zu machen.
Die Schlingen zogen sich noch fester und drückten die Venen ab. Nach einigen Sekunden kribbelten seine Fingerspitzen. Das taube Gefühl bereitete sich in seiner Hand aus. Er versuchte sich loszureißen, doch die verzauberten Schlingen hielten ihn bewegungslos.
„Wir haben noch eine Rechnung mit dir offen", sprach Grindelwald weiter.
„Soll das eine Drohung sein?", fragte Voldemort verharmt.
„Dir wird das Lachen noch vergehen."
Die Nadel stach durch seine Haut. Ein Schauer fuhr über seinen Körper. Voldemort kniff die Augen zusammen. Langsam füllte sich das röhrenförmige Behältnis mit rotem Blut. Er sah hoch in das Gesicht Grindelwalds, der wiederum nur auf die Kanüle starrte.
Dolohov rieb sich gelangweilt das Kinn. „Ist es endlich soweit?", drängte er.
„Geduld", wisperte Grindelwald zurück und wechselte das Röhrchen. „Du wirst noch genügend Zeit haben."
Der Russe schlug mit beiden Fäusten auf den Tisch. Unter der Erschütterung wackelten Grindelwalds Hände und stachen tiefer in den Arm. Wäre er nicht gelähmt, wäre Voldemort zusammengezuckt. Stattdessen holte er zischend Luft.
„Ich werde keine Zeit haben!", beklagte sich Dolohov. „Beeil' dich!"
„Halt ein!", knurrte Grindelwald. „Überlege dir deinen nächsten Schritt gut!"
Mit finsterem Blick hielt Dolohov inne. Wie erstarrt blickte er seinen Kumpanen an und schwieg. Bis zum Ende der Blutentnahme machte niemand mehr einen Ton. Grindelwald drehte sich mit drei gefüllten Kanülen um und lief zum Schreibtisch. In diesem Augenblick kam wieder Leben in Dolohov. Mit einem Wink seines Zauberstabs löste sich der Druck der Fesseln und sie schliffen über Voldemorts Haut, als er sich von ihnen befreite. Seine Arme war dort aufgeschürft und rötlich, wo sich die Schlingen befunden haben. Er rieb sich seine schmerzenden Handgelenke und ließ keine Sekunde Dolohov aus den Augen.
Bedrohlich baute sich dieser vor ihm auf. Langsam, doch mit siegessicherer Gestik erhob er den Arm, streckte ihn aus und hielt ihm seinen Zauberstab direkt unter die Nase. Ein wenig weiter höher, unvermittelt hätte er ihm die Augen ausstechen können. Voldemort ahnte, was folgen würde, sah sich um, fand jedoch keinen Ausweg.
„Crucio!"
Dolohov wusste und wollte, dass er litt – es war ein starker Zauber. Sein Wille war aus jahrelanger Qual und heißem Verlangen geformt.
Voldemort sank nieder. In jede seiner Poren stach der Schmerz wie eine heiße Nadel. Rein, raus. Er füllte seinen Kopf und er war überzeugt, dass gleich sein Schädel auseinanderbersten würde. Es brannte, stach, knirschte. Tränen stiegen ihm in die Augen.
„Heulst du?", knurrte Dolohov. Er packte nach seinem Gesicht und zwang ihn, zu ihm hochzusehen. Geplagt wollte Voldemort wieder in sich zusammenfallen, doch Dolohovs Hände übten solch einen Druck auf seine Wangenknochen aus, dass er in der Schwebe hängen blieb. Der Zauber wurde schwächer und löste sich nach einigen Sekunden ganz.
Wieder sackte Voldemort in sich zusammen. Urplötzlich ließen alle Schmerzen nach. Der Druck war verschwunden, aber bleierne Müdigkeit hatte sich in seine Knochen geschlichen. Der Nebel, der sich vor seinen Blick geschoben hatte, lichtete sich nicht. Betäubt lag er da und er konnte sich nicht rühren. Wenn er es versuchte, zuckten seine Muskeln unkontrolliert und es schmerzte wieder.
„Du heulst!", drang Antonins Stimme an sein Ohr, doch die Aussage konnte er nicht bestätigen. Er wusste nicht, was er tat oder nicht tat. „Wir kennen beide die Strafe für das Zeigen von Schwäche. Oder hast du deine selbstgesetzten Regeln vergessen?"
Er schnappte nach Luft.
Antonin knurrte: „Crucio!"
Wieder schien sein Kopf zu explodieren und der Schmerz beherrschte seine Sinne. Dieses Mal spürte er deutlich wie ihm die Tränen in die Augen schossen und er wusste, dass Dolohov ihn so lange foltern würde, bis er zu keiner Reaktion mehr fähig wäre. Der verheerende Zustand würde nicht lange auf sich warten lassen. Er fiel in die Horizontale. Der kalte Boden kühlte den brennenden Schmerz und dämpfte seine Wahrnehmung. Am liebsten wäre er liegen geblieben, doch er wusste, Dolohov würde noch einen Cruciatusfluch sprechen, sollte er sich nicht wieder aufrichten. So versuchte er, sich hochzuhieven. Unter dem Gewicht seines Oberkörpers, der eigentlich gar nicht so schwerfällig sein konnte, wie er sich in diesem Moment anfühlte, knickten seine Arme immer wieder um. Er fühlte sich wie in den Boden gerammt. Gleich, wie sehr er sich bemühte, er schaffte es nicht hoch.
Er wusste, was ihm blühte.
Voldemort würde eine solche Schwäche nicht gelten lassen. Es gab nur Macht und solche, die zu schwach waren, um danach zu streben. Er hatte keine Magie mehr, er war zu gebrechlich, um sich zu wehren und er war zu fahrig, um den Schmerz auszublenden oder gar zu widerstehen. Er war zerbrochen.
Bebend wartete er auf das nächste Wort Dolohovs. Dieser schnaubte abfällig und verließ den Raum, ohne ihm oder Grindelwald noch einmal einen Blick zuzuwerfen.
Ein dunkles, kehliges Knurren drang durch den Raum. Der Wolf fletschte seine Zähne und schnappte in die starre Luft. Er machte einen Satz nach vorn, doch eine große und schwere Kette hielt ihn an der Wand. Gleich, wie sehr er sich mit all seiner Kraft dagegenstemmte, es reichte nicht, um seine Fesseln zu zerreißen.
Riddle, durch eine Ganzkörperklammer gefesselt, betrachtete die sich vor ihm aufbauende Bedrohungskulisse. Sollte ihm das Angst machen? Er sah er zu Grindelwald oder demjenigen, der wie Grindelwald aussah. Dieser hatte den Wolf hineingebracht und angekettet, doch seitdem stand er nur bewegungslos da und beobachtete seinen Gefangenen mit Argusaugen. Auch wenn sie sich anschwiegen und Voldemort eine Menge Fragen hatte, die der Mann vor ihm sicher beantworten konnte, so wäre es doch einer Erniedrigung gleichgekommen, zuerst die Stimme zu erheben. Zudem wusste er nicht, wie kratzig er sprechen oder ob er überhaupt ein Wort herausbekommen würde. Die Folter hatte sich tief in sein Fleisch genagt.
„Weißt du, wer das ist?", fragte Grindelwald und deutete auf den Wolf.
Riddle hob die Schultern. Je länger der Klammerfluch auf seinen Körper wirkte, desto mehr driftete er in einem Zustand endloser Leere ab. Dies war nicht die Wirkung eines Zaubers, seine Gesundheit war auch so in einem bedenkenswerten Zustand gewesen. Der Cruciatus und die Schwächeanfälle, wie Lucius es genannt hatte, forderten ihren Zoll. Auch nun wurde er von einem dieser Anfälle heimgesucht. Seine Knie würden zittern, wären sie nicht gelähmt worden. Dem Drang, sich vorzubeugen und zu erbrechen, wurde nur durch den Zauber Einhalt geboten, der die Übelkeit jedoch noch verstärkte.
Grindelwald grinste überheblich. Er wusste genau, was gerade vor sich ging. „Das ist Fenrir Greyback, der Werwolf. Ich habe ein kleines Experiment mit ihm gemacht, um einen neuen Einsatzzweck des Wolfswurz zu testen. Die Modifikationen stehen ihm hervorragend, findest du nicht auch?"
Durch den Raum drang das Knurren des Tiers – Greybacks. War er nicht immer schon mehr ein Tier als ein Mensch gewesen? Nun auf jeden Fall. Voldemort versuchte, sich trotz der Schmerzen zu konzentrieren und stierte in Grindelwalds Gesicht. Keine Gefühlsregung sollte über seines laufen, doch unter solch Extrembedingungen konnte er für nichts mehr garantieren. Er merkte am Rande, dass ihm der Schweiß von der Stirn lief, obwohl ihm nach frösteln zumute war.
„Weißt du auch, weshalb ich das getan habe?", bohrte Grindelwald weiter.
Riddle wusste nicht, weshalb sein Gegenüber dachte, diese rhetorischen Fragen würden ihm Angst machen. Unfokussiert wie er war, glitt sein Blick haltlos im Raum umher. „Forschergeist?" Er bemühte sich, die Mundwinkel anzuheben und das abgerungene Lächeln erfror auf seinem Gesicht. Es musste gespenstisch aussehen.
Grindelwald lachte leise. „Rache."
„Machst du das auch mit mir?", fragte er emotionslos. „Verwandelst du mich in einen Werwolf? … Oder Wolf?"
Diese Wesen waren schmutzige, unreine Viecher, aber es gab wahrlich Schlimmeres. In seinem Kopf hämmerte ein Schmerz gegen die Schädeldecke, der ihn beinahe blind machte. Er hatte sich schon immer gefragt, wie sich Sterben anfühlte. Es war eine Frage gewesen, die ihn lange umgetrieben hatte. Doch das, was er in diesem Moment spürte, kam seiner Vorstellung dessen nah. So musste sich Sterben anfühlen. Er spürte, wie das Leben aus seinem Leib gesogen wurde.
Ein kalter Schauer fuhr über seinen Rücken.
„Du spürst es, nicht?", hauchte Grindelwald genießerisch. „Die Dementoren, sie sind endlich hier. Ich habe mir etwas Besonderes für dich einfallen lassen. Etwas, was auch deinen kümmerlichen Rest von Horkruxen, sollten diese den neuartigen, magiebannenden Trank überstanden haben, auslöscht." Mit wehendem Umhang schritt Grindelwald aus dem Raum, um die finsteren Wesen zu holen.
Riddle versuchte sich zu konzentrieren. Er kämpfte gegen die Ganzkörperklammer, gegen die Übelkeit und den Schmerz, der seine Sinne vernebelte, an. Doch es half kaum. Er befand sich am Rande eines Abgrunds.
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Die Kerkertür knirschte. Schritte näherten sich. Das Wispern seiner Mitgefangenen verstummte. Nur sein Vater brummte „Dolohov", als die Gestalt vor Dracos Zelle Halt machte.
Dolohov strafte Lucius jedoch mit Ignoranz. Seine Augen waren voll und ganz auf Draco und allein auf diesen gerichtet. Er schluckte und sprach schließlich: „Man sagte mir, du hättest mit ihnen und somit gegen uns gekämpft."
In Dracos Hirn ratterte es. Was konnte er sagen? Was war klug? Das alle Blicke auf ihn gerichtet waren, machte die Sache nicht besser. „Ja", stotterte er und daran, dass Hermines Gesicht sich verfinsterte, konnte er ahnen, dass sie anders geantwortet hätte. Auch Dolohovs Miene verdunkelte sich, sodass Draco eilig hinzufügte: „Aber nicht gegen euch … – dich ..."
Man musste gar nicht rätseln, man sah sehr genau, dass diese Aussage den Russen nicht zufriedenstellte. Alles hing zu sehr in der Schwebe. Da hatte Draco eine zündende Idee, wie er den Spieß umdrehen konnte. „Ich habe überhaupt nicht gegen jemanden gekämpft, sondern für Daphne!", quoll es aus ihm hervor. „Ihr ging es nicht gut. Astoria war völlig aufgelöst, ihre Schwester schien im Sterben zu liegen. Ich hatte selbst gesehen – an den Tagen zuvor, dass Daphnes Zustand sich verschlechtert hatte", dies war eine glatte Lüge, „daher habe ich daran geglaubt." Draco schluckte. „Als sie sich dann in Grindelwald verwandelt hatte, wusste ich, dass ich angelogen worden war. Aber war Daphne nicht vielleicht immer noch in Gefahr? Und Grindelwald ist sofort auf mich losgegangen! Es war nur Verteidigung!" Draco hasste sich darüber, dass seine Stimme schon wieder so scheußlich hoch klang. So als würde er sich gleich in die Hose machen. Sein Herz schlug auch rasend schnell. Er legte seine Hand an den Hals und fühlte nach seinem eigenen Puls. Es beruhigte ihn ein wenig.
Dolohov musterte Draco eine Weile. Immer wieder brummte er. „Was machen wir jetzt?"
„Das fragst du mich?" Draco schnaufte. „Lass mich gefälligst raus!"
Sein Gegenüber kniff die Augen zusammen. „Unterstützt du uns wirklich?" Er untersuchte das Gesicht Dracos auf jede kleine Regung ab.
„Ja … ?" Verdammt! Er klang viel zu unsicher, das hatte er gar nicht gewollt.
Doch gerade diese Unsicherheit und Angst schien Dolohov zu bestärken. „Ich will dir vertrauen, Draco, ich will es wirklich."
„Aber?" Aus seinen Augenwinkeln nahm er wahr, dass Hermine sich auf die Fingernägel biss und sein Vater … Dieser raufte sich die Haare und kaute auf seiner Unterlippe … – Noch nie hatte er ihn so … so verwirrt und voller Fragen gesehen.
„Aber ich kann es nicht", sprach Dolohov grimmig. „Nicht ohne einen Beweis."
Draco schluckte. „Lass mich raus. Ich mache alles, was du willst…" Er hustete, die Worte steckten in seinem Hals. „Alles", krächzte er nochmal. Er wusste, was sein Gegenüber sehen und hören wollte. Dolohov hasste die Malfoys – inbrünstig. Doch er war bereit, Draco zu vertrauen. Weil er eben kein Malfoy war. Nicht in seinen Augen. „Ich sage es ihm. Es wird ihm wehtun … und auch mir, aber ich tue es."
Unruhig tippte Dolohovs Schuhspitze auf und ab. Dann nickte er.
„Was willst du mir sagen?", fragte Lucius argwöhnisch. Natürlich, sein Vater – den, den er immer für seinen Vater gehalten hatte, ahnte sofort, dass es um ihn ging.
Schwerfällig wandte sich Draco zu ihm hin. Seine Lippen bebten, als er die Worte sagte, von denen er niemals gedacht hätte, dass er sie sagen würde und die Dolohov begierig hören wollen würde. Weil sie Lucius verletzten. „Ich bin kein Malfoy", haspelte er. „Ich bin Dolohovs Sohn." Er versuchte, so überzeugt und endgültig zu klingen, wie er konnte und sein Herzschlag dröhnte in seinen Ohren. Seine eigenen Worte hörte er kaum, zu sehr rauschte das Blut.
Lucius' Miene zerbrach wie eine Tasse, die zu Boden gefallen war. Voller Zweifel … – Zorn und Zaudern sah er Draco an. „Wie kommst du darauf?"
„Ich weiß von der Affäre." Den Staub von sich klopfend, um seine zitternden Hände zu verstecken, stand Draco auf.
„Affäre hin oder her. Du bist mein Sohn."
„Bin ich das?"
In Lucius' Blick änderte sich etwas. Draco sah es genau. Es machte ihm Angst. Verlustangst und Angst vor seinem Vater, Lucius Malfoy. Sollte ein Sohn seinen Vater fürchten? Doch, wenn er nicht mehr der Getriebene sein wollte, dann musste er anfangen zu handeln. Er musste den Angriff einleiten, er musste Opfer bringen und Wunden schlagen. Auch wenn er um nichts in der Welt seinen Vater hatte verletzen wollen … auch wenn er es hasste, diesen Konflikt vor einem Publikum auszutragen. Es wurde noch schlimmer, denn er musste auch die nächsten Dinge sagen: „Dolohov sagte, ihr hättet lange versucht, eine Familie zu gründen. Er meinte, es gab Probleme, er weiß es von meiner Mutter. Wie sie dann plötzlich doch schwanger werden konnte, weißt du wahrscheinlich besser als ich, wenn du nur mal die Augen öffnen würdest." Auch wenn er stotterte, verstand man ihn gut.
Lucius verbarg das Gesicht in seinen Händen und murmelte immer wieder die gleichen unverständlichen Worte.
Das Schloss knirschte. Dolohov ließ ihn heraustreten. „Hier, ein Vertrauensvorschuss, mein Sohn", sprach er feierlich.
Mit zaghaften Schritten verließ Draco die Zelle. Er hörte das Tuscheln zwischen Creevey und Hermine, doch verstand ihre Worte nicht. Lucius war zu entsetzt, um in einen Widerstand zu verfallen. Mit heftigen Atemstößen reckte Draco die Nase in die Höhe und probierte nochmals, so selbstsicher wie möglich zu klingen. „Mein Zauberstab?"
„Ein Befreiungsversuch wäre sinnlos. Die Ausgänge sind versperrt, auch für dich", warnte ihn Dolohov. Nach einer ausgiebigen Musterung übergab er Draco den Stab mit langsamen Bewegungen.
Dieser nahm ihn mit einem Lächeln entgegen und schnalzte mit der Zunge. „Wie gut, dass ich nicht fliehen möchte. Stupor!"
Dolohovs Augen weiteten sich vor Schrecken, dann fiel er um wie ein Baum.
Triumphierend blickte Draco zu der am Boden liegenden Gestalt.
„Lass uns raus!" Hermine war aufgesprungen und mit einem Satz zur Zellentür gehechtet. „Schnell, öffne die Tür. Ein einfacher Alohomora wird wahrscheinlich nicht reichen, aber ich bin sicher, einer der stärkeren Türschlosszauber wird wirken … Draco?" Creevey stellte sich hinter seine Zellengenossin und beide sahen sie ihn erwartungsvoll an. „Draco?"
Lucius und Ron hingegen waren apathisch. Während Ron seinen Blick nicht von seinen Händen hob und aussah, als würde er schlafen, wären seine Augen nicht geöffnet, klebte Lucius' seiner an Draco und sein ganzer Körper flirrte.
Draco atmete tief aus und wandte sich an Slughorn. „Es tut mir aufrichtig leid, Professor, dass ich Sie in meine Probleme mithineingezogen habe."
„Da bin ich mir sicher, Junge", antwortete dieser. „Dann lass uns raus."
Bewegungslos stierten sie sich an. Sekunden verstrichen, ohne dass jemand etwas sagte oder tat. Langsam schlug Draco Wurzeln.
„Er wird uns nicht rauslassen!", zischte Hermine. „Er ist einer von ihnen!"
„Nein ...", warf Lucius ein. Es war ein Hauch, doch er schwebte bis zu Draco.
„Nein!" Draco schüttelte sich. „Wisst ihr, warum ich es getan habe?" Er wartete nicht auf eine Antwort. „Dolohov hat mich angelogen. Der dunkle Lord ist nicht tot. Oh ja, er hat es behauptet. Und Sie, Professor, hätten alles auf sich genommen, um mir diese Erinnerung an den Jungen, Tom, zu löschen. Dann werde ich von Grindelwald auf einen Tom Riddle angesetzt und wenn ich es mir recht überlege, sie sehen sich schon ein wenig ähnlich."
„Lass uns raus!"
„Der dunkle Lord heißt mit bürgerlichen Namen Tom Riddle, nicht wahr?" Draco schluckte. An den Gesichtern konnte er ablesen, dass er richtig lag. „Er war die ganze Zeit da, in unserem Haus und er ..." Seine Stimme brach. Hektik ergriff ihn.
„Lass uns raus!", schimpfte Hermine noch einmal.
Mit einem schnellen Griff packte er den riesigen Schlüsselring Dolohovs und warf ihn durch die Gitterstäbe. Hermine fluchte erschrocken, doch fing den Bund geschickt auf.
„Beeilt euch, macht euch frei, schließt ihn ein", legte Draco ihnen nahe. „Holt alle raus, ich habe noch etwas zu erledigen." Er wandte sich um und eilte zur Kerkertreppe.
„Wo willst du hin?", brüllte Hermine ihm hinterher.
Er murmelte: „Ich muss mich um ein Versprechen kümmern."
Lange, zu lang, war er orientierungslos herumgeirrt. Die Odyssee war endlich zu Ende. Er hatte er einen Plan. Einen verrückten, unmoralischen, waghalsigen Plan – doch der in Aussicht stehende Preis machte jedes Risiko wett.
