Kapitel 35 – Zerbrochene Träume

Ein neuer Morgen dämmerte und die Sterne am Himmel verblassten, als die Tore der Universität in Sicht kamen. Endlich findet diese Nacht ein Ende, dachte Sonea. Es war vorbei. Obwohl das die Ereignisse der vergangenen Stunden nicht ungeschehen machte, verspürte sie unendliche Erleichterung, wieder zuhause zu sein.

Nachdem sie den Patrouillen für ihre Unterstützung gedankt und nach Hause geschickt hatten, hatten sie in Cerys Versteck darüber diskutiert, was sie nun mit Savara tun sollten. Akkarin hatte bereits einen Plan gehabt, der zu Soneas Erleichterung beinhaltete, dass die Sachakanerin die Stadt noch an diesem Tag verließ und in ihre Heimat zurückkehrte. Zu Soneas Entsetzen hatte Akkarin ihr den Geheimniswahrer zurückgegeben und ein Blutjuwel unter die Haut implantiert, das sich nicht mehr entfernen ließ. Damit würde sie bei ihrem Auftrag unentdeckt bleiben, während Akkarin zugleich ihre Gedanken und Aktionen kontrollieren konnte, weil der Geheimniswahrer nur vor mentalen Angriffen von außen schützte. Sonea hätte dagegen protestiert, hätte es etwas genützt. Die Alternative hätte jedoch darin bestanden, dass sie das Blutjuwel kontrollierte. Sonea konnte sich eine Menge angenehmerer Dinge vorstellen, als mit dieser Frau durch einen schwarzmagischen Gegenstand verbunden zu sein, der sich nicht mehr entfernen ließ.

Die beiden Krieger am Tor grüßten respektvoll, als sie an ihnen vorbeigingen. Sonea atmete innerlich auf, als sie direkt den Weg zu den Residenzen einschlugen. In den vergangenen Monaten hatte sie diesen Weg nach Hause unzählige Male genommen. Jedoch noch nie in der Morgendämmerung. Unter dem allmählich heller werdenden Himmel leuchtete der Schnee bläulich, was Sonea mit einem Gefühl von Unwirklichkeit erfüllte. Sie konnte kaum glauben, dass kein ganzer Tag vergangen war, seit sie das letzte Mal hier entlang gegangen waren. Noch weniger konnte sie glauben, dass sie da noch gelacht hatten und glücklich gewesen waren.

Sind das wirklich wir gewesen?

In der vergangenen Nacht hatte sie beinahe ihren besten Freund verloren. Sie war stundenlang auf der Suche nach zwei Sachakanern durch die Hüttenviertel gestreift. Und sie hatte mit schwarzer Magie getötet.

Das alles verblasste indes vor der Begegnung mit Savara und den Worten, die Ikaro an sie gerichtet hatte, und die ihr seitdem nicht mehr aus dem Kopf gingen.

War dir nicht klar, was du für ihn bist?, hatte er sie gefragt. Während seiner Zeit in Sachaka ist er auf den Geschmack gekommen. Du bist für ihn nur ein Spielzeug.

Sonea wusste, diese Worte hätten sie weniger getroffen, hätte Akkarin sich wenig zuvor nicht von ihr zurückgezogen. Auch danach hatte er nichts unternommen, um sie zu beruhigen. Sonea, er will dich provozieren, damit du dich erschöpfst, war alles, was er dazu gesagt hatte. Der Akkarin, den sie zu kennen geglaubt hatte, hätte alles daran gesetzt, ihr diese Zweifel auszureden. Doch nun hätte Sonea nicht sagen können, ob sie ihn überhaupt kannte. Irgendwie hatte das Wiedersehen mit Savara diese Vertrautheit zwischen ihnen zerbrochen.

Endlich erreichten sie die Arran-Residenz. Sonea stieß einen leisen Seufzer aus. Sie wollte nichts als schlafen.

Und vergessen.

Sie traten in die Eingangshalle. Ein übernächtigter Takan eilte ihnen entgegen.

„Meister!", rief er. „Und Lady Sonea! Ihr seid zurück!"

„Takan, geh zu Balkan und richte ihm aus, ein Treffen der höheren Magier für heute Abend einzuberufen", wies Akkarin ihn an.

„Sehr wohl, Meister." Der Sachakaner verneigte sich. „Habt Ihr und Lady Sonea weitere Wünsche?"

Sonea schüttelte stumm den Kopf.

„Danke, Takan", erwiderte Akkarin. „Halte Besucher jeder Art fern, während Sonea und ich schlafen."

„Natürlich, Meister." Takan verneigte sich erneut und zog sich zurück.

Sie stiegen die Treppe empor. Im Schlafzimmer angekommen, streifte Sonea Robe und Stiefel ab und schlüpfte in ihr Nachthemd.

Erschöpft ließ sie sich ins Bett fallen.

„Sonea, wir müssen reden."

Widerwillig hob sie den Kopf. Akkarin stand auf ihrer Seite des Bettes. Sein Blick war ernst. Er hatte das Wort nicht mehr an sie gerichtet, seit sie in Cerys Versteck über Savaras Auftrag gesprochen hatten. Angesichts der Geschehnisse dieser Nacht lag das viel zu weit zurück.

„Ich will jetzt nicht reden", sagte sie. „Kann das nicht warten, bis wir geschlafen haben?"

„Nein."

„Ich habe dir nichts zu sagen. Und es gibt nichts, was ich von dir hören will." Sonea erschrak ob der Schroffheit in ihrer Stimme. In jeder anderen Situation hätte sie nicht gewagt, so mit ihm zu reden. Aber es war zu viel geschehen, als dass sie zu so etwas wie Diplomatie bereit war.

„Das solltest du aber. Was heute Nacht passiert ist, darf so nicht zwischen uns stehen."

Wie gut, dass dir das jetzt einfällt, dachte sie.

Sie bedachte ihn mit einem finsteren Blick. „Ich bin nicht diejenige in diesem Raum, die Geheimnisse hat."

Akkarin verschränkte die Arme vor der Brust. „Sonea, du hast zwei Möglichkeiten", erklärte er ungerührt. „Entweder du hörst mich an oder ich werde dafür sorgen, dass du es tust. Ich denke, wir sind uns einig, dass Letzteres vermieden werden sollte."

Als ob das ihre Situation noch verschlimmern könnte! Sonea verdrehte die Augen. Sie wollte nichts als schlafen. Einen Machtkampf mit Akkarin wollte sie allerdings auch nicht. Sie setzte sich auf und lehnte sich gegen das Kopfende.

„Also schön", sagte sie und verschränkte ebenfalls die Arme vor der Brust. „Sag, was du mir zu sagen hast."

Akkarin setzte sich auf die Bettkante und wandte sich ihr zu.

„Als ich Savara das erste Mal begegnete, war ich ein Sklave", begann er. „Es geschah, als Dakova einen anderen Ichani überfiel, den er verabscheute. Was ich damals nicht wusste, war, dass jener Ichani sich bereits auf die Konfrontation mit Dakova vorbereitet und Savara zur Unterstützung angeheuert hatte. Er wusste, er würde nicht weit kommen, wenn es ihm gelang Dakova zu töten, denn Kariko würde ihn finden und ebenfalls töten. Als Dakova das Lager dieses anderen Ichani überfiel, war sie bereits dort. Ich wusste nicht, wer sie wirklich war und hielt sie für eine Ichani. Wer Savara wirklich ist, habe ich erst heute erfahren.

„Dakova erkannte rasch, dass er gegen zwei schwarze Magier kaum gewinnen konnte. Ein Rückzug kam für ihn jedoch auch nicht in Frage. Also begann er seine Sklaven zu töten, um eine Chance gegen seine Gegner zu haben. Während sich die beiden Ichani duellierten, gelang es Savara, sich an Dakovas Sklaven heranzuschleichen und tötete, wen immer sie erwischte, bevor Dakova sich stärken konnte.

„Ich habe dir erzählt, dass Dakova mich und Takan am Leben gelassen hat, weil wir seine stärksten Quellen waren. Doch das ist nur ein Teil der Wahrheit. Dakova brauchte mich, um seine Sklaven vor seinen Gegnern zu verteidigen. Als Dakova den anderen Ichani besiegt hatte, waren nur noch Takan und ich übrig. Savara konnte fliehen und Dakova war zu geschwächt, um die Verfolgung aufzunehmen." Aus seiner Stimme schwand jede menschliche Emotion. „Ich wünschte jedoch, Dakova wäre es gelungen, sie ebenfalls zu töten."

Sonea blinzelte verwirrt. Das war nicht die Geschichte, die sie erwartet hatte. Trotzdem konnte sie sich Savara nur allzu lebhaft darin vorstellen.

„Warum?", fragte sie die Antwort fürchtend.

Akkarin sah zum Fenster. Er schwieg eine Weile, so dass Sonea zu glauben begann, er würde nicht fortfahren. Dann holte er tief Luft und sah ihr direkt in die Augen.

„Sie war es, die Isara getötet hat."

Ein schmerzvoller Stich durchfuhr Sonea. Es war das erste Mal, dass er diesen Namen aussprach. Aber sie wusste sofort, wer Isara war. Sie war die Sklavin, die er einst geliebt hatte.

Er hat nichts für sie tun können, dachte sie entsetzt. Er hatte sie nicht beschützen können, weil er damals noch keine schwarze Magie beherrscht hatte. Wie furchtbar musste es für ihn gewesen sein, zu versuchen die anderen Sklaven zu beschützen, damit Dakova sie an Savaras Stelle tötete? Und seine Geliebte war eine von ihnen gewesen! Wie hilflos musste er sich gefühlt haben?

„Das tut mir so leid", flüsterte sie.

„Das braucht es nicht", erwiderte Akkarin. „Wenn man ein Sklave ist, hat man keine Wahl."

Sonea wollte ihn in den Arm nehmen, ihn trösten, doch irgendetwas hielt sie davon ab. Aber das hatte nichts damit zu tun, dass sie ihn zuweilen fürchtete. Ebenso wenig wie die Ereignisse dieser Nacht dafür verantwortlich waren.

Es war die Art, wie er ihren Namen ausgesprochen hatte.

Sonea spürte eine heftige Übelkeit in sich aufsteigen. Es fühlte sich an wie der Anfang vom Ende. Trotzdem musste sie die ganze Wahrheit wissen. Sie wusste, sie würde vorher keine Ruhe finden, selbst wenn das eine Wahrheit war, die ihr nicht gefallen würde.

„Aber wieso hat Savara das getan, wenn ihre Leute Frauen in Not helfen?", fragte sie. „Ich meine, sie hätte doch zumindest versuchen können, die Sklaven vor Dakova zu beschützen."

„Das hätte sie, nicht wahr? Aber Savara hat gegen die Prinzipien ihres eigenen Volkes verstoßen, aus Gründen, die nur sie selbst benennen sollte. Sie hat Isara nicht nur getötet, weil sie eine von Dakovas Quellen war. Und ich habe dabei versagt, sie zu beschützen."

„Und dennoch hast du Savara heute verschont?"

„Sonea, an meinen Händen klebt ebenso unschuldiges Blut wie an ihren", antwortete Akkarin. „Wer bin ich, über sie zu richten?"

„Wir hatten den Befehl, sie zu töten", sagte sie hart.

„Hätte ich Savara getötet, so hätte ich es nicht getan, weil Balkan es so wollte", sagte Akkarin leise. „Ich hätte es aus Rache getan."

Sonea spürte, wie ihre Welt ins Wanken geriet. Sie konnte Akkarins Schmerz nur allzu gut nachvollziehen. Es war ein fürchterliches Gefühl, einen Menschen, den man so sehr liebte, zu verlieren. Sie hatte es selbst erleben müssen, wenn auch sie mehr Glück gehabt hatte. Ein Teil von ihr wollte ihn noch immer trösten, doch seine Worte brachen ihr das Herz. Etwas, das die ganze Nacht schon da gewesen war, schnürte ihr nun die Kehle zu und trieb Tränen in ihre Augen.

„Sonea, ich weiß was du heute Nacht durchgemacht hast", sagte Akkarin sanft. „Dein Ring wäre dazu nicht einmal nötig gewesen, so sehr waren Gedanken in Aufruhr. Doch ich muss dir die Wahrheit sagen. Du hast vor allen anderen ein Recht darauf, es zu erfahren."

Sonea starrte ihn an. Sie wusste, etwas ganz Entsetzliches würde nun passieren.

„Als ich Savara heute wiedergesehen habe, da …" Er fixierte ihren Blick, als er fortfuhr und ihr wurde unwillkürlich kalt. „… da habe ich erkannt, dass ein Teil von mir Isara noch immer liebt."

Sonea antwortete nicht. Stumme Tränen rannen ihre Wangen hinab.

Dann zog sie schweigend den Blutring von ihrem Finger.


Die Wagenkolonne überquerte eine Hügelkuppe und folgte der Straße in sanften Windungen bergab. Vor ihnen erstreckte sich eine weite Ebene, an dessen anderem Ende ein Streifen Blau zu erkennen war, der dunkler als der Himmel war. Das Meer.

Vor der Küste lag etwas Weißes von immenser Ausdehnung, das das Licht der Mittagssonne reflektierte. Dannyl musste seine Augen mit der Hand abschirmen, um von dem Anblick nicht geblendet zu werden.

„Das ist Arvice!", rief Santerne aus dem Karren vor ihnen. „Ein wirklich umwerfender Anblick, nicht wahr?"

„Wirklich blendend!", rief Dannyl. Es war unmöglich in diesem grellen Licht Details wie einzelne Häuser auszumachen. „Wann werden wir dort sein?"

„In etwa zwei Stunden", antwortete der Gewürzhändler. „Und dann müssen wir noch zu den Märkten."

So wie Santerne das sagte, würde das ebenfalls noch einmal mindestens zwei Stunden dauern.

„Diese Stadt muss wirklich groß sein." Kito war offenkundig beeindruckt. „Von hier sieht es nicht so aus, als bräuchten wir noch zwei Stunden, um dort anzukommen. Mir war nie bewusst, wie viel Unterschied eine einstöckige Bauweise in der Grundstücksfläche ausmacht. Von der Bevölkerungszahl her ist Arvice wahrscheinlich kaum größer als Imardin oder Capia."

„Ich bin auch schon sehr gespannt auf diese Stadt", erwiderte Dannyl. „Wenn wir die Zeit dazu finden, sollten wir sie uns unbedingt ansehen."

„Auf jeden Fall!", stimmte Kito zu. „Meine Kinder werden beleidigt sein, wenn ich ihre Fragen nicht ausreichend beantworten kann."

Dannyl lachte. Nach allem, was Kito ihm während ihrer Reise über seine Familie erzählt hatte, konnte er sich das nur allzu gut vorstellen. Die Kinder des Auslandsadministrators bekamen ihren Vater nur selten zu Gesicht. Dafür waren sie jedoch umso anhänglicher und neugieriger, wenn er für ein paar Wochen nach Hause kam. Dannyl beneidete ihn insgeheim. Er würde nie eine eigene Familie haben.

„Dann werden wir dafür sorgen, dass du ausreichend Gesprächsstoff hast, wenn du zurück in Vin bist", sagte er.

Kito lächelte, seine kleinen weißen Zähne entblößend. „Solange wir noch nicht in Arvice sind, sollten wir ein paar Dinge klären", sagte er dann.

„Ja, das sollten wir", nickte Dannyl. Er erhob seine Stimme. „He, Santerne! Was genau passiert, wenn wir Arvice erreichen?"

Der blonde Elyner drehte sich zu ihnen um. „Wir machen uns auf dem Weg zu den Märkten und suchen uns eine Herberge. Dort gibt es eine Menge Unterkünfte für Händler. Wenn Hochsaison ist, wird es dort manchmal etwas eng, doch jetzt im Winter sollten wir rasch einen Schlafplatz finden."

„Werden wir heute auch schon mit dem Verkauf unserer Ware beginnen?", fragte Kito.

„Wenn Ihr es nicht erwarten könnt, dann tut das meinetwegen", antwortete Santerne. „Aber das wird sich nicht lohnen. Die Märkte schließen am späten Nachmittag. Die meisten von uns ziehen es vor, erstmal ein Bad zu nehmen und etwas Ordentliches zu essen. Nutzt den freien Abend und seht Euch ein wenig in der Stadt um."

Dannyl und Kito tauschten einen Blick. Das passte ausgezeichnet in ihre Pläne.

„Danke!", rief Dannyl und zog an den Zügeln, um die Pferde in ein langsameres Tempo zu bringen. Wie auch schon in den vergangenen Wochen bildeten sie den Abschluss der Karawane. Dannyl war das nur recht. Er und Kito hatten allenthalben Dinge zu besprechen, die die elynischen Händler nichts angingen.

„Dann lass uns beginnen", sagte er leise zu Kito, nachdem sie sich außer Hörweite hatten zurückfallen lassen. Um nicht das Misstrauen der anderen Händler durch das Stellen zu vieler Fragen zu erwecken, hatten sie bis jetzt nur einen groben Plan von ihrem Aufenthalt in Arvice machen können.

Der Vindo rückte ein Stück näher zu Dannyl und beugte sich zu ihm. „Als Erstes sollten wir den Palast aufsuchen, weil man nur bis Sonnenuntergang um eine Audienz bitten darf. Es danach zu tun, gilt als höchst unhöflich und wer weiß, wie lang die Warteliste ist, immerhin steckt der König seit Monaten in den Verhandlungen mit seinen Ashaki. Natürlich sollten wir zuvor ein Bad nehmen, und sofern Zeit dazu ist, etwas essen. Wenn wir im Palast waren, schauen wir uns die Märkte an und überlegen, wo wir morgen unseren Stand aufbauen."

Dannyl nickte. „Klingt gut. Weißt du, wie lange es dauert, bis wir erfahren, ob Marika uns eine Audienz gewährt und wann?"

Kito schüttelte den Kopf. „Ich kann dir nur sagen, was ich von anderen Diplomaten über ihn weiß. Das Gewähren von Audienzen unterliegt der für viele mächtige Herrscher üblichen Willkür. Es hängt ganz von seiner Laune und der Priorität ab, die er in dem Audienzgesuch sieht. Wenn er erfährt, dass die Gilde zwei Botschafter schickt, um mit ihm über eine Alternative zu einem Krieg zu verhandeln, den viele Sachakaner seit Jahrhunderten herbeisehnen, wird er uns höchstwahrscheinlich lange warten lassen."

„Also Zermürbungstaktik", bemerkte Dannyl trocken.

„Genau. Aber wir werden uns nicht zermürben lassen." Über Kitos rundes Gesicht huschte ein Lächeln. „Wir nutzen die Zeit, um unseren Wein zu verkaufen und uns in der Stadt umzuhören."

Und damit würden sie möglicherweise auch nützliche Informationen erhalten, die sie an die Gilde weiterleiten konnte. Ein Kitzel der Vorfreude erfüllte Dannyl. Gegenüber Händlern würden die Sachakaner Vorsicht walten lassen und nur in ihrer Muttersprache über Marikas Kriegspläne sprechen. Doch auf der Reise nach Arvice hatten er und Kito ein wenig Sachakanisch von den anderen Händlern gelernt.

„Was, wenn Marika erfährt, dass wir als Weinhändler in die Stadt gekommen sind?", fragte er. „Könnte das ein Problem für uns werden?"

„Das kann ich dir nicht beantworten, Curran", sagte Kito. „Diese Information könnte jemanden wie Marika erheitern, aber auch erzürnen. Mein Vorschlag wäre, dass wir uns bereithalten, schnell zu fliehen. Deswegen sollten wir uns bald mit den Gegebenheiten in der Stadt vertraut machen und uns alles, was wir sehen, möglichst gut einprägen."

Wenn uns eine Flucht überhaupt gelingen würde, dachte Dannyl. Immerhin begaben sie sich in eine Stadt, in der es vor schwarzen Magiern nur so wimmelte. Und diese lag in einem Land schwarzer Magier. Er versuchte sich damit zu beruhigen, dass sein Begleiter Krieger war und ihre Situation einzuschätzen wusste.

Allmählich wurde die Straße flacher und führte nun geradewegs auf Arvice zu. Nach und nach konnte Dannyl mehr Details von der Stadt erkennen, als das Gleißen nachließ, weil sich der Winkel zwischen ihnen, den Häusern und der Sonne veränderte. Jetzt konnte er die weiße Stadtmauer, hinter der sich ein Wohnhaus nach dem anderen umsäumt von grünen und blühenden Gärten reihte, erkennen. Von weitem wirkten einige Bäume so exotisch, wie jene, denen sie auf ihrem Weg durch die fruchtbaren Regionen des Landes begegnet waren. Vor den Stadttoren erstreckten sich Felder, die um diese Jahreszeit jedoch brach lagen. Weiter östlich lag gesäumt von Bäumen das Ufer des Flusses, der bei Arvice ins Meer mündete – der Haraki, dem die Straße, die von Arvice durch die Ödländer führte, in einigem Abstand folgte.

Anstatt den Ausblick zu bewundern, hing Dannyl jedoch seinen düsteren Gedanken nach. Er erleichtert sein sollen, weil sie nach Wochen des Reisens endlich ihr Ziel erreicht hatten. Aber trotz aller Vorfreude, neue Orte zu besichtigen und dabei ein wenig zu spionieren, verspürte er auch Furcht.

Sie mochten ihre Reise durch Sachaka ohne Zwischenfälle überstanden haben, doch der schwierige Teil würde jetzt erst beginnen.


„Die Freiwilligen sind da." Cery schreckte aus seinem Halbschlaf und blickte direkt in Gols grobschlächtiges Gesicht. Er hatte versucht, sich die Zeit mit der Buchhaltung seiner Geschäfte zu vertreiben und musste darüber eingeschlafen sein. Die nervlichen und körperlichen Anstrengungen der vergangenen Nacht und der fehlende Schlaf hatten ihren Tribut gefordert.

„Schon?", fragte er. „Das ging schnell."

Gol grinste. „Es ist schon nach Mittag, Chef."

Cery rieb sich die Augen. Er hatte nicht geglaubt, dass sein Leibwächter tatsächlich ein paar Leute auftreiben würde, die dazu bereit waren, diesen höchst seltsamen Auftrag anzunehmen. Aber anscheinend gab es in den Hüttenvierteln genügend Menschen, die bereit waren, alles zu tun, um der Armut zu entfliehen.

„Bring sie her", sagte er. „Ich hole Savara."

Gol nickte und verschwand.

Ächzend erhob er sich von seinem Schreibtisch. Die vergangene Nacht hatte ihm mehr abverlangt, als sämtliche sachakanischen Spione, die er in der Vergangenheit gejagt hatte. Denn diese Jagd war zu etwas Persönlichem geworden.

Bringen wir's hinter uns.

Savara lag in seinem Bett. Im Schlaf hatte sie sich wie ein kleiner Zill zusammengerollt. Nichts an ihrem Anblick erinnerte daran, was sie getan hatte. Bei ihrem Anblick verspürte Cery einen schmerzhaften Stich. Dennoch nahm er sich die Zeit und betrachtete sie eine Weile. Er wusste nicht, ob er sie jemals wiedersehen würde. Der Auftrag, für den sie nach Sachaka zurückgehen würde, war gefährlich. Obwohl er wusste, dass sie auf sich aufpassen konnte, sorgte er sich schon jetzt um sie.

Nachdem Akkarin und Sonea zur Gilde zurückgekehrt waren, hatten sie noch lange geredet. Inzwischen verstand Cery besser, warum Savara all diese Dinge getan hatte. In mancher Hinsicht waren sie einander gar nicht so unähnlich. Ihr Volk versuchte ebenso zu überleben, wie die Diebe. Und sie taten das mit großzügigen, aber hin und wieder auch mit unmoralischen Mitteln, wofür Savara in der vergangenen Nacht einen hohen Preis gezahlt hatte. Aber das Wichtigste war: Sie hatte keinen einzigen der Kyralier getötet, die in der vergangenen Nacht ums Leben gekommen waren. Und sie hatte nicht gewollt, dass ihm etwas zustieß.

Dieses Wissen machte ihren Abschied jedoch nicht weniger schmerzhaft, wenn auch Cery nun mit weniger Groll auf ihre gemeinsame Zeit zurückblicken konnte. Er wünschte nur, sie hätte ihm das alles schon bei ihrer ersten Begegnung erzählt. Er hätte ihr helfen können und sich nicht so betrogen gefühlt. Doch indem sie ein Geheimnis aus ihrer Identität gemacht hatte, hatte sie ihre Liebe vergiftet. So gesehen war es für sie beide das Beste, wenn sie wieder ging.

Cery streckte eine Hand aus und strich sanft über ihren Kopf.

„Savara, wach auf", sagte er. „Es ist soweit."

Sie schlug ihre dunklen, mandelförmigen Augen auf und blickte ihn an. „Dann heißt es jetzt also wieder Lebewohl zu sagen."

Cery nickte nur.

Sie stand auf und kleidete sich an. Ihre Tasche hatte sie bereits einige Stunden zuvor gepackt.

„Hat Gol ein paar Leute gefunden?", fragte sie, während sie ihre langen, schwarzen Haare glattkämmte.

„Ja." Er lächelte schief. „Das hier sind die Hüttenviertel. Hier macht jeder alles, wenn's Geld stimmt."

„Ah, deswegen fällt es mir immer so schwer, wieder zu gehen", erwiderte sie mit einem Anflug von Sarkasmus, während sie ihre langen, schwarzen Haare zu einem Zopf verflocht.

„Das Angebot, für mich als Leibwächterin zu arbeiten, steht noch immer, wenn das hier vorbei ist", sagte Cery. „Du würdest wirklich gut hierher passen."

Savara band das lose Ende ihres Zopfes mit einem Lederriemen fest und wandte sich zu ihm um. Sie lächelte, doch das Lächeln erreichte ihre Augen nicht.

„Wenn es ein Danach gibt."

Daran wollte Cery nicht denken müssen. Aber er fand es zugleich töricht, diese Möglichkeit zu ignorieren. Plötzlich hatte er einen Kloß im Hals.

„Wir werden uns wiedersehen", sagte er heiser.

Savara neigte den Kopf zur Seite und musterte ihn eine Weile. Dann schritt sie auf ihn zu und küsste ihn.

„Wenn du mit mir sprechen willst, trag das Amulett, das ich dir geschenkt habe."

Cery nickte. Es war alles, was ihm von ihr bleiben würde, wenn sie erst einmal fort war. Inzwischen wusste er, sie konnte nur seine Gedanken darüber erfahren, wenn das darin enthaltene Blutjuwel mit seiner Haut in Kontakt kam. Er würde nur aufpassen müssen, woran er dachte, wenn er es trug.

Er schluckte einmal hart. „Komm", sagte er dann. „Lassen wir deine Begleiter nicht warten."

Er führte sie in sein Büro, wo er von Gol und vier heruntergekommen und halbverhungerten Hüttenleuten erwartet wurde. Drei Männer und eine Frau, die ihre besten Jahre bereits hinter sich hatte, obwohl sie kaum älter als dreißig sein konnte.

Cery forderte sie auf, sich vorzustellen. Dann erklärte er ihnen, was genau ihre Aufgabe in den nächsten Wochen und Monaten sein würde. Dabei erwähnte er weder seinen Auftraggeber und dessen Absichten noch Savaras Identität, weil das nicht nur das Leben dieser Leute, sondern den gesamten Auftrag gefährdet hätte.

„Jeder von euch wird einhundert Goldstücke als Bezahlung erhalten. Für jeden Monat, den der Auftrag länger als vier Monate dauert, kriegt ihr zehn weitere", beendete er seine Rede schließlich. Das war viel Geld für die Hüttenleute, aber der Auftrag barg auch ein großes Risiko.

Einer der Männer pfiff durch die Zähne. „Davon könnt' ich mit meiner Familie ins Nordviertel ziehen", sagte er. Als er den Mund öffnete, konnte Cery sehen, dass seine verbliebenen Zähne schief standen. „Wir könnten uns endlich die Miete in 'nem gescheiten Bleibehaus leisten. Und das über Jahre!"

„Wenn du's nicht vorher versäufst", wandte die Frau ein.

Die anderen beiden Männer lachten. Auch Cery konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Als er jedoch an seine nächsten Worte dachte, wurde er wieder ernst.

„Ihr wisst jetzt, worin euer Auftrag besteht", sagte er. „Ich hab' euch auf alle Gefahren hingewiesen. Es ist möglich, dass ihr niemals zurückkehren werdet. Wenn einer von euch lieber hierbleiben will, dann ist das in Ordnung."

Die vier Hüttenleute sahen einander an.

„Hier können wir jeden Tag sterben", erklärte die Frau. „Lieber verrecke ich bei meiner einzigen Chance, was von der Welt zu sehen, als in 'ner dunklen Gasse von 'nem Räuber durchgefickt und erstochen zu werden."

„Seh' ich auch so", brummte der Mann und die anderen beiden nickten zustimmend. „Ich hab mal 'ne Weile auf 'nem Schiff gearbeitet. Da war ich auch monatelang weg. Ich hätt' jeden Tag vom Mast fallen und ertrinken können. Oder wir wären von Piraten überfallen worden ..."

Cery war erleichtert, dass die Freiwilligen die mit ihrer Aufgabe verbundenen Gefahren so gelassen nahmen. Aber sie waren Hüttenleute. Sie waren tapferer und fruchtloser als die Angehörigen der Häuser, selbst als die meisten Magier. Und das hatte einen entscheidenden Grund:

Es gab nicht viel, das sie zu verlieren hatten.

„Meine Auftraggeber und ich danken euch für eure Hilfe", sagte er. „Wenn ihr soweit seid, brechen wir jetzt auf."

„Wir ha'm alles, was wir brauchen dabei", erwiderte der Mann, der zuerst gesprochen hatte, und klopfte auf den Beutel, den er über seiner Schulter trug.

„Gut." Cery bedeutete der kleinen Gruppe, ihm zu folgen. Bevor sie sein Versteck verließen, verbanden er und sein Leibwächter Savara und den Freiwilligen die Augen. Dann führten sie sie über die Straße der Diebe bis zu einem Ausgang am Rand der Hüttenviertel.

Draußen nahmen sie ihnen die Augenbinden wieder ab. Sie ließen die letzten Hütten hinter sich und betraten die dahinterliegende Graslandschaft. Etwa eine halbe Stunde stapften sie über schneebedeckte Wiesen, bis vor ihnen ein nicht mehr ganz intaktes Gehöft auftauchte. Das Gehöft, das Cery gekauft hatte, als er Captain der Stadtwache geworden war, um einen Umschlagplatz für seine weniger heißen Geschäfte zu haben.

Er steuerte auf eine baufällige Scheune zu. Dort drin stand ein Karren beladen mit Proviant, Decken und Kleidung zum Wechseln. Zwei Pferde waren davor gespannt. Man hatte Cery versichert, dass diese Rasse darauf gezüchtet war, lange Strecken mit wenig Wasser und Nahrung auszukommen. In Sachaka würde Savara sie brauchen.

„Dieser Karren", erklärte er den vier Hüttenleuten, „wird in den nächsten Wochen und Monaten euer Zuhause sein."

„Gemütlich", bemerkte einer der Männer. Er und die Frau kletterten auf die Ladefläche.

Cery wandte sich Savara zu. In ihren Augen schimmerten Tränen.

„Leb wohl, Ceryni", sagte sie. „Danke. Für alles, was du für mich getan hast."

„Schon gut", winkte er ab. „Ich hab's gern getan."

Einem plötzlichen Impuls folgend schloss er sie in seine Arme. Ein letztes Mal genoss er das Gefühl, ihren weichen, geschmeidigen Körper zu spüren und ihren Duft zu atmen.

„Pass auf dich auf", sagte er.

Savara schien erheitert. „Cery, das ist nur einer von vielen Aufträgen, die ich bereits erledigt habe", sagte sie. „Ich weiß, worauf ich mich einlasse."

Sie küsste ihn auf die Wange. Dann ließ sie von ihm ab und schwang sich behände auf den Kutschbock.

„Wir sehen uns, Ceryni", sagte sie und winkte.

Sie schlug mit den Zügeln und die Pferde setzten sich in Bewegung. Cery sah ihr nach, sah, wie der Karren über die verschneite Wiese rumpelte und schließlich die Straße erreichte. Erst als er hinter einigen flachen Hügeln verschwunden war, wandte er sich ab.

„Du kannst jetzt zur Gilde gehen und Lord Akkarin die vereinbarte Nachricht überbringen", sagte er zu seinem Leibwächter.

Gol nickte. „Kommst du solange ohne mich klar, Chef?"

„Ja." Cery zwang sich zu einem zuversichtlichen Lächeln. „Ist ja nicht so, als hätte sie mich zum ersten Mal verlassen."


Nur widerwillig erwachte Sonea aus dem tiefen und traumlosen Schlaf, in den sie irgendwann gefallen war. Sie fühlte sich getröstet und geborgen. Es war ein warmes, heilsames Gefühl. Sie wollte nicht, dass es verging, und sie wünschte, es würde ebenso zögernd weichen, wie ihre Benommenheit. Sie hatte die vage Ahnung, ihre Welt würde auseinanderbrechen, wenn es aufhörte.

Etwas Weiches berührte ihre Lippen. Im selben Augenblick nahm sie Akkarins vertrauten Duft wahr. Ein willkommenes Gefühl von Wärme breitete sich in ihr aus. Sonea mochte es, wenn er sie auf diese Weise weckte. Sie wünschte, er würde das öfter tun als nur am Wochenende und in den Ferien. Die Geborgenheit, die seine Nähe mit sich brachte, erschien ihr dennoch seltsam unwirklich. Sie vermittelte ihr das Gefühl, alles sei gut.

Aber war es denn nicht immer gut gewesen?

Sonea wollte nicht darüber nachdenken, nicht jetzt. Sie musste diesen Augenblick auskosten, solange er währte.

Akkarin war bei ihr. Er liebte sie. Er würde immer bei ihr sein. Und sie würde ihn niemals wieder fortlassen. Alles andere zählte nicht. In einem Anflug von Zuneigung schlang sie die Arme um ihn und hielt ihn fest.

Eine lange Weile lagen sie so. Sonea sog seinen angenehm-herben Duft in tiefen Zügen ein, während ihre Hände träge über seinen Körper glitten. Sein Atem strich über ihre Haut, sie spürte seinen Herzschlag und fühlte, wie sich seine Brust auf ihrer ausdehnte und wieder zusammenzog. Sie war überzeugt, sie würde nie genug davon bekommen, ihn so nahe bei sich zu spüren.

Seine Lippen berührten ihre Haut, wo sie darauf trafen. Sonea legte den Kopf in den Nacken und seufzte leise, während sie seine Küsse genoss. Mit einer Hand fuhr Akkarin unter ihr Nachthemd und begann über ihren Bauch und ihre Brüste zu streichen. Seine Berührung erfüllte sie mit Glückseligkeit und Erregung. Ihre Hände fuhren wie von selbst seinen Rücken hinab und drückten ihn an sich, als sie das unbändige Bedürfnis verspürte, ihn in sich zu spüren. Nicht nur körperlich. Sie wollte ihn ganz.

Akkarins Hand wanderte zwischen ihre Beine, schob ihre Schenkel auseinander und streichelte sie. Sonea unterdrückte ein Stöhnen, als ihr Verlangen vollends erwachte. Wie schaffte er das nur, selbst wenn sie zum Sterben müde war?

Sie liebten sich lange und behutsam. Das Gefühl seiner Präsenz in ihr war seltsam tröstlich und Sonea genoss es, sein eigenes Verlangen zu spüren, während sie sich ihm hingab. Schließlich tat Akkarin einen tiefen Atemzug und blieb reglos auf ihr liegen. Sonea streichelte seinen Rücken und verfolgte ein tiefes Gefühl von Geborgenheit verspürend, wie sich sein Herzschlag allmählich wieder beruhigte.

Als er sich aus ihr zurückzog, öffnete sie widerwillig die Augen. Im Schlafzimmer herrschte ein Zwielicht, das ihr fremd war. Plötzlich war das Gefühl von Seltsamkeit zurück.

„Wie spät ist es?", murmelte sie.

„Es ist später Nachmittag." Akkarin richtete sich ein wenig auf und musterte sie mit nachdenklich gerunzelter Stirn. Er streckte die Hand aus und strich eine Haarsträhne aus ihrem Gesicht. „Hast du gut geschlafen?"

Sie nickte, obwohl sich das Gefühl, dass irgendetwas nicht in Ordnung war, hartnäckig hielt.

Er schenkte ihr das Halblächeln, das sie so an ihm liebte. „Gut", sagte er und küsste sie behutsam. „Wir sollten aufstehen und Balkan Bericht erstatten."

Sonea erstarrte.

Schlagartig kehrten die Erinnerungen an die vergangene Nacht zurück. An die Jagd, an Savara, an das Entsetzen, das sie empfunden hatte, als sie erfahren hatte, dass Akkarin diese Frau kannte. Und an sein Geständnis.

Sie erinnerte sich, wie sie sich daraufhin in den Schlaf geweint hatte. Akkarin hatte versucht, sie zu trösten und versucht zu ihr durchzudringen, doch Sonea hatte ihn nicht gelassen und ihre Gedanken vor ihm abgeschirmt. Als er wiederholt versucht hatte, sie in den Arm zu nehmen, hatte sie eine Barriere zwischen ihnen errichtet. Erst als die ersten Sonnenstrahlen schon lange das Schlafzimmer erhellten, war sie endlich eingeschlafen, nur um jetzt das ganze Ausmaß ihrer Verzweiflung zu erkennen.

Wie konnte er es wagen, so zu tun, als sei nichts geschehen?

Die Worte, die Ikaro in der vergangenen Nacht an sie gerichtet hatte, schossen ihr erneut durch den Kopf.

War dir nicht klar, was du für ihn bist? Während seiner Zeit in Sachaka ist er auf den Geschmack gekommen. Du bist für ihn nur ein Spielzeug.

Der Sachakaner mochte nur die Absicht gehabt haben, sie zu provozieren. Aber was, wenn er recht hatte? Sie fühlte sich benutzt. Akkarin hatte sie sich genommen, während sie noch halb geschlafen hatte. Wäre sie bei vollem Verstand gewesen, hätte Sonea das nicht zugelassen. Nicht nach der letzten Nacht.

Er hatte sie sein Verlangen spüren lassen, so wie er es sonst auch tat.

Aber woher sollte sie wissen, dass es wirklich ihr gegolten hatte?

„Dann sollten wir das jetzt besser tun", sagte sie hart und tauchte unter ihm hindurch.

Sie streckte ihren Willen aus und ihr Morgenmantel schwebte in ihre ausgestreckte Hand.

„Sonea."

Seine Stimme klang bittend, doch Sonea beschloss, es zu ignorieren.

„Wir sollten Balkan nicht noch länger warten lassen", sagte sie, während sie den Morgenmantel überstreifte und den Gürtel vor ihrem Bauch knotete.

Ohne sich noch einmal nach ihm umzudrehen, ging sie ins Bad.


Die Sonne stand nur noch eine Handbreit über den Häusern und die Schatten waren lang geworden, als Dannyl und Kito ihre Herberge verließen und durch die von weißen Mauern gesäumten Straßen zum Palast von Arvice eilten. Zwischen sich trugen sie eine Kiste mit einer Auslese von Mayries besten Wein. Die Wärme der Nachmittagssonne hatte sich verflüchtigt. Die Luft war kühl und so fielen sie mit den langen Mänteln, die sie über ihren Roben trugen, unter den bunten Gewändern der Sachakaner nicht mehr auf, als andere ausländische Reisende.

Sie hatten ein schnelles Tempo angeschlagen. Das Finden einer Herberge und das unbedingt notwendige Bad hatten mehr Zeit verschlungen, als Dannyl lieb war. Und so hatten sie das Abendessen ausfallen lassen. Es war wichtig, dass sie noch an diesem Tag im Palast vorsprachen. Es konnte Tage dauern, bis sie dazu erneut Zeit fanden, wenn sie ihre Rolle als Weinhändler weiterspielen wollten. Die Märkte öffneten jeden Tag bei Sonnenaufgang und schlossen erst kurz vor Sonnenuntergang.

Sie überquerten den großen Platz, auf denen die letzten Verkäufer gerade ihre Stände abbauten. Nur mit kurzen Hosen bekleidete Männer waren damit beschäftigt, den Boden von Unrat zu befreien. Sklaven, nahm Dannyl an. Bis zum Palast war es zu Fuß nur eine halbe Stunde, wie der Wirt ihrer Herberge ihnen erklärt hatte. In einer Stadt wie Arvice war das eine kurze Distanz.

Mit seinen hoch in den Himmel ragenden Türmen war der Palast das einzige Gebäude in Arvice, das von jedem anderen Haus aus sichtbar war. So gesehen konnten sie ihr Ziel nicht verfehlen. Dannyl war sicher, in jedem anderen Fall hätte er sich in dieser Stadt, in der eine Straße identisch mit den anderen schien, verlaufen.

„Ist dir auch schon aufgefallen, dass die Grundstücksmauern hier so hoch sind, dass man nicht sehen kann, was dahinter liegt?", fragte er, als sie in eine Straße einbogen, vor der sie hofften, dass sie sie dem Palast näherbrachte. „Seit wir hier sind, habe ich noch keinen einzigen Laden, keinen Bäcker oder etwas, das einem Bolhaus oder Bordell gleichen würde, gesehen. Bei den Märkten gibt es die Herbergen für die Händler, aber der Rest scheint nur aus diesen sachakanischen Herrenhäusern zu bestehen."

„Das ist ihre Kultur, Dannyl", murmelte Kito. „Sie brauchen keine Läden. Sie haben Sklaven."

„Ich habe irgendwie erwartet, die Ashaki in der Stadt wären in dieser Hinsicht anders", erwiderte Dannyl. „Im Gegensatz zu denen auf dem Land sind sie wirtschaftlich nicht autark."

„Die Ashaki in der Stadt schicken ihre Sklaven auf den Markt um ihre Erzeugnisse gegen Geld oder andere Dinge, die sie benötigen einzutauschen", antwortete der Vindo. „Und was das Vergnügungsgewerbe betrifft, so haben sie auch dafür Sklaven."

Dannyl starrte ihn an. Prostitution war an sich schon entsetzlich genug. Diejenigen, die sich dem verschrieben, taten es aus purer Verzweiflung oder weil sie dazu gezwungen wurden. Aber sie bekamen wenigstens einen, wenn auch geringen, Lohn. Dazu gezwungen zu sein, ohne dafür eine Bezahlung zu erhalten und dabei den Launen ihres Meisters ausgesetzt zu sein, erfüllte ihn mit unvorstellbarem Entsetzen.

„Verstehe", sagte er.

Kito musterte ihn aufmerksam von der Seite. „Lass das nicht an dich heran", sagte er ungewohnt sanft. „Wir sind nicht hier, um ihre mehr als eintausend Jahre alte Gesellschaftsform zu ändern."

„Nein, wir wollen nur einen beinahe ebenso lange zurückreichenden Konflikt beenden", entgegnete Dannyl mit einem Anflug von Ironie.

Kitos Nase kräuselte sich. Dannyl hatte herausgefunden, dass das immer geschah, wenn den Vindo etwas erheiterte.

„Dabei hätten wir mit Ersterem vermutlich die besseren Chancen", erklärte der Auslandsadministrator.

Wahrscheinlich hat er damit nicht einmal so unrecht, dachte Dannyl. Er warf einen Blick zum Himmel. Die Sonne berührte beinahe die Dächer der Häuser „Wir sollten uns ein wenig mehr beeilen."

Der Auslandsadministrator nickte. „Es kann nicht mehr weit sein. Die Grundstücke, an denen wir vorbei kommen, werden immer weitläufiger, was darauf hindeutet, dass ihre Besitzer immer reicher werden."

Dannyl sah sich um. Offenkundig hatte der ehemalige Krieger recht. Sie passierten immer seltener ein Tor, das das Weiß der Steinmauern unterbrach.

Plötzlich endete die Straße und sie fanden sich an einem weiten, von seltsamen exotischen Bäumen gesäumten Boulevard wieder. Solche Bäume hatte Dannyl auf ihrer Reise durch Sachaka hin und wieder in den Gärten der Ashaki und am Ufer der Haraki erblickt. Ihre Stämme waren dick und schuppig, ihre Blätter lang und fedrig und glichen keinen Bäumen, die er aus den Verbündeten Ländern kannte.

„Die Prachtstraße." Kitos schwarze Augen leuchteten. „An ihrem Ende liegt der Palast."

Sie eilten das breite, gepflasterte Boulevard entlang. Vereinzelt kamen ihnen auffällig bunt gekleidete Männer entgegen. Sie sahen jedoch keine einzige Frau. Kito hatte ihm erklärt, dass es den Frauen nur erlaubt war, in Begleitung ihrer Ehemänner oder mehrerer Sklaven das Haus zu verlassen. Die Gründe hatte Dannyl nicht nachvollziehen können. Das ist wahrhaftig kein Land, in dem man sich als Besucher wohl fühlen kann, fuhr es ihm durch den Kopf. Er erschauderte. Je mehr er über dieses Land erfuhr, desto größer wurde sein Drang, es auf der Stelle wieder zu verlassen.

Nach mehreren einhundert Schritten mündete die Prachtstraße in einen Platz, hinder dem ein großes, goldenes Tor offen stand. Zu beiden Seiten erstreckte sich eine dreißig Fuß hohe Mauer aus glattem weißen Stein mit Türmen an den Ecken, von denen jeder mindestens mehrere hundert Fuß hoch sein musste.

Unmöglich, darüber zu klettern, fuhr es Dannyl durch den Kopf. Er unterdrückte ein Schnauben. Kitos ständige Gesellschaft schien sich positiv auf die Schärfe seiner Sinne auszuwirken.

„Gib mir die Kiste", murmelte Kito. „Sie sollen denken, du wärst mein Vorgesetzter."

Seine plötzliche Nervosität unterdrückend nickte Dannyl und übergab ihm die Weinkiste. Sie hatten sich darauf geeinigt, dass er vorgab, der Höherrangige zu sein. Kein Sachakaner würde ihnen abkaufen, dass ein Magier der Vindo einen höheren Rang bekleidete als ein Kyralier.

Vor dem Tor standen zwei uniformierte Männer. Sie trugen altmodische Schwerter mit gekrümmter Klinge, aber zu Dannyls Entsetzen auch juwelenbesetzte Dolche. Schwarze Magier also. Das erklärte auch die offenen Tore. Er erschauderte.

„Konomaso", sagte er höflich auf Sachakanisch. Die Worte fühlten sich ungewohnt an, obwohl die Händler sich während ihrer Reise alle Mühe gegeben hatten, ihm ein Gefühl für diese Sprache beizubringen. „Nusha shaco'nacito, yore sha'dicicata ovachaha ziso yaramasa Marika, arachariya mi Sachaka." (Guten Abend. Wir sind gekommen, um eine Audienz bei König Marika, dem Herrscher über Sachaka, zu erbitten.)

Die Wache winkte einen mageren, halbwüchsigen Jungen, der wie die Männer auf dem Markt nur mit einer Hose bekleidet war, heran. Der Junge eilte herbei und warf sich zu Boden.

Die Wache sagte etwas zu ihm, das Dannyl nicht verstand. Der Junge erhob sich.

„Sha'nacito", sagte er dann zu Dannyl und Kito. (Kommt)

Sie folgten dem Jungen über einen weitläufigen Platz, in dessen Mitte ein großer Springbrunnen munter plätscherte. Innerhalb der Palastmauern herrschte geschäftiges Treiben. Sklaven eilten an ihnen vorbei beladen mit Kisten und Körben, die sie zu einem der den Hof säumenden Gebäude brachten.

Für einen Augenblick vergaß Dannyl seine Furcht und blickte sich staunend um. Die Gebäude zu seiner Rechten sahen wie Ställe und Lagerräume aus, wenn auch sie ein wenig protzig wirkten. Die Gebäude zu seiner Linken waren noch prächtiger und er vermutete, dass sie Quartiere der auf dem Gelände lebenden Menschen enthielten. Ihre Fenster, deren Seiten nach oben in einem elegant geschwungenen Bogen zusammenliefen, waren mit Goldblatt und kleinen symmetrischen Symbolen verziert, wie Dannyl sie unterwegs an den Häusern der Ashaki gesehen hatte.

Aus einem zweistöckigen Bau mit mehreren kuppelförmigen vergoldeten Türmchen trat eine Gruppe sehr junger, wunderschöner Frauen. Ihre bunten Kleider zeigten so viel Haut, dass es sogar in Elyne skandalös gewesen wäre.

Kein Wunder, dass sie ihre Frauen nicht auf die Straße lassen, dachte Dannyl unwillkürlich.

„Wirf ihnen keine anzüglichen Blicke zu", raunte Kito. „Das gehört sich nicht. Wir wollen den König nicht schon beleidigen, bevor wir ihn überhaupt treffen. Am besten, du siehst sie überhaupt nicht an."

Das fiel Dannyl nur allzu leicht, doch das brauchte Kito nicht wissen. „Danke für die Warnung", murmelte er.

Die Frauen hatten offenkundig eine Menge Spaß. Sie lachten und kicherten, während sie denselben Weg wie ihr Führer einschlugen und direkt auf eine breite Treppe zuhielten.

Als er zu dem prächtigen Bau, der sich dahinter erhob, blickte, stockte Dannyl der Atem.

Der Palast war eindrucksvoller als jedes andere Bauwerk, das er je gesehen hatte. Dannyl zählte vier Stockwerke. Die schlanken, hohen Türme überragten sogar jene entlang der Palastmauer. Kleinere Türme und eine große Kuppel, die einen Großteil des Gebäudes überdeckte, waren aus purem Gold, das in der Abendsonne leuchtete. Die Fenster und das große Eingangsportal waren im selben Stil gebaut, wie die Fenster des Hauses, aus dem die Frauen gekommen waren. Als sie näher kamen, erblickte Dannyl auf den Fensterrahmen ein Mosaik aus blauen Blüten und denselben Symbolen verziert waren, die er auch auf den anderen Palastgebäuden gesehen hatte.

Dannyl war hingerissen. Der Palast hatte schon die Herrscher des Großen Sachakanischen Imperiums beherbergt. Er war mindestens eintausend Jahre alt. Trotzdem war er perfekt erhalten.

Tayend würde das gefallen, dachte er. Der Gedanke an seinen Gefährten löste eine plötzliche Sehnsucht aus und ließ Dannyl wünschen, sie würden ihren Auftrag in Sachaka bald erledigt haben. Inzwischen waren sie bereits seit mehr als einem Monat getrennt. Seit sie sich kannten, waren es wenn überhaupt nur wenige Wochen gewesen, wenn Dannyl nach Imardin gereist war. Für seinen Geschmack war bereits das zu viel.

Der Junge lief durch das Eingangsportal in eine Halle, die mit großen Vasen und Statuen dekoriert war. Als Dannyl sich umsah, entdeckte er den Stil, den er bereits draußen bemerkt hatte, wieder. In einer Höhe von etwa fünf Fuß lief eine Bordüre mit weiteren symmetrischen Symbolen in Karmesinrot an den Wänden entlang. Zu beiden Seiten der Halle führte eine gewundene Treppe mit einem Geländer aus Goldgeflecht in höhere Stockwerke.

Er warf einen Seitenblick zu Kito. Der Vindo sah sich geweiteten Augen um, was ihn wie ein etwas zu groß geratenes, staunendes Kind wirken ließ. Dannyl wusste indes, dass seine Sinne mehr taten, als nur den Palast zu bewundern.

Sie folgten ihrem Führer in einen langen Flur, in den auch die Frauen eingebogen waren. Anders als die Frauen folgten sie dem Flur jedoch nicht bis zu seinem Ende, sondern hielten vor einer Tür. Der Junge klopfte. Als die Tür aufschwang, trat er ein. Dannyl und Kito tauschten einen Blick und folgten ihm.

Der Raum war wie ein Büro eingerichtet. An den Wänden standen Regale und Aktenschränke. Es gab eine kleine Sitzgruppe aus gepolsterten Hockern bestehend. Am Fenster stand ein Schreibtisch, hinter dem ein großer, breitgebauter Sachakaner in einer Uniform, die jener der Wachen am Tor glich, saß.

In der Mitte des Raumes warf der Junge sich erneut zu Boden. „Rachariya Ivasako", sagte er, „u'sha'yzeyo aze sachi lalase-cha, charo yore sha'diciata ovachaha." (Meister Ivasako, ich bringe Euch zwei Fremde, die um eine Audienz bitten.)

Der Mann musterte Dannyl und Kito. „Sha'avaco", sagte er unerwartet freundlich. „Sha'vuvose oyoni." (Steh auf. Warte draußen.)

Der Junge stand hastig auf und verließ den Raum. Der Sachakaner machte eine kaum merkliche Bewegung mit der Hand und die Tür fiel hinter ihm zu.

„Mein Name ist Ivasako", stellte er sich Dannyl und Kito auf Kyralisch vor. „Ich bin Meister der Palastwache und Sekretär des Königs. Darf ich fragen, wer Ihr seid und was Euer Anliegen ist?"

Das war der Punkt, an dem sie ihre Rollen ablegen und bei der Wahrheit bleiben mussten. Alles andere würde die Sachakaner beleidigen, sollten sie herausfinden, wer sie wirklich waren. Dannyl verspürte eine wachsende Nervosität. Entschlossen schob er sie beiseite.

„Mein Name ist Auslandsadministrator Kito", sprach Kito. „Ich bin der höchste Diplomat der Magiergilde zu Kyralia. Das ist mein Kollege Lord Dannyl, zweiter Botschafter der Magiergilde in Elyne. Wir sind den weiten Weg nach Arvice gereist, um mit König Marika, dem Herrscher über Sachaka, diplomatische Verhandlungen aufzunehmen. Unser Ziel ist es, die Lage zwischen Sachaka und Kyralia zu entspannen und eine friedliche Lösung für den Konflikt unserer Länder zu finden."

„Als Zeichen unserer friedlichen Absichten möchten wir Eurem König eine Auswahl des besten elynischen Weines zum Geschenk machen", fügte Dannyl hinzu.

Ivasako hob eine Augenbraue. Dannyl beschlich das ungute Gefühl, dass es ihnen lediglich gelungen war, diesen Mann zu erheitern.

„Stellt die Kiste dort ab." Ivasako wies zur rechten Wand, wo bereits weitere Kisten, Schatullen und ein exotischer Vogel in einem Käfig warteten. Offenkundig waren sie nicht die Ersten, die versuchten, Marikas Gunst durch Geschenke zu erwerben.

Kito ließ die Kiste zu den anderen Sachen schweben.

„Ich kann Euch nicht sagen, wann und ob der König Euch empfangen wird", erklärte Ivasako ihnen. „Er ist ein vielbeschäftigter Mann. Ich werde ihm Euer Anliegen vortragen. Die Entscheidung wird jedoch er treffen."

„Wir stehen in Eurer Schuld, Meister Ivasako", sagte Kito.

„Hinterlasst mir eine Adresse, wo ich Euch erreichen kann, sollte er sich entschließen, Euch die Audienz gewähren."

Kito nannte ihm die Adresse ihrer Herberge. Der Sachakaner schien überrascht, weil sie als Magier in der Nähe der Märkte nächtigten. Allerdings wies er sie auch nicht auf bessere Unterkünfte hin.

„Viel beschäftigt", knurrte Kito, nachdem sie einigen Abstand zum Palast hinter sich gebracht hatten und sicher waren, dass niemand ihnen folgte. „Mit Kriegsvorbereitungen und Verhandlungen mit seinen Untertanen nehme ich an."

Der sonst so ruhige Vindo war verärgert, stellte Dannyl fest. Auch er war nicht allzu begeistert. Sie beide hatten nicht damit gerechnet, sofort einen Termin zu bekommen. Aber die Herablassung, mit der ihnen Marikas Sekretär begegnete, hatte auch ihn verärgert.

„Ich hatte die ganze Zeit das Gefühl, der Kerl lacht uns aus", sagte er, während sie durch die rasch dunkler werdenden Straßen eilten. Der Rückweg stellte eine Herausforderung an Dannyls Orientierungssinn dar und so war er dankbar für Kitos gute Beobachtungsgabe.

„Ich auch", murmelte Kito. „Es würde mich wundern, wenn er Marika überhaupt von unserem Besuch berichtet."

Wollen wir hoffen, dass er es tut, dachte Dannyl. Denn andernfalls war ihre Mission umsonst gewesen.


Über den Dächern der Stadt hing ein letztes Glühen. Die ersten Sterne leuchteten wie kleine, harte Diamanten. Rothen schüttelte sich und errichtete einen Wärmeschild. Auch diese Nacht würde bitterkalt werden.

Er verließ Magierquartiere und betrat den Weg zu den Sieben Bögen. Beim Frühstück hatte er die Nachricht erhalten, dass Akkarin und Sonea am Abend dort über ihre Jagd auf die beiden Sachakaner Bericht erstatten würden. Der Diener, der ihm die Nachricht überbracht hatte, hatte ihm ebenfalls berichtet, dass sie erst am Morgen zurückgekehrt waren.

Den ganzen Tag hatte Rothen diesem Treffen mit Spannung entgegengefiebert. Er brannte darauf, alles über den Ausflug der beiden schwarzen Magier in die Hüttenviertel zu erfahren, wie es ihnen gelungen war, die Sachakaner aufzuspüren und ob sie wichtige Informationen aus ihnen herausbekommen hatten. Und er wollte wissen, ob es Sonea gutging. Am vergangenen Abend hatte sie zum ersten Mal den Befehl erhalten zu töten. Rothen ahnte, dass sie dabei trotz allem moralische Bedenken gehabt hatte.

Der Tagessaal wurde von mehreren Lichtkugeln erhellt. Die übrigen höheren Magier hatten bereits ihre Plätze an dem Tisch in der Mitte des Raumes eingenommen. Rothen grüßte in die Runde und setzte sich neben seinen Lord Peakin.

„Akkarin und Sonea sollten bald hier sein", sagte Balkan. „Da wir bereits versammelt sind – hat jemand ein besonderes Anliegen?"

Rothen hob eine Hand. „Meine Versuchsreihen sind fertig", teilte er dem Hohen Lord mit. „Die Resultate können ab sofort im Steinbruch vorgetestet werden."

„Sehr gut", nickte Balkan. „Was genau habt Ihr ausprobiert?"

„Die beiden Versuchsreihen, die mein Novize und ich vor einigen Wochen vorgestellt haben, sowie die von Lord Peakin und seinem Vorgänger vorgeschlagenen Ideen. Wir haben jede Mixtur in unterschiedlichen Stärken hergestellt. Nach einer Diskussion mit Lord Akkarin und Lord Sarrin haben wir jeder Versuchsreihe fünf weitere Versuche hinzugefügt, die meine und Farands Entwürfe an Stärke übertreffen sollen. Wenn Ihr wünscht, werde ich die Protokolle aus meinem Quartier holen …"

„Nicht nötig", winkte Balkan ab. „Es genügt, wenn Ihr sie mir morgen gebt." Er sah zu Peakin. „Ihr solltet Euch Rothens Versuchsreihe ebenfalls ansehen, bevor wir ihn damit auf unsere schwarzen Magier loslassen."

„Selbstverständlich, Hoher Lord", erwiderte Peakin.

„Dann schlage ich vor, Ihr begleitet mich und meinen Novizen in den nächsten Tagen zum Steinbruch", sagte Rothen erfreut.

„Gibt es weitere Anliegen?", fragte Balkan.

Rektor Jerrik räusperte sich. „Ja, Hoher Lord. Es geht um die neuen Winternovizen."

„Sprecht."

„Die Eltern einiger Novizen aus den Häusern weigern sich, ihre Kinder mit Kindern aus Arbeiterfamilien auf die Universität zu schicken. Sie verlangen getrennten Unterricht. Ich habe bereits mit einigen Lehrern gesprochen, die die Neuzugänge unterrichten werden. Sie ..."

„Kommt gar nicht in Frage", schnitt Balkan ihm das Wort ab. „Wer der Gilde beitritt, muss einen Eid leisten, der ihn oder sie zu einem Mitglied unseres Hauses macht. Damit wird die Herkunft irrelevant."

„Noch mehr derartige Ideen und ich spreche mich dafür aus, diesen Eid abzuschaffen und die Novizen aus verfeindeten Häusern getrennt zu unterrichten", murmelte Lady Vinara säuerlich.

„Unter den Lehrern wird befürchtet, dass zwischen den Novizen aus den Häusern und den aus den Arbeiterfamilien ein Klassenkrieg entbrennt", wandte Jerrik vorsichtig ein.

„Dann ist es an Euch, die entsprechenden Maßnahmen zu ergreifen", sagte Balkan. „Ich bin dieses Thema leid. Die Gilde braucht dringend Nachwuchs und es wird Zeit, dass wir unsere Beliebtheit bei der einfachen Bevölkerung vergrößern."

Wenige Wochen vor Beginn der Winterferien hatte die Gilde offiziell bekanntgegeben, zu Beginn des neuen Halbjahrs erstmals Novizen aufzunehmen, die nicht aus den Häusern stammten. Diese vieldiskutierte Idee war mehr aus Verzweiflung denn einer ernsthaften Öffnung gegenüber der einfachen Bevölkerung geboren worden, wusste Rothen. Die Invasion der Ichani hatte die Zahlen der Gilde stark dezimiert, was sie gegenüber den Sachakanern schwächte. Um schnell genügend Nachwuchs zu bekommen und um die Verluste der Schlacht zu kompensieren, waren nun offiziell auch Kinder aus einfachen Familien mit magischem Potential zugelassen.

Während viele seiner Kollegen dieser Idee skeptisch gegenüberstanden, hatte Rothen sie wiederholt befürwortet. Jedoch weniger aus Furcht vor den Sachakanern als aus seinem Sinn für Gerechtigkeit heraus. Anders als Sonea, die in ihrer Klasse die einzige Novizin aus einfachen Verhältnissen war, würden die Neuzugänge einen leichteren Start haben, weil sie nicht auf sich gestellt waren. Dennoch sah auch er die Gefahr eines Klassenkampfes, weswegen er sich bereit erklärt hatte, die neue Klasse in den Grundlagen der Alchemie zu unterrichten, um ihnen nebenbei ein paar moralische Werte mitzugeben.

Darüber hinaus hatte Rothen angeboten, die Novizen aus ärmeren Kaufmanns- und Handwerkerfamilien sowie die jene aus den Hüttenvierteln in Lesen, Schreiben, den Grundrechenarten und der Etikette der Häuser zu unterrichten. Obwohl Jerrik die Idee begrüßt hatte, hatten die höheren Magier selbige abgelehnt. Rothen verstand auch, warum. Sein Forschungsprojekt zur alchemistischen Kriegsführung hatte im Augenblick Vorrang. Das Vorhaben war indes nicht aufgegeben worden. Zum Winterhalbjahr würden drei Novizen aus den Hüttenvierteln der Gilde beitreten. Während ihres ersten halben Jahres würden sie abwechselnd von Lord Larkin und einem jungen Heiler aus Vin in allem unterrichtet werden, was benötigten, um im Sommer ihr Studium offiziell zu beginnen.

Der Rektor wirkte indes nicht allzu glücklich mit Balkans Entscheidung. Er öffnete protestierend den Mund, doch dann schwangen die großen Türen des Tagessaals auf und zwei schwarzgewandete Gestalten traten ein.

Akkarin und Sonea.

Rothen sah auf den ersten Blick, dass etwas nicht stimmte. Akkarin wirkte noch finsterer als gewöhnlich. Sonea hingegen sah so elend aus, wie in den ersten Tagen nach der Schlacht.

Mit einem Mal wünschte er, sie hätte bei ihrer Wiederaufnahme der schwarzen Magie abgeschworen und wäre Heilerin geworden. Sie war viel zu gut, um als Auftragskillerin für die Gilde zu arbeiten. Es schmerzte ihn, sie so zu sehen.

Die schwarzen Magier durchschritten den Raum und setzten sich auf die beiden nebeneinanderstehenden Stühle, die die höheren Magier freigelassen hatten.

„Dann können wir jetzt mit dem eigentlichen Zweck unseres Treffen beginnen." Balkan sah zu Akkarin und Sonea. „Lord Akkarin, berichtet uns von dem Verlauf Eurer Jagd nach den beiden Sachakanern."

Das ehemalige Oberhaupt der Gilde lehnte sich zurück, die Spitzen seiner langen Finger aneinandergelegt.

„Unsere Jagd war erfolgreich, Hoher Lord", begann er. „Als wir den Äußeren Ring erreichten, erfuhren wir, dass die Diebe bereits über den Ausbruch eines Gefangenen informiert waren und verstärkt in den Hüttenvierteln patrouillierten. Wir riefen sie in Captain Cerynis Wachhaus zusammen und gaben ihnen neue Anweisungen. Wir erklärten ihnen, worauf sie achten mussten, sollten sie auf Leichen stoßen, da Ikaro sich während der Flucht stärken würde, nachdem er seine Magie wieder entfesselt hatte."

„Wie ist das möglich?", fragte Lady Vinara. „Wir hatten seine Kräfte doch blockiert."

„Savara, die Frau, die ihn aus dem Gefängnis befreit hat, hat es getan. Anscheinend besitzen einige Sachakaner das Wissen, wie eine Blockade aufgehoben werden kann."

Unter den Magiern entstand aufgeregtes Gemurmel ob dieser unerfreulichen Neuigkeit.

„Lord Akkarin, bitte fahrt fort", sagte Balkan. Sofort kehrte wieder Stille ein.

„Da ich Ikaro in dem Augenblick, in dem seine Magie entfesselt wurde, in den Hüttenvierteln spüren konnte, bevor er seine Aura verbarg, konzentrierten wir unsere Suche dort", berichtete Akkarin. „Es war wahrscheinlich, dass er und die Frau versuchen würden, dort unterzutauchen, während er sich stärkte. Daher wiesen wir die Patrouillen an, ihre Bezirke zu durchstreifen.

„Je Bezirk sandten wir eine Streife auf die Straße der Diebe, weil die Frau Kenntnisse über das Tunnelsystem besitzt. Während die übrigen Patrouillen die Hüttenviertel durchstreiften, hat Captain Ceryni mich und Sonea zu einigen Orten gebracht, an denen sich die Frau eventuell verstecken würde. Dort fanden wir jedoch keine Spur von ihr. Von den Patrouillen erhielten wir derweil Meldungen über Leichen mit oberflächlichen Wunden am Hals, wodurch wir die Flüchtigen schließlich in Captain Gorins Bezirk stellen konnten."

Der Hohe Lord runzelte die Stirn. „Wie habt Ihr die Informationen erhalten?", fragte er.

„Mit Blutjuwelen", antwortete Akkarin wie selbstverständlich. „Sonea und ich haben sie eigens zu diesem Zweck aus dem Bestand von Captain Cerynis Weingläsern hergestellt."

Einige der höheren Magier sogen scharf die Luft ein. Was habt ihr erwartet?, dachte Rothen. Ihr wolltet doch verhindern, dass sie entkommen. Er musste zugeben, dass Blutjuwelen angesichts der Situation die wahrscheinlich beste Lösung gewesen waren. Bei genauerem Betrachten war die Idee sogar ziemlich genial.

„Ist Euch überhaupt bewusst, was Ihr diesen Menschen damit angetan habt?", fragte Garrel empört.

„Ich habe ihnen die Funktionsweise der Blutjuwelen mit all ihren Vor- und Nachteilen erläutert und ihnen empfohlen sie nur zu berühren, wenn sie eine Meldung zu machen haben", sagte Akkarin kühl. „Inzwischen haben sie die Blutjuwelen wieder zurückgegeben."

„Ihr habt sie doch hoffentlich zerstört?", fragte Lady Vinara mit einem leisen Vorwurf in der Stimme.

„Ja."

„Was habt Ihr Euch dabei gedacht, Akkarin?", verlangte der Hohe Lord zu wissen.

„Die beiden Sachakaner mit den mir und Sonea gegebenen Möglichkeiten möglichst schnell zu finden und unschädlich zu machen."

„Soweit ich mich erinnere, schloss das die Verwendung von Blutjuwelen nicht mit ein", sagte Garrel.

„Ah, sie wurden aber auch nicht explizit ausgeschlossen."

Balkans Miene verfinsterte sich zusehends, doch es war offenkundig, dass er gegen Akkarin machtlos war. „Wir werden uns später damit befassen", erklärte er. „Zurück zum Thema. Es ist Euch also gelungen, die Sachakaner in Gorins Bezirk zu stellen."

„So ist es. Als wir dort ankamen, hatte Ikaro bereits die Patrouille, die ihn und die Frau aufgespürt hatte, getötet. Ikaro und die Frau waren in ein Haus eingedrungen. Wir folgten ihnen und es kam zum Kampf, wobei ein Teil des Hauses zerstört würde."

„Sind die Bewohner zu schaden gekommen?", fragte Lady Vinara.

„Der einzige Bewohner hat tief und fest geschlafen. Während des Kampfes brachen Teile der Wand und des Daches weg. Sonea hat dafür gesorgt, dass die Trümmer ihn nicht verletzen konnten."

„Den entstandenen Schaden wird die Gilde übernehmen", sagte Administrator Osen und machte sich eine Notiz.

„Wie ging es weiter?", fragte Balkan.

„Die Sachakaner flohen aus dem Haus, doch es gelang uns, sie auf der Straße aufzuhalten. Wir teilten uns dann auf, um sie zu trennen. Sonea übernahm Ikaro, weil er der vermutlich Schwächere war, während ich gegen die Frau kämpfte."

Balkan nickte langsam. „Die Details Eurer Taktik können wir später ausführlich diskutieren", sagte er. „Nachdem das Thema mit den Blutjuwelen geklärt ist. Mich interessiert vielmehr das Resultat. Sind die beiden Sachakaner tot?"

„Ikaro ist tot, Hoher Lord. Savara, die Frau hingegen nicht."

Rothen hörte, wie Lord Peakin neben ihm nach Luft schnappte.

„Was soll das heißen?", fragte Balkan. „Ist sie entkommen?"

„Nein. Sie arbeitet von nun an mit uns zusammen."

Rothens Herz setzte einen Schlag aus. Mit einem derartigen Ausgang hatte er am allerwenigsten gerechnet.

„Wie konntet Ihr …?", entfuhr es Lady Vinara. „Sie ist eine von denen!"

„Ihr habt einen eindeutigen Befehl verweigert." Garrel wandte sich zu Balkan, ein selbstgefälliges Lächeln aufgesetzt. „Hoher Lord, ich spreche mich dafür aus, Akkarin und Sonea zu bestrafen."

„Ruhe!", befahl Balkan scharf. Seine Miene verfinsterte sich zusehends, als er sich seinem Vorgänger zuwandte. „Lord Akkarin, warum habt Ihr das getan?"

„Weil sie uns auf diese Weise noch von Nutzen sein wird. Savaras Verhör ergab, dass sie sich als kooperativ erweisen würde, wenn sie den entsprechenden Anreiz erhält. Wir brauchen in Sachaka einen Spion aus dem eigenen Volk. Die Leute, mit denen Savara in Kontakt war, denken, ich hätte sie getötet. Sie wird sich als Ichani ausgeben, die bereit ist, für Marika zu kämpfen. Das Risiko, dabei erkannt zu werden, ist gering, da sie Marika nie persönlich begegnet ist. Die Informationen, die sie uns liefern wird, werden von ganz anderer Natur sein, als die der Händler, die wir zurzeit ausbilden."

Der Hohe Lord musterte Akkarin wachsam. „Und Ihr seid Euch sicher, dass dies funktionieren wird?"

„Absolut."

„Was hat Euch überzeugt?"

„Savara gehört einer Organisation von schwarzen Magierinnen an, die sich die Verräter nennen. Ihre Gründung geht auf die Zeit vor dem Sachakanischen Krieg zurück. Ihre eigentliche Aufgabe besteht darin, Frauen aus ihrem Elend zu befreien, das die meisten egal ob als Ehefrau oder Sklavin fristen, und diese zu ihrem Versteck zu bringen, wo sie sie Magie lehren. Einige Verräter arbeiten jedoch als Söldner für jeden, der ihnen genug Geld bietet, womit sie die Existenz ihres Volkes sichern, damit die übrigen die eigentlichen Ziele weiterverfolgen können. Die Verräter verhalten sich in den großen politischen Fragen neutral, andernfalls würde der König sie jagen. Ein Krieg zwischen Kyralia und Sachaka würde jedoch auch für sie politische Konsequenzen haben."

„Und warum hat sie dann Ikaro befreit?", fragte Osen.

„Als Ikaro begann, die Befehle seines Königs zu missachten, beauftragte dieser die Verräter nach ihm zu suchen. Sie schickten Savara, weil sie bereits einmal in Kyralia gewesen war. Sie wusste nichts über Ikaros Auftrag in Kyralia. Bis heute Nacht. Ich konnte sie überzeugen, für uns zu arbeiten, weil ihr Volk einen Krieg zwischen unseren Ländern nicht unterstützt. Hätte sie sich geweigert, hätte ich sie ohne zu zögern getötet."

„Wo ist diese Frau jetzt?"

„Sie ist bereits auf dem Weg zur Grenze. Zusammen mit vier Freiwilligen aus den Hüttenvierteln mit latentem magischen Potential."

„Seid Ihr des Wahnsinns?" Vinaras graue Augen blitzten vor Zorn. „Selbst wenn sie gewillt ist, mit uns zusammenzuarbeiten, könnt Ihr dieser Frau doch nicht einfach Nichtmagier nach Sachaka mitgeben!"

„Savara ist eine schwarze Magierin. Sie kann in Sachaka nur überleben, wenn sie Quellen hat. Zudem dienen die Freiwilligen als Tarnung."

„Die Freiwilligen wissen, worauf sie sich einlassen", sagte Sonea. Es war das erste Mal, dass sie sprach. Ihre Stimme war eisig. „Es sind Hüttenleute. Sie sind es gewohnt, jeden Tag um ihr Überleben zu kämpfen. Sie wollen ebenso wenig wie wir, dass die Sachakaner Kyralia erobern. Jetzt haben sie jedoch die Chance, uns zu helfen und zugleich der Armut zu entkommen und etwas von der weiten Welt zu sehen. Ihr solltet begrüßen, dass sie der Gilde ohne zu zögern diesen Dienst erweisen, obwohl sie die Magier hassen und für arrogant erachten."

In ihren Augen glomm ein gefährliches Funkeln. Einige von Rothens Kollegen rutschten unbehaglich auf ihren Stühlen umher. Er selbst kam nicht umhin, Stolz zu empfinden. Soneas leidenschaftlicher Zorn, mit dem sie für die Hüttenleute einstand, schien ungebrochen. Als ihre Blicke einander begegneten, hellte sich ihre Miene für einen kurzen Moment auf.

„Wir sollten nicht vergessen, dass dies nicht die einzigen Nichtmagier sind, die wir zu Spionagezwecken nach Sachaka schicken", sagte Rothen.

„Aber die Spione sind vorbereitet", wandte Garrel ein. „Diese Leute sind es nicht und sie werden durch diese Savara wahrscheinlich viel näher an den König und seine Anhänger herankommen als unsere Händler."

Lady Vinara seufzte. „Wie auch immer wir dazu stehen mögen, dass Lord Akkarin und Sonea sich über ihre Befehle hinweggesetzt und diese Savara als Spionin rekrutiert haben, sollten wir uns überlegen, ob wir sie überhaupt verfolgen wollen", sagte sie. „Inzwischen hat sie einen halben Tag Vorsprung. Ich halte es für eine schlechte Idee, ihr eine Schar Krieger hinterherzuschicken, weil wir unsere Magier nicht für solche Aktionen opfern sollten. Es gefällt mir nicht, aber ich vertraue Lord Akkarins Urteil über die Gesinnung dieser Frau, auch wenn ich die Involvierung von Nichtmagiern zutiefst missbillige."

Zu Rothens Erleichterung nickten Telano und Vorel zustimmend. Osen und Garrel starrten Akkarin hingegen finster an. Balkan hatte das Kinn auf eine Hand gestützt und blickte nachdenklich vor sich auf die Tischplatte.

„Ich denke, wir sollten es dabei belassen", sagte er widerwillig. „Vorausgesetzt, diese Frau ist tatsächlich vertrauenswürdig, ist Akkarins Idee bei näherem Betrachten brillant. Doch wir sollten unsere Spione trotzdem nach Sachaka entsenden. Wir müssen so viel, wie nur möglich über unseren Feind erfahren."

Davon abgesehen, dass wir erst wochenlang darüber diskutiert hätten, ob wir Savara rekrutieren, fuhr es Rothen durch den Kopf. Er war nur milde überrascht, weil die höheren Magier keine weiteren Einwände hatten. Akkarin hatte seinen Plan wie immer gut durchdacht.

Administrator Osen beugte sich vor. „Sonea, du hast vorhin gesagt, diese vier Hüttenleute würden versuchen, der Armut zu entkommen, indem sie auf diese Mission nach Sachaka gehen", sagte er. „Was hast du damit gemeint?"

Sonea zögerte. „Sie erhalten natürlich eine Bezahlung", antwortete sie. „Einhundert Goldstücke dafür, dass sie den Auftrag überhaupt machen, und weitere zehn für jeden Monat, den sie länger als vier Monate von zuhause fort sind."

„Das ist viel Geld", sagte der Administrator. „Wer soll dafür aufkommen?"

„Das Honorar wird aus meinen Forschungsgeldern bezahlt", antwortete Akkarin kühl. „Es ist nicht nötig, dass die Gilde für meine spontane Handlung aufkommt."

„Das kommt nicht in Frage", sagte Balkan schroff. „Trotz Eures eigenmächtigen Handelns ist Euer Plan gut und wird uns bezüglich der Sachakaner von Nutzen sein."

„Warum entscheiden wir nicht, wie diese Leute bezahlt werden, wenn sie aus Sachaka zurückgekehrt sind?", fragte Rothen. „Bis dahin wird sich unser Budget ohnehin verändert haben."

Und wir wissen gar nicht, ob sie überhaupt zurückkommen werden, fügte er in Gedanken hinzu.

„Danke, Rothen." Osen wirkte erleichtert. „Ich bin ganz Eurer Meinung."

Der Hohe Lord sah in die Runde. „Hat noch jemand weitere Fragen an Lord Akkarin und Sonea?"

Die höheren Magier schüttelten ihre Köpfe. So auch Rothen. Die Fragen, die er an Sonea hatte, wollte er ihr lieber stellen, wenn sie ungestört waren. Und das konnte warten. Sie sah aus, als würde sie gleich zusammenbrechen. Die nächtliche Jagd musste ihr einiges abverlangt haben.

„Dann habe ich selbst noch eine Frage." Balkan beugte sich vor. „Wie ist es der Frau gelungen, in das Gefängnis einzudringen?"

„Sie hat sich mit einer Illusion getarnt, um an den Wachen vorbeizukommen. Beim Verlassen des Gefängnisses wurden sie jedoch entdeckt und Ikaro nutzte die Gelegenheit, um eine Wache zu überwältigen und sich mit ihrem Messer zu bewaffnen. Anschließend tötete er damit jeden, der sich ihm und Savara in den Weg stellte."

„Und Savara hat keine der Gefängniswachen getötet?"

„Nein."

Der Hohe Lord nickte grimmig. „Dann erkläre ich dieses Treffen für beendet", verkündete er dann. „Lord Akkarin, wir sprechen uns morgen wegen der Blutjuwelen. Für heute habe ich von diesem Thema genug."

Stühle wurden über den Boden gerückt und Roben raschelten, als die Magier sich erhoben. Akkarin legte eine Hand zwischen Soneas Schulterblätter und führte sie nach draußen. Rothen verspürte eine vage Enttäuschung, weil sie nicht geblieben waren, um ihn zu begrüßen und ein paar Worte mit ihm zu wechseln. Aber wahrscheinlich war Akkarin im Augenblick der Einzige, der ihr die Zuwendung geben konnte, die sie brauchte.


Mit einer Besessenheit, die sie nur aus den letzten Tagen vor den Prüfungen kannte, saß Sonea an ihrem Schreibtisch und schrieb an ihrer Hausarbeit für Theoretische Kriegskunst. Solange sie beschäftigt war, brauchte sie sich nicht mit ihrem Schmerz zu konfrontieren. Die Tatsache, dass bereits mehr als die Hälfte der Winterferien verstrichen war und sie ihren Aufsatz noch nicht begonnen hatte, war ihr dabei sehr willkommen. So hatte sie wenigstens eine Ablenkung für die nächsten Tage.

Von dem späten Abendessen, das sie nach der Versammlung in den Sieben Bögen eingenommen hatten, hatte sie nur wenig gegessen. Selbst dazu hatte sie sich regelrecht zwingen müssen. Doch auch ohne Akkarins Gesellschaft hätte sie kaum einen Bissen herunter bekommen. Unter dem Vorwand, an ihrer Hausarbeit schreiben zu müssen, hatte sie sich noch vor dem Dessert in ihr Studierzimmer zurückgezogen.

Sonea fühlte sich elend. Es war noch schlimmer als an jenem Tag, wo Akkarin sie und Rothen getrennt hatte. Ihr Schmerz verdrängte sogar ihr Unbehagen darüber, Ikaro auf Befehl der Gilde getötet zu haben. Der Sachakaner hatte bekommen, was er verdiente. Sein Tod war notwendig gewesen. Wäre Ikaro wieder eingekerkert worden, so hätten andere versucht, ihn zu befreien. Und wäre er entkommen, hätte er noch größeres Unheil angerichtet.

Zu Beginn der vergangenen Nacht waren Soneas moralische Bedenken noch ihre größte Sorge gewesen. Jetzt wünschte sie, sie wären ihre einzige. Seit sie am Nachmittag aufgewacht war, hatte sie Akkarins Gesellschaft ertragen müssen. Sie konnte ihn auf nicht ewig auf Distanz halten.

Sie konnte die Nacht durcharbeiten, um nicht mit ihm in einem Bett schlafen zu müssen. Aber spätestens, wenn in der nächsten Woche der Unterricht wieder begann, würde Sonea ihm nicht mehr ausweichen können. Sie bezweifelte, ihre Beziehung wieder nur auf Mentor und Novizin reduzieren zu können.

Wie sollte sie jetzt noch seine Frau werden?

Hätte ich mich doch niemals mit ihm eingelassen!, dachte sie verzweifelt. Was hatte sie bloß dazu getrieben, mit ihm zusammen sein zu wollen?

Du wolltest es, weil du ihn liebst, lautete die Antwort. Aber woher hätte sie wissen sollen, dass Isara seine Gefühle noch immer beeinflusste, obwohl sie seit mindestens acht Jahren tot sein musste?

Es war albern, auf eine lange vergangene Liebe eifersüchtig zu sein. Aber es war etwas anderes, wenn diese Liebe noch immer existierte.

Ein halbes Jahr lang hatten sie sich geliebt. Sonea hatte geglaubt, ihn zu kennen. Sie hatte geglaubt, die Einzige zu sein. Sie hatte ihm ihre ganze, bedingungslose Liebe geschenkt. Sie hätte sich ihm niemals so sehr geöffnet, wenn sie das für falsch gehalten hätte.

Aber es hatte sich so richtig angefühlt!

Anscheinend habe ich mich schon wieder grundlegend in ihm getäuscht, dachte sie ernüchtert. Er war wohl doch das Ungeheuer, das sie früher in ihm vermutet hatte. Und sie hatte alles für ihn aufgegeben. Diese Erkenntnis war bitter.

Aber woher hätte sie das damals wissen sollen?

Sonea seufzte und versuchte sich wieder auf ihre Hausarbeit zu konzentrieren. Weil sie den Inhalt ihres letzten Absatzes wieder vergessen hatte, musste sie ihn erneut lesen. Als ihr wieder einfiel, was sie hatte schreiben wollen, wurde sie von einem Klopfen unterbrochen.

Hoffentlich ist es nicht Akkarin!, fuhr es ihr durch den Kopf. Dann fiel ihr wieder ein, dass Akkarins Klopfen viel bestimmter war.

Sie streckte ihren Willen aus und befahl der Tür, sich zu öffnen.

„Ich bringe Euch Raka, Mylady", sagte Takan und trat ein.

„Danke, Takan", antwortete Sonea ohne sich umzudrehen. Ein Gähnen unterdrückend schob sie ihre Notizen zur Seite und wies auf die freie Stelle. „Du kannst ihn dorthin stellen."

Interessiert beäugte Takan den unordentlichen Stapel, auf den Sonea die Notizen zugunsten ihres Raka geworfen hatte. Er hatte noch nie ein Wort darüber verloren, dass sie im Gegensatz zu seinem Meister eine leichte Neigung zur Unordnung besaß. Und es war Sonea gleich, solange er nicht anfing, ihren Schreibtisch aufzuräumen.

„Der Meister lässt ausrichten, dass Ihr zu Bett gehen sollt, wenn Ihr müde seid", sagte Takan ungewöhnlich vorsichtig.

Sonea verdrehte innerlich die Augen. Beobachtete er sie etwa gerade?

„Sag ihm, ich werde schlafen, sobald ich mit meiner Hausarbeit fertig bin", erwiderte sie unwirsch.

„Wie Ihr wünscht, Mylady."

Der Diener verneigte sich und wandte sich zum Gehen.

„Warte."

Takan hielt inne.

„Kannst du für mich eine Nachricht zur Residenz des Hohen Lords bringen? Sie ist für seine Frau Luzille."

„Natürlich, Mylady."

Sonea nahm einen frischen Bogen Papier und tauchte ihre Schreibfeder ins Tintenfass.

Liebe Luzille, schrieb sie, zu meinem Bedauern muss ich Euch leider mitteilen, dass ich den Termin mit Eurem Schneider am letzten Ferientag nicht einhalten kann, da ich eine Hausarbeit fertig schreiben muss. Wenn Ihr einen Termin für das erste oder zweite Wochenende nach den Ferien ausmachen könntet, wäre das wundervoll. Ich hoffe, Ihr könnt mir verzeihen. Beste Grüße, Sonea.

Sie faltete das Pergament zusammen und reichte es Takan, der es wortlos in einer Tasche seiner Uniform verschwinden ließ. Sonea wusste, sie würde in weniger als drei Tagen nicht in der Lage sein, mit Luzille einen Stoff und einen Schnitt für ihr Brautkleid auszusuchen. Im Augenblick war sie nicht einmal sicher, ob sie Akkarin überhaupt noch heiraten konnte. In einer oder zwei Wochen würde sie vielleicht klarer sehen.

„Handelt es sich um eine dringende Sache?", fragte Takan.

Es war bereits spät, fiel Sonea ein. Jetzt noch den Hohen Lord und seine Frau zu stören, galt sicher als unhöflich, sofern es nicht wirklich wichtig war.

„Es genügt, wenn du die Nachricht morgen früh überbringst", sagte sie daher.

Takan nickte. „Gute Nacht, Mylady", wünschte er.

Sie zwang sich zu einem Lächeln. „Gute Nacht, Takan."

Der Sachakaner zögerte und Sonea ahnte, er wollte etwas sagen, war sich aber nicht sicher, ob sie das hören wollte. Tatsächlich wusste sie selbst nicht. Etwas in seinem Blick hielt sie indes davon ab, ihn fortzuschicken.

„Was ist noch, Takan?", fragte sie ein Seufzen unterdrückend.

„Mein Meister hat Isara sehr geliebt", sagte er leise. „Sie zu verlieren, hat ihn nahezu um den Verstand gebracht. Er hat lange gebraucht, sie zu vergessen und wieder lieben zu können. Aber er hat sie niemals so sehr geliebt, wie er Euch liebt. Denn Ihr habt sein Herz wieder zum Schlagen gebracht."

Soneas Augen begannen zu brennen. Nein, das hatte sie wirklich nicht hören wollen. Und sie fragte sich, ob er das nur sagte, weil Akkarin es ihm aufgetragen hatte.

„Bitte geh jetzt", flüsterte sie um eine feste Stimme bemüht.

Takan nickte und verließ dann leise das Zimmer.

Als er fort war, vergrub Sonea das Gesicht in ihren Händen. Was sollte sie bloß tun? Wie sollte das jemals wieder gut werden?

Die Erschöpfung, die sie ob der vergangenen Nacht noch immer verspürte, war überwältigend. Trotzdem wusste sie, sie würde nicht schlafen können. Nicht im selben Bett wie Akkarin. Aber auch sonst nicht. Zu viele Gedanken kreisten in ihrem Kopf. Sie hatte zu viel der unerfreulichen Wahrheiten erfahren und ihr Geist befand sich noch immer in Schockstarre. Zugleich fühlte sie sich innerlich leer, was auf eine seltsame Weise schmerzhaft war und ihr die Luft zum Atmen nahm.

Ich habe ihm zu viel gegeben, dachte sie. Aber es war zu spät, das wieder rückgängig zu machen. Jetzt musste sie lernen, damit zu leben.

Einen tiefen Atemzug nehmend griff sie nach ihren Notizen und begann zu schreiben.


Sachakanisch – Kyralisch

Konomaso. Nusha shaco'nacito, yore sha'dicicata ovachaha ziso yaramasa Marika, Arachariya mi Sachaka. – Guten Abend. Wir sind gekommen, um eine Audienz bei König Marika, dem Herrscher über Sachaka, zu erbitten.

Sha'nacito. – Kommt.

Rachariya Ivasako, u'sha'yzeyo aze sachi lalase-cha, charo yore sha'diciata ovachaha. – Meister Ivasako, ich bringe Euch zwei Fremde, die um eine Audienz bitten.

Sha'avaco. Sha'vuvose oyoni. – Steh auf. Warte draußen.