Kapitel 41 – Neue Wege beschreiten
„Und wisst Ihr, wie sie mich daraufhin genannt hat?" Auf den Stufen zu den Sieben Bögen hielt Yaldin inne und bedachte Rothen mit einem anklagenden Blick.
Rothen schüttelte den Kopf. Gewiss war es nichts Schmeichelhaftes gewesen.
„Einen alten, verbiesterten Knochen!"
„Wahrhaftig!", rief Rothen. Obwohl er nur mit Mühe seine Erheiterung unterdrücken konnte, wollte er keine Mitschuld an der Verdrießlichkeit seines ältesten Freundes haben. Denn tatsächlich war er derselben Meinung wie Ezrille. Das betagte Ehepaar stritt bereits seit Tagen. Im Gegensatz zu anderen Paaren ging es dabei jedoch nicht um ihre Ehe, sondern um die aktuelle Gildenpolitik.
Rothen zog es vor, sich nicht einzumischen. Er hatte den Versuch aufgegeben, Yaldin zur Einsicht zu bringen, der selbst jetzt, wo sie sich offiziell im Krieg mit Sachaka befanden, auf seinen konservativen Absichten beharrte.
„Und wie habt Ihr darauf reagiert?", fragte er vorsichtig.
„Ich habe ihr gesagt, sie solle nicht versuchen, mit mir über Themen zu streiten, von denen sie keine Ahnung hat."
„Mein Freund, ich fürchte das war ein Fehler", sagte Rothen. Jetzt würde Ezrille erst recht mit ihrem Mann streiten. Nicht nur, weil sie ihren Stolz verletzt sah, sondern weil sie auf eine beängstigende Art und Weise bestens über alles informiert war, was in der Gilde vor sich ging.
„Das habe ich dann auch gemerkt", brummte Yaldin.
Rothen fragte sich, ob es eine so kluge Idee gewesen war, in den Abendsaal zu gehen. Auch dort würde sein Freund mit seinen Ansichten auf erheblichen Widerstand stoßen. Aber er hatte so eine Ahnung, dass Yaldin lieber mit seinen Kollegen stritt als mit seiner Frau.
„Lasst uns reingehen", sagte er daher. „Ein Glas exquisiten Weins zu ein wenig Geläster über gewisse Kollegen wird Euch gewiss aufmuntern."
Yaldin nickte. „Ihr habt recht", stimmte er zu und stieg die letzten Stufen empor.
Rothen folgte ihm. Die Türen zum Abendsaal öffneten sich und sie traten ein.
Wie so oft nach bedeutsamen Ereignissen war der Abendsaal überfüllt. Selbst ihre Lieblingssessel waren besetzt. Diener eilten hektisch durch den Raum, um die Magier mit Wein zu versorgen. Für Rothen wäre diese Dichte an Menschen Grund genug, um auf der Stelle in sein Apartment zurückzukehren. Er ahnte, die Magier würden ihn in ein Gespräch nach dem anderen verwickeln und dabei versuchen, ihm Dinge zu entlocken, über die er nicht sprechen durfte. Doch er hatte es seinem Freund versprochen.
Plötzlich blieb Yaldin stehen. „Oh nein", murmelte er. „Was macht er denn hier?"
„Wer?" Rothen ließ seinen Blick verständnislos durch den Abendsaal schweifen. „Meint Ihr Garrel? Ich sehe ihn nirgends."
Yaldin wies auf eine Gruppe von Sesseln im hinteren Teil des Raumes.
Rothen erblickte eine schwarzgewandete Gestalt umringt von einer Gruppe Alchemisten, darunter Lord Peakin und sein Vorgänger Lord Sarrin. Seit seiner Wiederaufnahme war er erst zwei Mal hier gewesen. „Er hat ebenso ein Recht darauf, hier zu sein wie wir anderen auch", sagte Rothen.
Er winkte einen Diener, der ein Tablett mit Weingläsern trug, herbei. Er griff zwei Gläser heraus und reichte eines davon an seinen Freund weiter. „Lasst Euch dadurch nicht die Laune verderben. Niemand zwingt uns, sich mit ihm zu unterhalten."
Yaldin betrachtete ihn zweifelnd. „Seid Ihr sicher? Schließlich wird er bald so etwas wie Euer Schwiegersohn werden."
Rothen schnaubte leise. „Deswegen muss ich nicht jede freie Minute mit ihm verbringen." Lächelnd prostete er seinem Freund zu. „Zudem bin ich Euretwegen hier." Dennoch konnte er nicht aufhören sich zu fragen, was Akkarin hier tat. Der schwarze Magier hatte den Abendsaal schon immer nur selten frequentiert. Vielleicht, so überlegte Rothen, ist er hier um die wilden Spekulationen der Magier zu zerstreuen, bevor es zu einer Panik kommt. Doch während der Großteil der Gilde in Furcht vor dem bevorstehenden Krieg lebte, gab es auch einige Magier, die darauf beharrten, dass es soweit nicht kommen würde, weil die Verhandlungen des sachakanischen Königs so langwierig und seine Ashaki so zerstritten waren.
Yaldin lächelte schief. „Erzählt mir von Eurer Forschung. Wie genau habt Ihr die Phiolen der übrigen drei Versuchsreihen verstärkt?"
„Also", begann Rothen, „ich habe Folgendes getan. Ich …"
Bevor er weitersprechen konnte, trat ein Diener auf ihn zu. „Lord Rothen", sagte er und verneigte sich. „Lord Akkarin wünscht Eure Anwesenheit bei einer wissenschaftlichen Diskussion."
Aus den Augenwinkeln bemerkte Rothen, wie sich Yaldins Gesicht verdüsterte. „Bitte entschuldigt mich, mein Freund", sagte er. „Doch ich sollte Akkarins Wunsch nachkommen."
Yaldin schürzte missbilligend die Lippen. „Er ist nicht der Hohe Lord."
„Nein", stimmte Rothen zu. „Aber wenn er nach mir fragt, wird es sich um etwas Wichtiges handeln." Und ich respektiere ihn mehr denn je, fügte er für sich hinzu. Er runzelte die Stirn. Nachdem Akkarin bei ihm in jeder Hinsicht in Ungnade gefallen war, hätte er sich nie träumen lassen, eines Tages derart entschlossen hinter ihm zu stehen. Doch die Zeiten hatten sich geändert. „Ich verspreche, mich zu beeilen", sagte er und schenkte Yaldin ein aufmunterndes Lächeln.
„Oh, macht Euch um mich keine Sorgen", sagte sein Freund überraschend vergnügt. „Ich werde solange mit ihnen lästern." Er wies auf zwei ebenfalls sehr betagte Magier, die zum konservativen Kern der Gilde gehörten.
„Dann viel Spaß dabei", wünschte Rothen. Er nickte Yaldin zu und durchquerte die Menge.
„Guten Abend, die Herren", grüßte er, als er die kleine Gruppe erreicht hatte. Die anderen erwiderten seinen Gruß mit einem Nicken. „Was ist der Gegenstand der Diskussion?"
„Es geht um Steine", antwortete Lord Peakin. „Oder genauer gesagt: wie sie auf Magie reagieren."
„Dann hoffe ich, dass ich etwas Konstruktives dazu beitragen kann", erwiderte Rothen. „Mein Fachgebiet ist eher die Chemie als die Architektur."
„Ihr seid der Leiter der alchemistischen Studien", sagte Peakin. „Insofern ist Eure Anwesenheit erforderlich."
Rothen sah zu Akkarin. Der schwarze Magier saß in seinem bevorzugten Sessel. Seine Finger waren um ein Weinglas geschlungen, in das er mit gerunzelter Stirn starrte.
„Wir diskutieren verschiedenen Möglichkeiten, Magie auf Stein zu übertragen", informierte ihn Lord Sarrin. „Lord Akkarin hat bereits verschiedene Gesteine und Kristalle getestet, doch er hatte weder mit der erwünschten verheerenden Freisetzung von Magie noch dem Speichern größerer Energiemengen Erfolg. Auf Grund seiner Beobachtungen hat er die Theorie aufgestellt, dass die Innere Ordnung des Gesteins dabei eine nicht unbedeutende Rolle spielt."
„Vielleicht sollte hinzugefügt werden, dass wir nicht von den Methoden der Architektur sprechen", fügte Lord Larkin hinzu.
Rothen nickte unbehaglich. Es ging also um Speichersteine. Eigentlich fiel das in den Bereich der schwarzen Magie und davon hätte er sich lieber ferngehalten. Es fiel ihm schwer, die Erschaffung einer solch verheerenden Waffe mit seinen moralischen Werten zu vereinbaren. Die Inneren Strukturen von Materie jeder Art waren jedoch Gegenstand der Alchemie. Rothen fühlte sich verpflichtet, Akkarins Projekt mit seinem Wissen zu unterstützen. Die Gilde brauchte die Speichersteine fast noch dringender als seine Schildsenker, weil sie den übrigen Magiern eine Chance boten, im offenen Kampf gegen die Sachakaner zu bestehen.
„Die Innere Struktur von Gesteinen ist an vielen Stellen gestört, was durch ihre Entstehung bedingt ist", sagte Rothen. „Für Kristalle und Mineralien ist dies ähnlich. Hier hat man jedoch eine Chance einzugreifen, indem man diese wachsen lässt. Tatsächlich verfügen Kristalle über eine sehr hohe Innere Ordnung, allen voran der Diamant."
„Dafür ist es jedoch schwieriger, Kristalle mit Magie zu bearbeiten als gewöhnliche Steine", fügte Lord Larkin hinzu. „Ihre Struktur ist so fest, dass sie sich nur mit einem erheblich größeren Aufwand von Magie verformen lassen."
Akkarin trommelte die Spitzen seiner langen Finger aneinander. „Und deswegen sollten Kristalle Magie besser speichern können, vorausgesetzt, es gibt einen Weg, die Magie effektiv in den Kristall zu bringen und dann in beliebiger Konzentration freizusetzen", sagte er. Rothen bemerkte, wie seine Kollegen ihre Aufmerksamkeit sofort auf den schwarzen Magier richteten. „Die Frage ist nur: wie?"
Rothen verstand das Problem. Farand wäre sicher fasziniert von diesem Thema, dachte er flüchtig und überlegte, das bei ihrem nächsten gemeinsamen Essen zu erörtern.
„Beschränken wir uns zunächst auf den Speichervorgang", sagte er, weil ihm dieser Teil wichtiger und unverfänglicher erschien, als die Frage, wie man diese Magie wieder freisetzen konnte. „Welche Möglichkeiten stehen überhaupt zur Diskussion?"
„Lord Sarrin hat vorgeschlagen, die Innere Ordnung des Kristalls durch Hitzeeinwirkung flexibel zu machen", antwortete Peakin. „Lord Larkin ist im Prinzip derselben Ansicht nur, dass er vorschlägt, die Ordnung zusätzlich an einer Stelle aufzubrechen. Das würde mehr Aufwand bei der Herstellung erfordern, aber das Transferieren der Magie erleichtern."
„Wenn es nicht gelingt, diese Bruchstelle anschließend wieder sorgfältig zu verschließen, könnte es passieren, dass die Magie unbeabsichtigt wieder entweicht", wandte Akkarin ein. „Die Folgen könnten verheerend sein."
„Würde es helfen, den Stein mit einem Schild zu umgeben?", fragte Rothen.
„Zu riskant und unpraktikabel."
„Und wenn man die Bruchstelle mit Magie verschließt, ähnlich dem Prinzip eines magischen Schlosses?", fragte Peakin.
„Der Effekt wäre ähnlich."
„Durch Hitzeeinwirkung könnten sich die Strukturen verformen und die Innere Ordnung stören", überlegte Lord Larkin. „Das hätte zur Folge, dass die Magie nicht dauerhaft darin gespeichert wird. Man müsste den Stein sehr behutsam erhitzen und anschließend ebenso behutsam wieder abkühlen, um das zu vermeiden."
„Ich sehe schon, das ist ein Thema, mit dem man sich lange beschäftigen kann", murmelte Rothen. Sie alle waren Experten auf ihrem jeweiligen Spezialgebiet, doch ihre Ansichten unterschieden sich grundlegend. Aber es musste doch einen Weg geben, Speichersteine herzustellen!
„Sind wir uns darüber einig, welches Gestein am ehesten in Frage kommt?", fragte er seine Kollegen.
„Kristalle", antworteten die Alchemisten.
„Mineralien oder Diamant sollten ebenfalls getestet werden", fügte Lord Sarrin hinzu. „Sie sind reiner als Gestein und verfügen über eine höhere Innere Ordnung. Es ist jedoch nicht gesagt, dass der Diamant die erste Wahl ist. Er könnte zu stabil sein."
„Es ist nicht der Diamant", sagte Akkarin. „Ich vermute eher, dass es ein Gestein von heller Färbung oder ein sehr reiner Kristall ist."
Lord Peakin blinzelte verwirrt. „Wie kommt Ihr darauf?"
Akkarins dunkle Augen blitzten zum Oberhaupt der Alchemisten. „Die Antwort darauf würdet Ihr nicht hören wollen."
Während der nächsten Stunde diskutierten sie die Vor- und Nachteile, die Larkins und Sarrins Vorschläge hatten und wie sie sich am besten realisieren ließen. Zwischendurch kam die Überlegung auf, die Bindungen durch Magie in Form von mechanischer Energie zu lockern, wozu jeder Diskussionsteilnehmer seine eigenen Ansichten hegte.
Es war spät, als sie sich auf mehrere, vielversprechende Varianten geeinigt hatten, die Akkarin und Sonea austesten konnten. Rothen war erfreut zu hören, dass seine Kollegen sich bereit erklärten, weiter über dieses Thema nachzudenken und den ehemaligen Hohen Lord zu informieren, sollten sie weitere Ideen haben.
Er verabschiedete sich von Akkarin und den Alchemisten und machte sich auf die Suche nach Yaldin. Sein betagter Freund hatte den Abendsaal jedoch bereits verlassen.
Rothen leerte sein Weinglas und reichte es einem Diener. Dann schlüpfte er, erleichtert seinen diskutierfreudigen Kollegen entkommen zu sein, unauffällig aus den Sieben Bögen hinaus in die eisige Nacht.
„Diese Kleider mögen ja ganz hübsch sein" Luzilles Nase kräuselte sich in einem Anflug von Missbilligung. Die Elynerin nippte an ihrem Weinglas. „Aber glaub mir, Liebes, die sind nichts für dich."
Sie saßen im Wohnzimmer der Residenz des Hohen Lords, einem Raum, den Sonea in den anderthalb Jahren, die sie hier gewohnt hatte, nie betreten hatte. Bis zum Boden reichende Fenster boten Blick auf einen akkurat angelegten Garten, dessen Beete und Sträucher jetzt jedoch von Schnee bedeckt waren. Seit zwei Stunden waren sie nun schon hier, tranken Wein und aßen Kuchen, während sie nach einem Schnittmuster für Soneas Brautkleid suchten. Es hatte indes nur ein Weinglas gedauert, bis die junge Elynerin entschieden hatte, die Förmlichkeiten zwischen ihnen zu unterlassen, schließlich seien sie und Trassia beide Freundinnen der Braut.
Sonea blinzelte verwirrt. „Wieso nicht?"
„Ja, wieso?", wiederholte Trassia. In ihrer Stimme schwang ein leiser Vorwurf mit.
„Weil sie nicht angemessen für eine Heirat mit einem Mann aus Haus Velan sind, Süße", erklärte Luzille als wäre das eine Selbstverständlichkeit. Sie tippte auf die Skizzen in dem Katalog, den ihr Schneider, ein zierlicher rotblonder Mann namens Verrane mitgebracht hatte. „Das hier reicht allenfalls für Haus Heril."
Trassia schlug entsetzt eine Hand vor den Mund.
„Oh, habe ich etwa dein Haus beleidigt?", entfuhr es Luzille. „Wenn ja, dann tut mir das aufrichtig leid."
„Danke." Soneas Freundin betrachtete die junge Elynerin empört. „Aber ich bin nicht aus Haus Heril."
Sonea verdrehte die Augen. Es war Wochenende und sie hatte noch anderes zu tun, als den ganzen Nachmittag damit zu verbringen, das Kleid zu finden, das sie am Tag ihrer Hochzeit wie eine Prinzessin aussehen lassen würde. Sie hatte überlegt, diesen Termin angesichts der Ereignisse dieser Woche erneut zu verschieben, doch Akkarin hatte darauf bestanden, dass sie ihn wahrnahm.
„Das gehört zu den Dingen, die sich eine junge Frau in ihrem Leben nicht entgehen lassen sollte", hatte er gesagt.
Sonea hatte ihn zweifelnd angesehen. „Ich dachte du kennst dich mit solchen Dingen nicht aus", hatte sie erwidert.
„Das ist richtig, doch ich bin schon einmal auf einer Hochzeit gewesen", hatte er daraufhin geantwortet. „Mehr als einmal, um genau zu sein."
„Wirst du mich denn nicht bei deinen Experimenten brauchen?"
„Sonea, ich werde dich einen Nachmittag lang entbehren können." Als er fortfuhr, war seine Stimme sehr viel strenger gewesen. „Ich wünsche, dass du dich amüsierst. Es wird dir guttun."
Im Nachhinein erschien es Sonea, als wolle er, dass sie ein paar für junge Frauen typische Erfahrungen machte, bevor sie beide in der Schlacht sterben würden. Aber wie sollte sie sich auf derartige Belanglosigkeiten konzentrieren, wenn ihnen ein Krieg bevorstand, der vermutlich das Ende der Gilde bedeutete?
Sie seufzte und verdrängte die düsteren Gedanken, die sie in der vergangenen Woche wieder und wieder heimgesucht hatten. Eine heitere Miene aufsetzend, wandte sie sich an Luzille. „Was für ein Kleid wäre deiner Meinung nach angemessen?"
„Lass mich sehen." Die Elynerin griff nach dem Katalog und blätterte unter Trassias skeptischen Blick Seite um Seite um.
Sonea berührte die Hand ihrer Freundin.
- Trink etwas Wein, sandte sie. Du bist zu angespannt.
- Sie ist ein Biest, erwiderte ihre Freundin aufgebracht. Wie kannst du sie nur mögen?
- Sie mag ein Biest sein, aber sie hat auch gute Seiten. Sie ist nicht wie Veila. Gib ihr eine Chance.
- Meinetwegen, gab Trassia nach. Aber das tue ich nur für dich.
Trassia nahm sich einen kleinen Kuchen von dem Tablett auf dem kleinen Tisch inmitten der Sitzgruppe. Sonea befand, es könne nicht schaden, selbst etwas davon zu essen. Der elynische Wein, den Luzille ihnen eingeschenkt hatte, war süß und süffig. Sie würde keinen klaren Kopf behalten können, wenn dieser Nachmittag noch lange so weiterging.
„Hier", sagte Luzille schließlich. Sie drehte den Katalog so, dass Sonea und Trassia einen Blick darauf werfen konnten. „So etwas solltest du tragen."
Sonea betrachtete die Kleider. Sie waren allesamt wunderschön, aber für ihren Geschmack viel zu pompös. Einige hatten lange Schleppen oder Umhänge, die so lang waren, dass sie die Schleppe ersetzten. Sie versuchte sich in einem davon vorzustellen und scheiterte.
„Ich glaube nicht, dass ein solches Kleid zu mir passt", sagte sie. „Vielleicht sollte ich einfach in meiner Robe heiraten."
Sie wollte ein Kleid, in dem sie sich gefiel. Es war ihr egal, ob sie das Haus Velan beleidigen würde, indem sie etwas Einfaches trug. Wenn sie Akkarin Glauben schenkte, war es kaum möglich, noch mehr Schande über sein Haus zu bringen, als er durch ihre Beziehung und das Praktizieren schwarzer Magie bereits gebracht hatte. Und sie brauchte kein außergewöhnliches Kleid, um ihn zu beeindrucken.
Luzilles blonde Locken wirbelten herum. „Aber du musst ein Kleid tragen!"
„Ich brauche kein Kleid, um Akkarin meine ewige Liebe zu schwören", sagte Sonea.
„Willst du denn nicht schön für deinen zukünftigen Mann sein?"
Ich würde dich auch heiraten, wenn du nur einen alten Sack trägst, hatte Akkarin zu ihr gesagt, als dieses Thema erstmals aufgekommen war. Sonea wusste, er legte keinen Wert auf solche Dinge. Aber sie war sicher, er würde es mögen, wenn sie ein hübsches Kleid trug.
Sie betrachtete den Ring an ihrem Finger. Er war von einer schlichten, einfachen Schönheit. Akkarin hatte ihn mit Bedacht ausgewählt. Er musste gewusst haben, dass viel Gold und große Juwelen ihr weder gefallen noch stehen würden. Auf Kleider übertragen würden die von Luzille vorgeschlagenen nicht in Frage kommen.
„Selbstverständlich möchte ich das", antwortete sie. „Vielleicht wäre ein Kleid besser, das elegant ist, aber trotzdem natürlich wirkt."
Luzille runzelte die Stirn. „Also ich weiß nicht …"
„Häuserzugehörigkeiten sind belanglos, wenn man der Gilde angehört", erinnerte Sonea. „Das heißt, es sollte so sein."
„Sonea hat recht", pflichtete Trassia ihr bei. „So gesehen sollte jedes Kleid angemessen sein, solange es der Braut gefällt."
„Dass die Braut sich in ihrem Kleid gefällt, sollte Voraussetzung sein", fügte Verrane mit einem schwärmerischen Ausdruck in seinen himmelblauen Augen hinzu. „Denn nur so erblüht sie am wichtigsten Tag ihres Lebens zu einer wahren Schönheit."
Luzille betrachtete Sonea, Trassia und den Schneider. Sie strich eine widerspenstige Haarsträhne zurück hinters Ohr. „Ich bin überstimmt, fürchte ich", sagte sie mit einem entwaffnenden Lächeln. „Ihr alle habt selbstverständlich recht. Leider muss ich gestehen, ich habe überhaupt keine Ahnung von einer Hochzeit unter Magiern."
„Das hat keine von uns", beruhigte Sonea die andere Frau. Sie nahm den Katalog und blätterte ein paar Seiten um.
„Mylady, darf ich ein paar Vorschläge machen?", fragte Verrane vorsichtig.
Sonea sah auf. „Natürlich", erwiderte sie und reichte ihm den Katalog.
Der Schneider wirkte erleichtert und Sonea fragte sich, ob er sie fürchtete. Viele Nichtmagier machten keinen unterschied zwischen normalen und schwarzen Magiern, sie fürchteten Magie im Allgemeinen. Doch Soneas Vorgeschichte an sich bot vermutlich genug Grund, sie zu fürchten. „Ich hätte da ein paar Kleider, die Eure Vorstellung hervorragend treffen würden", sagte er hastig. „Wenn es Euer Wunsch ist, könnt Ihr selbstverständlich auch zuerst selbst suchen."
Sonea schüttelte den Kopf. Sie hatte von Kleidern keine Ahnung. „Ich vertraue auf Euer Urteil", sagte sie.
Der Schneider begann eifrig in dem Katalog zu blättern. Schließlich hielt er inne und deutete auf eine Skizze. „Was haltet Ihr hiervon?"
Sonea war hingerissen. Das Kleid hatte einen weiten Rock, der an den Seiten geschlitzt war, so dass man das Unterkleid sehen konnte und lange, weite Ärmel. Der tiefe Ausschnitt betonte Dekolleté und Brüste und in der Taille wurde es von einem schmalen, silbernen Gürtel zusammengehalten. Neben ihr stieß Trassia einen hingebungsvollen Seufzer aus.
„Das ist perfekt!", hauchte Luzille. „Dass ich nicht von selbst darauf gekommen bin!"
Verrane warf einen fragenden Blick zu Sonea.
„Es ist wunderschön", sagte sie.
Der Schneider nickte und blätterte um. „Und dieses?"
Sonea konnte nur nicken. Ihre beiden Freundinnen schienen derweil in Ekstase zu geraten.
„Ich habe noch ein paar andere Kleider." Verrane zögerte. „Sie sind eigentlich für Vindo-Frauen gedacht. Aber da Ihr mir recht klein und zierlich scheint, könnten diese Euch ebenfalls stehen. Wollt Ihr sie sehen?"
„Ja, bitte", antwortete Sonea.
Verrane lächelte und schlug eine Seite am Ende des Katalogs auf. Die dort und auf den nächsten Seiten abgebildeten Kleider waren mit ihrem hohen Kragen und einem tiefen, schmalen Ausschnitt von einem völlig anderen, nahezu exotischen Stil. Sonea hätte nicht sagen können, welches ihr am besten gefiel.
„Ich kann mich nicht entscheiden, fürchte ich", sagte sie. „Die Kleider, die Ihr mir gezeigt habt, sind alle wunderschön."
„Es ist möglich, verschiedene Schnittmuster zu kombinieren", sagte Verrane. „Das heißt, wenn Euch von einem Kleid der Rock besser gefällt und bei einem anderen, sagen wir, die Ärmel, kann ich Euch einen Vorschlag machen, wie man aus beidem ein neues Kleid machen kann. Vielleicht hilft Euch das."
„Das ist möglich?"
„Zumindest, solange es derselbe Stil ist", antwortete der Schneider. „Modetechnisch gesehen wäre es selbstverständlich fatal, den Stil der Vindo mit beispielsweise dem Stil der Elyner zu kombinieren."
„Auf keinen Fall!", pflichtete Luzille ihm bei.
Sonea trank einen Schluck von dem süßen elynischen Wein und dachte über die Worte des Mannes nach. Elemente aus mehreren Kleidern zu einem neuen zusammenzusetzen erschien ihr eine faszinierende Option, doch sie machte die Entscheidung nicht gerade leichter. Sie blickte hilfesuchend zu Trassia und Luzille.
„Was soll ich tun?"
„Du musst dich für ein Kleid entscheiden", antwortete Trassia.
„Aber du solltest dabei abwägen, was dir am besten steht", fügte Luzille hinzu.
Woher soll ich das wissen?, dachte Sonea verzweifelt. Ihr ursprünglicher Plan, Takan mit einer ordentlichen Summe ihrer Ersparnisse in die Stadt zu schicken, um ihr ein Kleid zu kaufen, erschien ihr mit einem Mal wieder sehr verlockend.
Ein zaghaftes Räuspern riss sie aus ihren Gedanken.
„Wenn ich die Damen unterbrechen dürfte ...", begann Verrane.
Luzille fuhr herum. „Verrane, mein Lieber, nur nicht so schüchtern!", flötete sie. „Diese beiden angehenden Magierinnen beißen nicht, wisst Ihr?"
Der Schneider blinzelte offenkundig verstört. Eine selbstbewusste Elynerin und zwei Novizinnen waren offenkundig zu viel für ihn. Dann hatte er sich jedoch wieder unter Kontrolle.
„Es würde helfen, zunächst Lady Soneas Maße zu nehmen", sagte er. „Am besten wäre es, wenn sie dazu etwas Figurbetonenderes als ihre Robe tragen würde. Um das Gesamtbild besser abschätzen zu können, versteht sich. Damit ließen sich die Möglichkeiten eingrenzen."
„Eine gute Idee!" Luzille klatschte begeistert in die Hände. „Ich denke, ich habe da etwas, das dir passen könnte." Sie bedeutete Sonea, ihr zu folgen.
Ein wenig verstört erhob Sonea sich. „Wir sind gleich wieder da", erklärte die junge Elynerin und hakte sich bei Sonea unter.
Sie zog Sonea in die Empfangshalle und dann die Treppen hinauf zu dem Flur, wo sich die Schlafzimmer befanden.
„Wo gehen wir hin?", fragte Sonea mit wachsendem Unbehagen. Luzille wollte mit ihr doch nicht etwa in das Schlafzimmer, das sie mit ihrem Mann teilte?
„Wir gehen dir etwas anderes zum Anziehen holen", erklärte Luzille resolut und dirigierte Sonea in das Zimmer, in dem Sonea erst ein einziges Mal gewesen war. An dem Abend, an dem die Ichani Akkarin verwundet hatte und Sonea ihn überredet hatte, sie in schwarzer Magie zu unterweisen. Es fühlte sich seltsam an, wieder hier zu sein.
Während Luzille den Kleiderschrank durchstöberte, blieb Sonea zögernd auf der Türschwelle stehen. Plötzlich musste kam sie nicht umhin sich vorzustellen, wie es gewesen wäre, hier mit Akkarin zu schlafen. Sie war in der Arran-Residenz sehr viel glücklicher, als sie es hier gewesen war. Sonea fragte sich, wie es geworden wäre, wären sie nicht aufgeflogen. Wären sie dann heute auch zusammen? Hätten sie weniger durchlitten? Oder wäre es nur auf eine andere Weise ähnlich schlimm gekommen?
„Sonea?"
Der Klang ihres Namens ließ sie zusammenzucken. Luzille stand vor ihr, ein Kleid aus erlesenem Stoff in der Hand.
„Das hier sollte figurbetonend genug sein, auch wenn es für kyralische Verhältnisse etwas freizügig ist", erklärte sie strahlend. „Und es wird dir einigermaßen passen."
„Danke", erwiderte Sonea und nahm das Kleid entgegen. Sie hoffte, es bei dem Versuch es anzuziehen, nicht zu beschädigen.
„Soll ich mich wegdrehen oder soll ich lieber nach draußen gehen?"
Soneas Blick fiel auf die komplizierte Schnürung. „Vielleicht solltest du lieber bleiben", sagte sie zögernd.
Luzille nickte und drehte ihr den Rücken zu. „Sag Bescheid, wenn du Hilfe brauchst."
Dankbar, dass die andere Frau ihr beim Umziehen nicht zusah, streifte Sonea ihre Robe ab. Wie sich herausstellte, war sie tatsächlich auf Luzilles Hilfe angewiesen. Nachdem die junge Elynerin eine Weile an den Haken, Ösen und Schnüren gezerrt hatte, hörte es sich auf so anzufühlen, als würde das Kleid Sonea jeden Moment vom Leib rutschen.
„Sitzt als wäre es dir auf den Leib geschneidert", erklärte Luzille. „Wenn man von der Länge einmal absieht." Sie drehte Sonea zu einem Spiegel. „Sieh selbst."
Sonea betrachtete ihr Spiegelbild und hielt den Atem an. Das Kleid war tatsächlich sehr freizügig und ein wenig zu lang, aber es war wunderschön.
„Das ist unglaublich! Mit dieser Figur kannst du alles tragen, was dir gefällt. Ich beneide dich."
Luzille war hinter sie getreten. Ihre Hände strichen an Sonea Seiten entlang, von ihren Rippen, über Taille und blieben auf ihren Hüften liegen. Sonea erschauderte. Sie war es nicht gewohnt, von einer Frau so berührt zu werden.
„Danke", erwiderte sie in einem Anflug von Verlegenheit. Sie wollte Luzille sagen, dass sie auch eine schöne Figur hatte, hielt sich jedoch zurück, weil sie die Situation nicht noch seltsamer machen wollte, als sie bereits war.
Luzilles Hände umfassten ihre Taille. „Ich bin wirklich froh, dass wir Freundinnen geworden sind", sagte sie. „Du bist so viel natürlicher als die Frauen der Männer, mit denen mein brummiger Bovar sonst befreundet ist."
Was wohl so viel heißen soll, dass sie intrigant und herablassend sind, übersetzte Sonea für sich. Sich der Nähe der anderen Frau viel zu bewusst, wagte sie es kaum zu atmen. Hastig verdrängte sie das damit einhergehende Gefühl. Das war nur Luzilles Art, ihre Zuneigung auszudrücken. Sonea konnte sich glücklich schätzen, in ihr eine zweite Freundin gefunden zu haben.
Einen tiefen Atemzug nehmend wandte sie sich um. „Luzille", begann sie mit belegter Stimme. „Möchtest du … möchtest du mein zweites Brautmädchen sein?"
Luzille strahlte. Dann fiel sie Sonea um den Hals. „Liebend gern, meine Süße!", rief sie und küsste Sonea auf beide Wangen.
Oh, hoffentlich werde ich das nicht bereuen!, dachte Sonea.
Ein wenig verlegen löste sie sich von der anderen Frau. „Lass uns zurückgehen", sagte sie. „Trassia und Verrane warten sicher schon."
„Du hast recht." Luzille hakte sich bei ihr unter und führte sie zurück ins Wohnzimmer. Sonea sah sich gezwungen, den ganzen Weg über den Saum ihres Kleides anzuheben, um nicht darüber zu erleichterter war sie, als sie zurück bei Verrane und Trassia waren.
„Oh, das ist so entzückend!", rief der Schneider, als er sie erblickte. Trassia schien es indes völlig die Sprache verschlagen zu haben. Sonea runzelte die Stirn. Was war so besonders daran, dass sie ausnahmsweise einmal keine Roben trug?
Eifrig zog Verrane ein Maßband aus einer Tasche seines Fracks und eilte auf Sonea zu.
„Haltet still, Mylady", sagte er erfreut.
Sonea gehorchte. Während der nächsten Viertelstunde vermaß Verrane sie von Kopf bis Fuß. Zwischendurch machte er sich auf einem Pergament Notizen. Ein wenig zögernd hob Sonea den Rock, als Verrane den Umfang ihrer Oberschenkel maß. Dann war es endlich vorbei.
„Wenn es den Damen nicht zu viel Ungeduld verursacht, werde ich bis zum nächsten Wochenende einige Entwürfe zusammenstellen, die auf Grund von Lady Soneas Vorlieben und ihrer Figur möglich sind", verkündete Verrane. „Doch bevor ich gehe, um die Entwürfe anzufertigen, sollten noch ein paar andere wichtige Details geklärt werden."
Sonea runzelte die Stirn. „Die da wären?", verlangte sie zu wissen.
„Zieht Ihr es vor, einen Schleier zu tragen oder ein Diadem? Letzteres würde es ermöglichen, einen Umhang über dem Kleid zu tragen."
„Ein Schleier kommt nicht in Frage", sagte Luzille.
„Warum nicht?", fragte Sonea verwirrt.
„Warum wohl, Liebes?"
„Du hast doch nicht etwa ...", begann Trassia entsetzt.
Luzilles blaue Augen blitzten zu Trassia. „Bist du wirklich so naiv, Liebes?"
Trassia bedachte die Elynerin mit einem finsteren Blick.
„Was?", wollte Sonea wissen, obwohl sie eine vage Ahnung beschlich, worauf Luzille anspielte. „Was soll ich getan haben?"
„Wir klären das später", antwortete Luzille. Sie wandte sich zu Verrane. „Abgesehen von dieser eklatanten Tatsache würden ihr ein Diadem und ein Umhang sehr viel besser stehen."
Sonea entschied, Luzille zu ignorieren. Sie war sicher, dass sie sich andernfalls sehr aufregen würde.
„Verrane, was würde ein Brautkleid mit allem was dazugehört kosten?", wechselte sie das Thema.
Der Schneider schloss einen Moment die Augen und sein Mund bewegte sich lautlos. Auf seiner Stirn bildeten sich tiefe Falten.
„Etwa zwanzig bis fünfzig Goldstücke", antwortete er. „Der genaue Preis hängt vom Stoff ab und ob Ihr Silber, Gold oder Juwelen hineingestickt haben wollt." Er runzelte die Stirn und musterte sie nervös. „Da Ihr jedoch schlichte Kleider zu bevorzugen scheint, würde ich Euch einen erlesenen Stoff mit einigen unauffälligen Verzierungen aus Silber empfehlen. Da würdet Ihr mit etwa fünfundzwanzig bis dreißig Goldstücken hinkommen."
So viel?, dachte Sonea entsetzt. Von dem Geld, das die Gilde ihr zahlte, würde sie sich das leisten können, weil sie als Akkarins Novizin keine Kosten für Bücher und Lernmaterial hatte. Aber sie hatte nie damit gerechnet, dass ein Kleid so teuer sein würde. Es war doch nur Stoff.
„Was sollte das mit dem Schleier?", verlangte sie zu wissen, nachdem sich Verrane verabschiedet hatte.
„Nun …" Luzille langte nach der Weinflasche und füllte ihre Gläser auf. Wenn das so weitergeht, dann werde ich Akkarin nachher keine Hilfe mehr sein, dachte Sonea, während Luzille ihr das Glas reichte. „Nur die Frauen, die noch nie von einem Mann berührt wurden, tragen einen Schleier."
Trassia sog scharf die Luft ein.
„Luzille!", rief Sonea entsetzt über so viel Unverblümtheit. „Wie kannst du so etwas nur sagen?"
„Es tut mir leid, Süße", erwiderte die Elynerin. „Aber bei dir und Lord Akkarin ist es einfach offensichtlich."
„Ihr habt nicht gewartet?", hauchte Trassia. „Du bist seine Novizin!"
Was hast du erwartet?, dachte Sonea. Akkarin ist ein erwachsener Mann. Natürlich wartet er nicht, bis wir verheiratet sind. Doch auch sie würde nicht mehr darauf verzichten wollen. „Warum sollen wir uns unnötig quälen?", fragte sie achselzuckend. „Akkarin und ich sind erwachsen."
Nachdem auch der letzte Dieb mit seinem Leibwächter den kleinen Raum betreten hatte, in dem Cery die Einsatzbesprechungen für seine Leute stattfinden ließ, schloss Gol die Tür.
Ravi lehnte sich in seinem Stuhl zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. „Also Ceryni, was soll das? Warum bestellst du uns in dein Wachhaus?"
Cery verdrehte innerlich die Augen. Obwohl Monate vergangen waren und Ravi noch immer keine Beweise hatte, trug er Cery den Betrug um seinen Raka weiterhin nach.
„Sicher will er 'nen Aufstand gegen die richtige Stadtwache anzetteln", brummte Gorin. Seit Cery ihn zuletzt gesehen hatte, war sein Bart noch dichter und seine Haare noch länger. Ob er sich wie das Tier, nach dem er sich benannt hatte, ein Winterfell wachsen ließ?
„Hai!", rief Limek. „Das wär' doch mal'n guter Versuch!"
„Ich denke, wir haben mit den unangekündigten Kontrollen der Stadtwache schon genug Reibereien", warf Zill ein. Sie wandte sich zu Cery und lächelte. „Cery, was wolltest du uns sagen?"
„Danke Zill, dass wenigstens du dich für meine Ideen interessierst", erwiderte Cery trocken. Einen tiefen Atemzug nehmend blickte er in die kleine Runde. Einige hatten neugierige oder interessierte Mienen aufgesetzt, andere wirkten entnervt, als würden sie eine Versammlung der Diebe, welcher Natur sie auch war, als Zeitverschwendung erachten. Ganz besonders Ravi, der aus seinem Unwillen keinen Hehl machte.
„Ich hab' euch zusammengerufen, weil ich mit euch besprechen will, wie wir unsre Arbeit als Stadtwache der Hüttenviertel verbessern können", begann Cery.
„Warum sollte uns das interessieren?", knurrte Ravi, während er missmutig auf den Rakakrug auf dem Tisch starrte. Der Dieb, der den Namen von Cerys nächstgrößerem animalischen Verwandten trug, hatte sich als Einziger nicht daran bedient.
Es wäre sowieso nicht dein Raka, dachte Cery mit unterdrückter Erheiterung. Den bin ich schon längst los geworden.
„Jetzt lass Ceryni doch mal ausreden!", herrschte Faren den anderen Dieb an.
Ravi verzog das Gesicht, schwieg jedoch.
„Vor'n paar Wochen jagten meine Leute einen Kerl, der nachts in meinem Territorium Frauen auflauerte, sie brutal vergewaltigte und anschließend verstümmelte, bis sie starben", fuhr Cery fort, als habe ihn die Unterbrechung unbeeindruckt gelassen. „Meine Leute und ich konnten ihn lange Zeit nicht schnappen. Als Kerran – das ist einer meiner Leute – mit 'nem Kumpel aus Sevlis Familie einmal abends Bol trank, erfuhr er von ihm, dass in Sevlis Territorium was Ähnliches abging.
„Am nächsten Tag ging ich zu Sevli und redete mit ihm über diese beiden Fälle. Wir fanden raus, dass die Morde in meinem und seinem Territorium in anderen Nächsten stattfanden und wir stellten fest, dass die Fälle sich noch mehr ähnelten, als ich nach Kerrans Bericht dachte. Also suchten wir den Kerl gemeinsam. Vor etwa zwei Wochen haben wir ihn geschnappt und er hat die Morde in beiden Bezirken sofort gestanden."
Cery machte eine Pause. Die anderen Diebe hatten ihm wie gebannt zugehört.
„Dieser Mann hätte noch mehr Frauen auf diese Weise ermordet, hätten Sevli und ich nicht zusammengearbeitet", sagte er. „Das hat mich auf 'ne Idee gebracht, wie wir Verbrechen von nun an besser aufdecken können. Die Verbrecher halten sich nicht an die Grenzen unserer Territorien. Sie verüben ihre Taten irgendwo in den Hüttenvierteln. Wir sollten uns deswegen alle ein bis zwei Wochen treffen und uns über unsre offenen Fälle austauschen. Wenn wir dabei auf verdächtige Gemeinsamkeiten oder Verbindungen stoßen, arbeiten die entsprechenden Diebe zusammen, um den Täter zu schnappen."
„Und uns gegenseitig ins Handwerk pfuschen?" Ravi betrachtete Cery finster mit seinen schwarzen Käferaugen. „Du vergisst, was wir sind, Ceryni. Jeder Dieb ist für sich selbst verantwortlich."
„Es hat in der Vergangenheit oft genug funktioniert", erinnerte Cery. „Wir arbeiten ja auch zusammen, um unsere Geschäfte vor der Stadtwache zu verbergen. Wir sagen den anderen Bescheid, wenn Worril mal wieder bei einem von uns kontrolliert hat. Und wir erzählen uns, was seine Spione treiben. Aber das hier ist wirklich wichtig. Es geht um das Wohl der Hüttenleute."
„Was du da sagst, ist ja auch alles richtig, Cery", sagte Gorin. „Aber ich mag's nicht, wenn ein anderer Dieb in meinem Territorium wildert. Selbst wenn er nur jemanden jagt, der bei ihm für Reibereien sorgt."
„Wir vertrauen uns zu wenig", stellte Faren fest. „Niemand soll gezwungen sein, mit den anderen über Geschäftliches zu sprechen. Aber wie Ceryni schon gesagt hat: Es geht hier nicht um uns. Die Hüttenleute sind unsere Schutzbefohlenen. Wir müssen unsre Arbeit ordentlich machen, damit die Stadtwache nicht auf die Idee kommt, das alles hier mit ihren eigenen Leuten zu besetzen."
„Und als Diebe können wir Verbrecher auch über unsere Territorien hinweg leichter jagen", fügte Limek hinzu. „Denkt doch mal nach! Worril wird sehr zufrieden mit unserer Arbeit sein, wenn wir uns auf diese Weise zusammentun. Er wird uns schneller vertrauen und uns in Ruhe lassen."
„Vielleicht sollte jeder Dieb für sich entscheiden, ob er mit den anderen zusammenarbeiten will", schlug Gorin vor. „Oder zumindest mit wem."
„Das denke ich auch", sagte Faren. „Aber Cerys Idee ist wirklich gut. Die Verbrecher merken allmählich, dass sie nicht mehr so ungeschoren davonkommen, wie früher als wir uns nur um das Wohl unserer Klienten gekümmert haben. Sie werden immer gerissener werden, damit wir sie nicht schnappen."
„Selbst wenn nicht jeder Dieb mit jedem zusammenarbeiten würde, würde das was bringen", stimmte Cery zu. Er war selbst nicht sehr erpicht darauf, gemeinsam mit Ravi einen Mörder zu suchen. Bei Faren, Gorin, Sevli oder Zill hatte er hingegen weniger Bedenken. Limek war zuweilen etwas schwierig, doch selbst mit ihm konnte Cery sich eine Kooperation vorstellen. „Aber das würde den Austausch von Informationen schwerer machen. Wenn jeder von uns bereit ist, mit den anderen zu arbeiten, können wir uns alle treffen und über unsere ungelösten Fälle sprechen. Sonst muss jeder Dieb zu mehreren Treffen gehen, wo dann immer nur die Diebe zusammenkommen, die bereit sind, miteinander zu arbeiten. Das könnte ziemlich wild werden."
„Es reicht, wenn ich mich einmal treffe, um über meine Arbeit zu reden", brummte Limek. Sein Blick fixierte Ravi. „Ich geh' doch nicht jeden Abend zu 'nem anderen Treffen, nur weil 'n paar von uns unter Verfolgungswahn leiden."
„Solange sich das in Grenzen hält, wär' mir das egal", erklärte Ravi. „Vielleicht sollten wir zunächst Listen machen, welche Diebe mit welchen zusammenarbeiten würden."
„Das ist doch total lächerlich!", rief Zill. „Ihr benehmt euch wie kleine Kinder! Wir sollten uns alle gemeinsam treffen. Keiner braucht verpflichtet sein, den anderen was mitzuteilen, was mit den eigenen Geschäften zu tun hat und was ihn belasten könnte. Ebenso wenig wie er mit 'nem anderen Dieb 'nen Verbrecher gemeinsam jagen muss. Wenn das alles freiwillig ist – was habt ihr zu verlieren?"
Die Diebe sahen sich an. Offenkundig fühlten sie sich gescholten. Cery grinste. Manchmal war es wirklich gut, dass eine von ihnen eine Frau war.
Die Schüssel mit dem Enkagulasch schwebte über den Tisch und hielt kurz vor Sonea in der Luft inne. Sonea griff nach dem Löffel und tat sich einen Nachschlag auf. „Wie läuft es mit Euren neuen Novizen?"
„Gut", antwortete Rothen erfreut über ihr Interesse. „Einige tun sich ein wenig schwer damit, Kontrolle zu lernen. Interessanterweise sind diese jedoch allesamt aus den Häusern."
Das schien Sonea zu erheitern. „Also das kann ich mir nun wirklich nicht vorstellen!"
„Nun, die Kinder aus den Häusern sind verwöhnt und faul verglichen mit den Kindern der Kaufleute und Händler. Letztere sind unglaublich ehrgeizig, was nur verständlich ist, wenn man bedenkt, dass sie dabei sind, etwas zu lernen, wovon sie in den letzten Monaten nicht einmal zu träumen gewagt haben."
Die Schüssel schwebte zurück zu ihrem Platz auf dem Esstisch. „So redet Ihr also über Euresgleichen? Wirklich Rothen, das hatte ich nicht von Euch erwartet!"
Rothen kicherte. „Ich müsste lügen, würde ich etwas anderes behaupten."
Sie lachten. Während der nächsten halben Stunde erzählte Rothen von seiner ersten Woche mit den neuen Winternovizen. Nachdem er den Vorbereitungskurs für die Novizen aus den Hüttenvierteln nicht hatte übernehmen können, hatte er sich umso mehr über die Entscheidung der höheren Magier gefreut, dass er den Alchemieunterricht übernehmen durfte. Jerrik hatte ihm die Botschaft mit einer trockenen Bemerkung, dass er sich für diese Aufgabe besser als Lord Elben eignete, überbracht. Rothens neue Aufgabe kostete ihn nur wenige Wochenstunden seiner Zeit. Er hatte schon so oft das Erste Jahr unterrichtet, dass dies kaum einer Vorbereitung bedurfte. So blieb noch genügend Zeit für seine Forschung und sein Amt als höherer Magier. Es blieb sogar Zeit, um sich den Kindern aus einfachen Verhältnissen bei Bedarf annehmen und dafür sorgen, dass sie von den Kindern der Häuser akzeptiert wurden.
„Es sieht aus, als würden sich zwei Gruppen von Novizen herausbilden", schloss er. „Die Privilegierten und die aus der Mittelschicht. Bis jetzt beäugen sie einander nur misstrauisch und ich hoffe, dass es nicht zu offenen Feindseligkeiten kommt, wie Jerrik seit Wochen prophezeit."
„Die neuen Novizen haben es leichter als ich, weil sie zu mehreren sind", sagte Sonea. „Sie werden sich leichter behaupten können. Aber ich glaube nicht, dass sie so viel geballten Hass auf sich ziehen werden, weil sie nicht aus den Hüttenvierteln sind."
„Da könntest du recht haben." Rothen legte das Besteck zur Seite und lehnte sich zurück. „Aber das bleibt abzuwarten."
Sie nickte. „Was ist mit den Kindern aus den Hüttenvierteln? Es sind doch einige ins Novizenquartier gezogen. Zumindest Lord Ahrind zufolge."
Nach einigen erbitterten Diskussionen unter den höheren Magiern, in denen Garrel, Jerrik und Peakin heftig gegen die Aufnahme von Kindern aus den Hüttenvierteln protestiert hatten, hatte die Gilde zum Winterhalbjahr drei vielversprechende Kandidaten aus dem Äußeren Ring aufgenommen. Einige Häuser hatten gedroht, ihre Kinder von der Universität zu nehmen, doch der König hatte erklärt, dass bei einer Integration der Hüttenviertel in die Stadt zwangsläufig auch Novizen von dort in die Gilde aufgenommen wurden.
„Das ist richtig", antwortete Rothen. „Allerdings werden sie Ihr Studium erst im Sommer beginnen. Bis dahin werden sie die Grundlagen lernen, die sie brauchen, um mit den gebildeteren Novizen mithalten zu können."
„Werden sie von Magiern unterrichtet?"
„Ja." Rothen erzählte ihr, wie die höheren Magier nach Lehrern gesucht hatten, die bereit waren, Kinder aus den Hüttenvierteln in Lesen, Schreiben, Grundrechenarten und Manieren zu unterrichten, und schließlich Lord Larkin und ein junger Heiler aus Vin dazu auserkoren worden waren.
„Zu schade, dass der Kurs Euch nicht gegeben wurde", sagte Sonea. „Aber die höheren Magier haben damit recht, dass Ihr mit Eurer Abschlussklasse, Farand und den Schildsenkern genug zu tun habt."
„Allerdings", stimmte Rothen zu. „Aber das wird sich zum nächsten Halbjahr ändern, wenn ich die Absolventen los bin."
Sie grinste. „Das klingt, als könntet Ihr es kaum erwarten."
„Manchmal sind sie ein wenig anstrengend", gab er zu. Besonders Soneas und Akkarins mehr oder weniger heimliche Verehrer. Allerdings waren sie irgendwann vor den Winterprüfungen zur Vernunft gekommen und konzentrierten sich nun auf die wichtigen Dinge des Lebens. Rothen war dafür dankbar. Novizen neigten kurz vor ihren Abschlussprüfungen dazu, in Panik zu verfallen. Er wollte sich nicht ausdenken, wie das erst sein würde, wenn sie zugleich noch unter Liebeskummer litten!
Tania kam und brachte das Dessert.
„Du hast mir noch gar nicht von deinem Treffen mit Trassia, Luzille und dem Schneider erzählt", wechselte Rothen das Thema. „War es erfolgreich?"
„Ich weiß nicht", antwortete Sonea. „Wir haben gestern nur Stoffe ausgesucht und der Schneider hat ein paar Schnittmuster vorgeschlagen. Beim nächsten Mal wird er so ähnlich geschnittene Kleider mitbringen, damit ich eine Vorstellung davon bekommen kann. Aber ich hätte mir nie träumen lassen, dass ein Brautkleid so viel Geld kostet."
„Wie viel kostet es denn?"
„Fünfundzwanzig Goldstücke. Mindestens"
Rothen sog überrascht die Luft ein. „Fünfundzwanzig?" wiederholte er. „Das ist wahrhaftig viel Geld!"
„Luzille meinte, es muss so teuer sein. Ich soll schließlich wie eine Prinzessin aussehen." Sonea schnaubte leise. „Als ob das etwas an Akkarins Entscheidung ändern würde!"
Nein, das würde es ganz bestimmt nicht, dachte Rothen. Für die Frauen aus den Häusern gehörte es zu einer Hochzeit dazu, sich zurechtzumachen, als ginge es zu ihrer eigenen Krönungszeremonie. So wie der schwarze Magier Sonea zu begehren schien, war Rothen überzeugt, dass Akkarin seine Novizin auch in ihrer schwarzen Robe heiraten würde. Er fand indes, Sonea hatte es verdient, an diesem Tag besonders hübsch auszusehen. Ihr Hochzeitstag war der einzige Tag, an dem sie als Magierin ein Kleid tragen durfte.
„Sonea, du musst das nicht selbst bezahlen", sagte er behutsam. „Das sollte eigentlich meine Aufgabe sein."
Sonea winkte ab. „Rothen, das ist schon in Ordnung. Ich weiß sowieso nicht, was ich mit dem ganzen Geld machen soll. Eigentlich wollte ich es meiner Familie geben, aber Jonna weigert sich, Geld von mir anzunehmen. Manchmal, wenn ich sie früher besucht habe, habe ich es daher meinem Onkel heimlich zugesteckt."
Rothen nickte langsam. Soneas erster Gedanke galt immer den Menschen in den Hüttenvierteln, ganz besonders auch ihrer Familie. Sie hatte dieses Ziel nach und nach aufgeben müssen. Durch den drohenden Krieg hatte sie nicht einmal in dem neuen Krankenhaus aushelfen können, weil sie ihre wenige Freizeit mit Lernen und Akkarins Forschung zubrachte.
„Du könntest mit deinem Geld etwas Gemeinnütziges für die Menschen im Äußeren Ring tun", schlug er vor.
Sonea hob den Kopf. „Was?", fragte sie. „Es würde nicht reichen, um allen zu helfen. Wir hatten diese Diskussion doch bereits vor Jahren."
Rothen lächelte, als er sich daran zurückerinnerte. Die Sonea von damals war mit Leidenschaft für das Wohl der Hüttenleute eingetreten. Damals hatte sie alle Magier für böse gehalten. Selbst zu ihm hatte sie nur sehr langsam Vertrauen gefasst. Es hatte Rothen sehr viel Mühe und Geduld gekostet, sie davon zu überzeugen, dass es nicht leicht war, so vielen Menschen effektiv zu helfen und dass das Elend der Menschen in den Hüttenvierteln nicht die Schuld der Gilde war.
„Dir fallen doch sicher ein paar Dinge ein, die den Hüttenleuten ihr Leben erleichtern würden", sagte er. „Außer dem Krankenhaus."
Zwischen Soneas Augenbrauen bildete sich eine Falte, während sie über seine Worte nachdachte.
„Die meisten leben in schäbigen Häusern", begann sie. „Sie haben kaum Geld für Nahrung oder Kleidung. Die Kinder haben keine Möglichkeit, Dinge wie Lesen und Schreiben zu lernen, weil ihre Eltern kein Geld haben, um einen Lehrer zu bezahlen. Stattdessen müssen die Kinder oft schon arbeiten, wenn sie noch sehr jung sind. Es ist fürchterlich schmutzig in den Straßen. Überall liegen Unrat und menschliche Ausscheidungen …"
Rothen nickte. Die wenigen Male, die er in den Hüttenvierteln gewesen war, hatte er dieses Elend mit eigenen Augen gesehen.
„Was wäre deiner Meinung nach am leichtesten zu ändern?"
„Man könnte eine Schule bauen und die Kinder unterrichten, ohne dass sie etwas dafür bezahlen müssen. Damit hätten sie die Möglichkeit, später mehr Geld zu verdienen, weil sie besser bezahlte Berufe ergreifen könnten." Sie runzelte die Stirn. „Aber das würde den Familien nicht sofort helfen. Es würde Geld fehlen, bis die Kinder ihre Ausbildung beendet haben."
„Es ist trotzdem eine gute Idee", entgegnete Rothen. „Verglichen mit den anderen Dingen, an denen es den Menschen in den Hüttenvierteln mangelt, ist Bildung jedoch ein Luxus. Zuvor sollte man sich um ihre Grundbedürfnisse kümmern."
Sie sah von ihrem Teller auf. „Ihr wollt doch auf etwas Bestimmtes hinaus", unterstellte sie und deutete mit ihrer Kuchengabel auf ihn.
Rothen lächelte. Tatsächlich hatte er eine Idee. Ihre Durchführung war nicht allzu kompliziert, aber sie würde die Lebensqualität in den Hüttenvierteln erheblich verbessern.
„Ich bin sicher, du wirst von alleine darauf kommen."
Sonea trank einen Schluck aus ihrem Wasserglas. Plötzlich weiteten sich ihre Augen.
„Wasser!", rief sie. Sie sah Rothen an und strahlte. „Wenn es in den Hüttenvierteln sauberes Wasser geben würde, bräuchten die Hüttenleute nicht das schmutzige Wasser aus dem Fluss trinken oder sich und ihre Kleidung damit waschen. Die Straßen und Häuser könnten gereinigt werden. Es würden sich weniger Krankheiten ausbreiten, weil es so viel hygienischer wäre … man müsste nur ein paar Brunnen bauen. War es das, woran Ihr dachtet?"
„Nicht ganz", antwortete Rothen erfreut. „Ich dachte eher daran, die Hüttenviertel mit einem Wasserleitungssystem zu versehen, so wie es im Rest der Stadt existiert."
„Fließendes Wasser", sinnierte sie hingerissen.
„Es wäre ein ziemlich großer Arbeitsaufwand", wandte er ein. „Jedoch ist es nicht so teuer, wie es auf den ersten Blick scheint." Die Hüttenviertel müssten sorgfältig kartiert werden, bevor die Architekten den Bau planen konnten, doch die nötigen Baumaterialien waren relativ günstig zu beschaffen. „Ich denke, ich könnte dieses Projekt ins Leben rufen."
Sonea strahlte. „Oh Rothen, das wäre wunderbar!"
„Jedoch muss ich mich erst um die Herstellung der Schildsenker kümmern, bevor ich mich diesem Projekt widmen kann", sagte er. „Dann werde ich dir auch sagen können, wie viel Geld das kosten wird." Das Taschengeld, das Sonea von der Gilde bekam, war nicht sehr hoch. Ihre Spende würde allenfalls eine Anzahlung sein. Aber um die Finanzierung machte Rothen sich keine Sorgen. Die letzte Ernte war üppig ausgefallen und somit hatte der König mehr Steuergelder denn je eingenommen. Ein Teil war in die Sicherung der Grenze und den Bau des Forts am Südpass geflossen, doch Rothen war sicher, Merin würde seine Idee unterstützen.
„Das verstehe ich." Sonea leerte ihr Dessertschälchen. „Bevor wir in die Schlacht ziehen, werde ich Euch meine gesamten Ersparnisse geben. Ich vertraue darauf, dass Ihr damit etwas Gutes tut."
Sie rechnet nicht damit zurückzukehren, erkannte Rothen. Ihm wurde schwer ums Herz. Er hätte alles gegeben, um gegen die Sachakaner zu kämpfen, doch er würde mit einigen wenigen Magiern und Novizen hierbleiben, um die Gilde wiederaufzubauen, sollte der schlimmste Fall eintreten. Zudem war er nicht mehr der Jüngste und sein kämpferisches Talent hielt sich in Grenzen.
„Ich bin sicher, der Krieg ist zu Ende, bevor das Wasserleitungssystem fertig ist", versicherte er ihr. „Der Bau wird mehrere Monate, wenn nicht noch länger dauern. Wenn das Projekt bis dahin überhaupt genehmigt ist."
Sonea legte ihre Serviette beiseite. „Ich werde Luzille fragen, ob sie sich auch daran beteiligt", sagte sie geistesabwesend. „Balkan wird das lieber sein, als wenn sie sich im Krankenhaus die Hände schmutzig macht."
Rothen kicherte. Es war nicht das erste Mal, dass er davon hörte. Balkans Frau hatte wie die meisten Elynerinnen einen ausgeprägten Eigensinn. Doch entgegen den Gerüchten und Soneas ersten Erzählungen schien sie ein liebenswerter Mensch zu sein.
„Du verstehst dich gut mit ihr", stellte er fest.
Soneas Wangen färbten sich rosa. „Ja, ziemlich gut." Sie runzelte die Stirn. „Allerdings scheint Trassia eifersüchtig zu sein."
„Sie hat Angst, sie müsste ihren Rang als beste Freundin an Luzille abtreten."
„Trassia weiß, dass das nicht passieren wird", sagte Sonea. „Es ist nur so, dass Luzille unbedingt alles für die Hochzeit organisieren will. Sie hat offenkundig Erfahrung mit dem Ausrichten von Festen und Akkarin und ich haben dank der Sachakaner wirklich keine Zeit uns darum zu kümmern."
„Niemand würde euch übelnehmen, wenn ihr deswegen die Feier ausfallen lasst", sagte Rothen.
„Das sagt Akkarin auch. Aber das wird nur passieren, wenn die Sachakaner plötzlich vor Imardin stehen." Sie schluckte und ihre Miene wurde traurig. „Was, wenn diese Feier das letzte Schöne ist, was Akkarin und ich in unserem Leben tun werden?"
Ihre Verzweiflung war nahezu spürbar und Rothens Herz wurde schwer.
„Sonea, so darfst du nicht denken", sagte er sanft. „Die gesamte Gilde beteiligt sich seit Monaten daran, Euch mit ihrer Magie zu unterstützen. Du hast selbst erfahren, wie stark die Schildsenker sind, die Farand und ich herstellen. Und ich bin sicher, mit den Speichersteinen wird euch bald ein Durchbruch gelingen. Auch wenn es so aussieht, als wären die Sachakaner uns überlegen, so sind wir im Vorteil. Weder du noch Akkarin werden in diesem Krieg sterben."
Ihre dunklen Augen begegneten seinen. Rothen war nicht überrascht, darin ein paar Tränen glitzern zu sehen.
„Ich hoffe so sehr, dass Ihr recht habt", flüsterte sie.
Sonea trat in die Bibliothek. „Ich bin jetzt fertig mit Lernen", sagte sie.
Es war seltsam, ihre Hausaufgaben noch vor dem Abendessen erledigt zu haben. Deswegen und wegen des strafferen Lehrplans, mit dem die älteren Novizen auf den Kampf gegen die Sachakaner vorbereitet wurden, kam es ihr vor, als hätte sie noch nicht genug gelernt. Das erfüllte sie mit Unruhe, doch sie war sicher, sie würde sich in ein paar Wochen daran gewöhnt haben.
„Gut." Akkarin sah von den Büchern auf, die er auf dem Tisch ausgebreitet hatte. „Komm her."
Sonea gehorchte stirnrunzelnd. Sie hatte erwartet, sie würden jetzt zu Abend essen, damit sie anschließend ohne Unterbrechung experimentieren konnten. Als sie ihn näher betrachtete, beschlich sie jedoch die leise Ahnung, dass sie ihren Hunger noch eine Weile aushalten musste.
„Was weißt du über die Innere Struktur der Materie?"
Soll das ein Test werden?, fragte Sonea sich verwirrt. Sie war sicher, über dieses Thema bisher nicht viel gelernt zu haben. Wieso stellte er solche Fragen, wenn er bestens über ihren Lehrplan informiert war?
„Nicht viel", antwortete sie. „Soweit ich weiß, lernen Novizen das im letzten Jahr, wenn sie Alchemie gewählt haben." Sie wusste mehr darüber von Farand als durch ihren Unterricht, weil Rothens Novize sich sehr für dieses Thema begeisterte, und sie bei einigen Mittagessen in Rothens Quartier darüber diskutiert hatten.
Akkarin machte eine wegwerfende Bewegung mit der Hand. „Das ist egal. Sag mir, was du weißt."
Warum ging er nicht Farand fragen, wenn ihn das so sehr interessierte? Sonea unterdrückte ein Stöhnen und schob das Gefühl, sich in einer Prüfung zu befinden, beiseite. „Nur, dass alles aus winzigen Elementen besteht, die je nachdem, um welchen Stoff es sich handelt, unterschiedliche Eigenschaften haben. Wenn die Materie fest wird, wie wenn zum Beispiel Wasser gefriert, dann ordnen sich diese Elemente nach einem bestimmten Muster an, das für jeden Stoff einzigartig ist."
„Ist das alles, was du weißt?"
Sonea zögerte. Sie versuchte sich an den Abend zurückzuerinnern, als sie das erste Mal mit Rothen und Farand zusammen gegessen hatte. Damals war sie völlig aufgelöst gewesen, weil sie seit über einer Woche kein Lebenszeichen von Akkarin erhalten und gerade ihren ersten Patienten verloren hatte. Das Gespräch mit Farand war eine willkommene Abwechslung gewesen. Fast den ganzen Abend hatte ihr der junge Elyner von Alchemie vorgeschwärmt.
Aber was genau hatte er ihr noch erzählt?
„Zu jedem Element gehören Energiestufen, die man anregen kann, indem man Energie hinzufügt", erinnerte sie sich. „Also durch Wärme oder Magie. Magie ist jedoch sehr viel effizienter. Wenn sich die Teilchen zweier Elemente verbinden, hat das neue Teilchen ganz andere Energiestufen. Man kann sie berechnen, wenn man die Energiestufen der Ausgangselemente kennt und weiß, wie sie sich zu dem neuen Teilchen anordnen. Dabei muss man berücksichtigen, dass die Verbindung der Elemente ebenfalls Energie benötigt. Diese wird wieder frei, wenn man es wieder in seine Einzelteile aufspaltet."
„Was bedeutet das in Bezug auf einen festen Körper?"
Sonea überlegte eine Weile. Trotz all ihrer Anstrengungen kam sie sich immer mehr wie in einer Prüfung vor. Nur, dass dann Lord Elben diese Fragen stellen würde.
„Damit ein Element oder ein Teilchen, das aus mehreren Elementen besteht, sich mit anderen seiner Art zu einem festen Körper verbinden kann, braucht es Energie", antwortete sie. „Der flüssige Stoff muss dazu eine bestimmte Temperatur unterschreiten. Die Wärme geht dabei nicht vollständig verloren, ein Teil von ihr wird in Bindungsenergie umgewandelt. Trotzdem muss man Wärme zufügen, will man den Körper wieder verflüssigen."
„Warum ist das so?"
„Weil sich die einzelnen Teilchen eigentlich bewegen. Das liegt in ihrer Natur. In einem festen Körper sind sie sozusagen eingefroren oder gehindert in ihrer Bewegung, weil sie sich mit ihren Nachbarteilchen verbunden haben. Werden diese Verbindungen durch das Zufügen von Energie wieder aufgelöst, so können sie sich wieder frei bewegen. Je mehr Energie sie haben, desto mehr bewegen sie sich."
„Sehr gut, Sonea. Du weißt mehr, als du glaubst." Akkarin nahm eines der Bücher vom Tisch und reichte es ihr. „Ich will, dass du dich intensiver mit diesem Thema vertraut machst."
Sonea nahm das Buch entgegen. Die innersten Strukturen der Materie lautete der Titel. Es war eindeutig ein Buch über fortgeschrittene Alchemie. Sie musste zugeben, selten mit einem so vielversprechenden Thema aus dieser Disziplin konfrontiert worden zu sein und freute sich, weil sie in ihrem Alchemiegrundkurs nie etwas darüber lernen würde. Trotzdem verstand sie nicht, was sie damit sollte.
„Wozu genau werde ich das brauchen?", fragte sie.
„Um mir nützlich zu sein." Akkarins Blick glitt ins Leere, als er sich zurücklehnte und die Fingerspitzen aneinanderlegte. „Ich hege die Theorie, dass die Fähigkeit eines Gegenstandes, Magie zu speichern, mit seiner inneren Struktur zusammenhängt. Wenn meine Theorie stimmt, dann können wir darüber herausfinden, woraus ein Speicherstein bestehen muss."
„Und dann brauchen wir nur noch einen Weg finden, sie herzustellen", folgerte Sonea.
„Richtig. Zu wissen, woraus sie bestehen, ist der Schlüssel."
Mit einem Mal war Sonea sehr aufgeregt. Wenn sie mit dieser Strategie Erfolg hatten, würde es ihnen vielleicht noch rechtzeitig gelingen, Speichersteine zu erschaffen, bevor die Sachakaner kamen. Ihre Furcht vor dem bevorstehenden Krieg wurde von einer plötzlichen Euphorie abgelöst. Warum waren sie nicht früher auf diese Idee gekommen?
„Ich werde noch heute anfangen es zu lesen, wenn Ihr das wünscht", sagte sie.
Akkarin nickte. „Das wäre in der Tat das Beste." Er runzelte die Stirn. „Es macht keinen Sinn, die Experimente jetzt fortzuführen. Ich muss erst noch ausführlich darüber nachdenken, wie sich meine Theorie austesten lässt. Gegebenenfalls werde ich mit Peakin, Sarrin und Rothen darüber diskutieren. Bis dahin wirst du dieses Buch vermutlich gelesen haben."
Sonea versuchte, nicht allzu enttäuscht zu sein. Sie hatte sich darauf gefreut, an diesem Abend zu experimentieren, doch andererseits würde es mehr Spaß machen, wenn sie endlich Erfolg hatten. Plötzlich fiel ihr etwas ein. Konnte dieser Ansatz überhaupt funktionieren?
„Aber", begann sie verwirrt, „wenn man Magie in einen festen Körper gibt, würde das nicht dafür sorgen, dass er sich auflöst? Dadurch werden doch die Verbindungen der Teilchen gelockert."
„Diese Frage solltest du selbst beantworten können", entgegnete Akkarin.
Sie starrte ihn an. Wie sollte sie das mit ihrem beschränkten Wissen über dieses Thema wissen können?
„Nun, es hängt davon ab, wie viel Magie man dem Körper zufügt", sagte sie zögernd. „Und davon wie fest diese Bindungen sind, was man berechnen kann …"
„Richtig. Aber das ist noch nicht alles."
Nicht? Verwirrt schüttelte Sonea den Kopf und versuchte sich dabei nicht allzu dumm vorzukommen. Er würde nicht so subtil fragen, wenn sie die Frage nicht beantworten konnte.
Akkarin hob die Augenbrauen als sei er amüsiert. „Drei Monate und du hast bereits alles vergessen, was du in Architektur gelernt hast?", fragte er sanft.
Sonea funkelte ihn an, verkniff sich jedoch eine passende Erwiderung. Er schätzte es nicht, wenn sie während ihres Unterrichts rebellisch wurde. Stattdessen versuchte sie, die Absicht seiner Worte zu ergründen. Architektur war eine Anwendung der Alchemie. Um etwas aus Stein zu erbauen, musste man nur …
Ihr Atem stockte.
„Wäre es möglich, einen Stein mit Magie so zu manipulieren, dass man mehr Magie darin speichern kann?", fragte sie aufgeregt. „Das heißt, sehr viel mehr, als man benötigt, um ein Haus zu bauen?"
„Ja." Akkarin runzelte die Stirn. „Ich halte das zumindest für möglich. Ein genaues Studium der Inneren Strukturen der Materie sollte darüber Aufschluss geben, wie sie manipuliert werden muss, um große Mengen von Magie aufzunehmen und dabei stabil zu bleiben. Aber wahrscheinlich funktioniert es nicht ohne schwarze Magie."
Sonea verspürte einen Kitzel von Aufregung. Am liebsten hätte sie auf der Stelle damit begonnen, alles über dieses Thema zu lernen. Durch ihr Wissen und ihre Sicht der Dinge, die sich oft von der Akkarins unterschied, würden sie vielleicht schneller zu einem brauchbaren Ergebnis kommen.
Für die nächstliegende Zukunft wurden ihre Hoffnungen jedoch enttäuscht.
„Es ist Zeit zum Abendessen", sagte Akkarin. Er erhob sich aus seinem Sessel und streckte eine Hand nach ihr aus. „Lass uns danach weitermachen. Takan wird gekränkt sein, wenn wir das Essen kalt werden lassen."
Sonea griff nach seiner Hand und lächelte. „Ich habe mich schon gefragt, ob du mich heute Abend verhungern lässt."
