Albus hätte nicht gedacht, dass er Schach so sehr hassen könnte. Onkel Ron hatte ihm zwar leidlich die möglichen Züge für jede der Figuren beigebracht, aber darüber hinaus war wenig hängen geblieben. Albus versuchte, wenigsten ein paar der guten Ratschläge in seinem Gedächtnis wiederzufinden, aber er konnte sich beim besten Willen an keinen erinnern. Insbesondere jetzt nicht, da er ausgerechnet Halo Avery aus Slytherin gegenübersaß.
Er fragte sich wirklich, wie es hatte dazu kommen können, dass er Teil des Gryffindor Schachteams war. Ein Teil der Antwort war wohl, dass Schach unter den Gryffindors nicht zu den populärsten Sportarten gehörte. Sie hatten mit Ach und Krach ein Team von fünf Spielern für das von Flitwick ausgerufene Hausturnier zusammenbekommen. Und die wenigsten von ihnen hatten mehr als die nötigsten Grundkenntnisse in diesem alten Spiel.
Halo befahl ihren Springer auf F7 und schlug mit der flachen Hand auf die Schachuhr. Albus schluckte. Ihr Springer bedrohte seinen König und auch seinen Turm. Halo hätte auch einfach mit einem ihrer Bauern seinen Läufer schlagen können. Er warf einen verstohlenen Blick hinüber zu seiner Gegnerin. Eine schwarze Haarsträhne fiel ihr ins Gesicht, eine weiß-braune Haarsträhne hatte sie sich hinter das Ohr geschoben. Ihre Augen glitzerten geheimnisvoll.
Albus hatte schwitzige Finger, dabei hatte die Partie gerade erst vor fünf Minuten begonnen. Völlig ratlos starrte er auf den weißen Springer seiner Gegnerin. Nun da ein zartes Lächeln über Halos Gesicht huschte, war er sich sicher, dass sein Ende nah war. Vorerst brachte er seinen König, der es sich nicht nehmen ließ, seine Bemühungen im Schachspiel mit einer abfälligen Bemerkung zu kommentieren, in Sicherheit, dann sah er hilflos zu, wie Halos Springer im nächsten Zug seinen Turm zerschmetterte. Halo zauberte die Überreste mit einem leichten Wink ihrer Hand vom Schachbrett und entlud das Häuflein, das mal sein wackerer Turm gewesen war, auf ihrer Seite des Tisches neben zwei stark lädierten schwarzen Bauern, die bereits vorher gefallen waren.
Den Verlust des Turmes konnte Albus verkraften. Er mochte die behäbige Figur nicht besonders, weil sie schwer ins Spiel zu bringen war. Aber was nun?
Er hörte ein Räuspern und schaute auf. Rick, der sich rechts hinter Halo positioniert hatte, zog eine Grimasse und rollte dramatisch mit den Augen. Vermutlich wollte sein Freund ihm damit irgendetwas Bedeutsames sagen. Leider konnte er aus Ricks Gesicht nichts ablesen, was ihm in diesem Augenblick weiterhelfen würde. Und um zu erkennen, dass es um ihn nicht zum Besten stand, brauchte er die Hilfe seinen Freundes nicht. Etwas lustlos schickte er einen Bauern ein Feld nach vorn und hoffte, dass dies kein Fehler gewesen war. Mutlos drückte er die Schachuhr.
Halo hob gekonnt eine Augenbraue und nahm sich die Zeit, ihn mit ihren unglaublichen grünen Augen zu studieren. Sein Herz klopfte auf einmal wie wild. An die nächsten sechs oder sieben Züge würde er sich später beim besten Willen nicht erinnern können. Als das Spiel endlich vorbei war, schüttelte er benommen Halos Hand. Sie lächelte.
„Halo Avery ist eine schwere Gegnerin", flüsterte ihm Rick tröstend zu, als er ihm half, die zumeist schwarzen Figuren mit Reparo Zaubersprüchen wieder zusammenzuflicken. „Ich habe öfters zugeschaut, wenn sie in der Großen Halle gegen Boris Krum gespielt hat. Selbst ihn hat sie nicht selten an die Wand gespielt."
Ricks Worte konnten Albus' schlechte Laune nicht wirklich heben. Er ging zum Spielplan, um nachzuschauen, gegen wen er als nächstes antreten würde. Als er den Namen las, verlor er jegliche Hoffnung, heute durch schieres Glück doch noch ein Spiel gewinnen zu können. Er hatte schon eine Partie von Lisa Escher-Bach beobachtet. Die Ravenclaw hatte damals während des Spieles kein einziges Mal auf auf das Schachbrett geschaut, sondern mit geschlossenen Augen ihre Figuren zu einem souveränen Sieg kommandiert. Glücklicherweise hatten sich für das Schachturnier nur wenige Zuschauer eingefunden, so dass seine Schmach von kaum jemanden bemerkt werden würde.
Von einem niedrigen Tischlein nahm er sich einen kleinen Teller und einen Cupcake mit einer besonders ausladenden grün-gelb gefärbten Buttercremehaube und ging zurück zu Rick, der es sich auf einem niedrigen Hocker vor dem Kamin gemütlich gemacht hatte und aus einer großen blauen Tasse Tee trank. Rick schien in Gedanken versunken, und so zog Albus nur einen weiteren Hocker heran und setzte sich neben ihn. Schweigend saß er da und starrte in die Glut, die zwischen schwarz-grauen heruntergebrannten Holzscheiten langsam pulsierend in gelb-orange-rot geheimnisvolle Signale aussendete.
Die Wärme tat gut. Albus entspannte sich. Er zog seine Schuhe aus und streckte die Füße dem Kamin entgegen. Das kleine Loch in der rechten Socke, direkt an seinem großen Zeh, war aus der Ferne kaum auszumachen. Vorsichtig leckte er etwas Buttercreme von seinem kleinen Kuchen. Er erwischte auch ein paar der grünen Zuckerperlen, die sich leise knisternd auf seiner Zunge auflösten. Seufzend atmete er aus. Schachturniere könnten so schön sein, wenn das leidige Schachspielen nicht wäre.
„In meiner nächsten Partie spiele ich gegen Halo", murmelte Rick, mehr zu sich selbst als zu Albus.
Albus konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Gestern noch hatte Rick allen erklärt, dass das Schachspiel vor mehr als 1500 Jahren von einem Inder erfunden worden war, und wäre bei der Erzählung vor Stolz beinahe geplatzt. Arya hatte Rick damit aufgezogen, dass er ja nur ein halber Inder sei. Und auch Albus hatte angemerkt, dass man als Nachfahre von irgendwelchen berühmten Leuten nicht unbedingt mit Superkräften rechnen dürfe. Er konnte da aus Erfahrung sprechen.
Natürlich hatte Rick nicht einmal behauptet, ein Nachfahre von diesem weisen Mann zu sein, dessen Namen Albus sich nicht hatte merken können. Und der ja nun auch schon seit mehr als 1500 Jahren tot war. Allerdings war Rick wirklich ein recht guter Schachspieler, so gut, dass er immerhin die ersten zwei Partien in diesem Schachturnier mit Leichtigkeit gewonnen hatte. Trotzdem sah er nun irgendwie blass um die Nase aus, soweit man das bei Rick eben so sagen konnte. Und auch wenn Rick natürlich sein Freund war, konnte Albus das Gefühl von ein klein wenig Genugtuung nicht verleugnen.
Er schlug Rick kumpelhaft auf die Schulter, so dass diesem beinahe der Rest Tee aus der Tasse schwappte, und sagte: „Irgendwann muss jeder mal verlieren."
Rick nickte.
…:::...
Als Richard dann eine gute Viertelstunde später Halo wahrhaftig gegenübersaß, war alles doch ganz anders, als er es sich am Feuer vorgestellt hatte.
Nach den ersten Zügen sah es nämlich eigentlich gar nicht so schlecht für ihn aus. Er hatte mit der Nimzowitch-Larsen Eröffnung begonnen, die nicht besonders häufig gespielt wurde. Unerfahrene Spieler hätten sich davon vielleicht aus dem Konzept bringen lassen, nicht jedoch Halo, die mit der indischen Variante geantwortet hatte. Ihr breites Lächeln hatte Richard mit einem freundlichen Kopfnicken erwidert. Die nächsten Züge waren eher automatisiertes Vorgeplänkel, bei dem nichts Ereignisreiches passiert war, doch immerhin bewirkten sie, dass sich die allergrößte Aufregung legte. Er brauchte nun nicht mehr auf seinen Händen zu sitzen, um ihr Zittern zu verbergen. Und auch seine Stimme klang nicht mehr ganz so heiser wie zu Beginn. Am Ende war es doch nichts weiter als ein Schachspiel! Es gab einen Verlierer, es gab einen Gewinner! Aber um ehrlich zu sein, hätte er doch lieber gewonnen.
Er studierte seine Möglichkeiten. Halo war am Zug, doch sie schien sich endlos Zeit zu lassen. Noch war die Stellung nicht allzu komplex. Er hatte schon einige Ideen, wie er an ihrer Stelle das Spiel entwickelt hätte. Aber die Slytherin schien sich nicht entscheiden zu wollen. Er spürte, wie seine Nervosität wieder wuchs. Halos Ruhe erschien ihm wie eine Bedrohung, ein ungutes Gefühl breitete sich in ihm aus. Verärgert nahm er seine Hände vom Tisch um ihr Zittern zu verbergen. Im Schnellschach war die Bedenkzeit ein wertvolles Gut, die man nicht sorglos in einer solchen Situation verstreichen ließ. Natürlich war es eine kritische Phase des Spiels, vielleicht die entscheidende, um sich einen kleinen Vorteil zu erspielen, der sich später dann auszahlen würde. Andererseits ...
Er schaute zu Halo hinüber, bewunderte ihre gelassene Konzentration. Und doch ganz plötzlich, als hätte sie seinen Blick bemerkt, sah sie ihn an. Mit ihren hypnotisierenden Augen – grün und mit einem interessantem gelben Kranz um die tiefschwarze Pupille… Ob sie ein Legilimens war?
Der Gedanke kam über ihn wie ein Stromschlag. Sofort senkte er den Blick. Ob sie seine Strategie aus seinem Geist herausgelesen hatte? Das Lesen der Gedanken war auf solch einer konkreten Ebene kaum möglich, aber warum hatte sie so wissend geschaut. So selbstsicher?
Vielleicht wäre es eine gute Idee, seine Strategie zu verwerfen. Nur so zur Sicherheit. Andererseits war vielleicht genau das Halos Absicht. Vielleicht war ihre Selbstsicherheit nur vorgetäuscht, der tiefe Blick nur ein Trick, um ihn zu verunsichern!
Aus den Augenwinkeln heraus nahm er eine Bewegung wahr. Es war ein unruhiges Gezappel zwischen den Zuschauern, ein undefiniertes Murmeln, dann ein Gekicher...
Konzentration! Er würde sich durch nichts ablenken lassen. Fokus auf das Spiel war das einzig Wichtige. Nein, nicht nur Fokus, Hyperfokus war entscheidend. Er durfte den Flow nicht verlieren, jetzt, da alle seine Gedanken um die Stellung der Figuren kreisten, ihre Stärken, ihre Schwächen, ihre Beziehungen untereinander. Er hatte das Buch über Hyperfokus ganze drei Mal gelesen, die Techniken studiert und eingeübt. Er atmete tief ein, zählte dabei langsam bis zehn, atmete dann ruhig wieder aus.
Ein lautes störendes Husten hallte durch den Raum. Es hörte sich ein klein wenig nach Albus an. Etwas verärgert schaute er doch auf. Albus zog eine Grimasse, riss den Kopf leicht zur Seite, dann rümpfte er die Nase.
Al war, um ehrlich zu sein, ein schrecklicher Schachspieler. Die Wahrscheinlichkeit, dass er in dieser Phase des Spieles irgendetwas Bedeutsames beitragen konnte, ging gegen Null.
Richard versuchte das Gezappel seines Freundes auszublenden, indem er mit einem Tunnelblick das Spielfeld fixierte. Halo hatte nun ihre Hand gehoben, zögernd schwebte sie über dem Spielfeld, wanderte dann langsam hinüber zu ihrem Springer. Doch kurz bevor Halo die Figur auf eine neue Position befahl, hielt sie inne, schüttelte mit dem Kopf und zog die Hand wieder zurück.
Richard konnte es nicht fassen. Wieder hörte er Albus, der nun mit einem lang anhaltendem Hustenanfall kämpfte, und fragte sich wirklich, was sein Freund sich dabei dachte. Beinahe trotzig entschied er, Al nicht zu beachten. Stattdessen schaute er zu Halo hinüber. Ihre Blicke trafen sich. Ihre Augen. Sie hatten eine faszinierende Wirkung. Die ruhige Klarheit, der furchtlose Stolz, die beinahe herablassende Noblesse. Doch dann sah er noch etwas anderes. Und es beunruhigte ihn zutiefst. Seine Nackenhaare richteten sich auf und er spürte, wie ein kalter Schauer seinen Rücken hinaufkroch. Konnte es wirklich möglich sein? Aber warum? Doch dann sah er es wieder, und ihm wurde klar, dass er sich nicht getäuscht hatte. Er sah Belustigung, ja beinahe Spott. Seine Gedanken arbeiteten fieberhaft. Er musste irgendetwas übersehen haben!
Er blickte zu Albus hinüber, der ihn mit weit aufgerissenen Augen anstarrte.
Und dann machte es Klick.
Idiot!
Mit einer blitzschnellen Bewegung schlug er auf den kleinen metallenen Knopf auf seiner Seite der Schachuhr. Idiot, Idiot, Idiot!
Er wagte es nicht, das Desaster zu begutachteten. Minuten mussten verstrichen sein, seit Halo nach ihrem Zug ihre Zeit gestoppt hatte. Dann hatte er seinen Zug gemacht. Und vergessen, den kleinen Knopf auf seiner Seite der Schachuhr zu drücken. Und seitdem waren die Zeiger auf seiner Seite weiter und weiter vorangeschritten, war die eh schon kurze Bedenkzeit Sekunde um Sekunde verronnen. Er hatte seinen Zug vor gefühlten Ewigkeiten gemacht, doch das alles bedeutete nichts. Eine Schachuhr war eine Uhr, deren zwei Uhrwerke so miteinander verbunden waren, dass zur gleichen Zeit nur ein Uhrwerk läuft. Wenn ein Spieler vergaß, seinen Zug durch das Drücken der Schachuhr zu beenden, so war das persönliches Pech.
Idiot!
Halo lächelte. In einer fließenden Bewegung winkte sie ihren weißen Läufer auf A3. Dann schlug sie in einer ebenso fließenden Bewegung auf die Uhr. Verblüfft starrte er auf das Spielfeld. Der Zug machte keinen Sinn. Oder etwa doch?
Bevor er sich jedoch daran machen konnte, die unerwartete Situation zu analysieren, musste er das Unvermeidliche tun und der gnadenlosen Wahrheit ins Gesicht schauen.
Er warf einen Blick auf die Uhr. Fünf, vielleicht sechs Minuten waren ihm geblieben. Innerlich stöhnte er. Er hatte keine Zeit mehr, um jetzt noch viel nachzudenken. Er gab sich dreißig Sekunden, um seinen Zug zu überdenken, dann entschied er sich, wie geplant weiter zu spielen. Aber im Grunde war das Spiel gelaufen. Und tief in seinem Innersten wusste er es. Die Slytherin hatte ihn bravourös geschlagen. Wie eine Slytherin eben.
Ihr nächster Zug war souverän. Natürlich. Halo Avery würde keine einfachen Fehler machen. Sein Hirn arbeitete fieberhaft, während ihm die Zeit zwischen den Fingern zerrann. Drei Züge später berührte der Zeiger das erste Mal das rote Blättchen. Wenn es fiel, war es für ihn vorbei.
Halo spielte unkonventionell, wollte ihn zum Nachdenken zwingen. Das Blättchen seiner Schachuhr hing noch an seinem äußersten Ende auf der Spitze des Minutenzeigers, der unerbittlich weiter auf die Zwölf vorrückte. Er hätte nun beginnen können, die Uhr mit äußerster Vorsicht zu bedienen, um noch die letzten Sekunden herauszuschinden, doch er würde die Partie nicht gewinnen. Nicht heute.
„Danke für die Lehrstunde", sagte er leise, nahm seinen König und legte ihn auf das Brett.
Halo nickte.
Wenig später fiel das Blatt.
A/N: Hallo, meine geneigten Leser. Wahrscheinlich habt ihr gehofft zu erfahren, wie es mit Hermine und ihrem geheimnisvollen Buch weitergeht, aber ich habe entschieden, euch mit diesen „Kinderkapitel" zu ärgern. Ich hoffe, ihr konntet es dennoch etwas genießen. Zu meinem Leidwesen muss ich gestehen, dass persönliche Erfahrungen in dieses Kapitel eingeflossen sind :P
Endlich habe ich für die Erben Slytherins ein Titelbild hochgeladen, vielleicht habt ihr es schon entdeckt. Es ist eine wunderbare Drachenbuchstütze, die auch wirklich in meinem Bücherregal steht. Wenn ihr neugierig seid, könnt ihr noch andere Zeichnungen und Malversuche auf Instagram finden: heißt mein Account
Schöne Ostern, eure Lumos!
