I. Das Jahr 2071

Menschenfresser sind auch Menschen, doch nicht immer Männer
Menschenfressermenschen fressen Professoren und Penner
Menschenfressermenschen können Menschen gar nicht riechen
Menschenfressermenschen sehen Menschen gerne kriechen

Man sah sich immer zweimal im Leben, so hieß es. Das stimmte nicht. Harry hatte Draco mehr als zweimal gesehen, selbst wenn man die gesamte Schulzeit als einmal sehen zusammenfasste. Da waren die Zeitungsartikel im Tagespropheten und der Hexenwoche über die Familie Malfoy und wenn man diese auch nicht zählte, dann war da immer noch Albus, der sich ausgerechnet mit Malfoy junior, Scorpius, hatte anfreunden müssen. Ab und zu hatte Harry Draco in der Winkelgasse getroffen oder an King's Cross, wenn sie beide ihre Kinder zum Hogwarts Express gebracht hatten.

Gleich, wie man zählte, man kam immer auf mehr als zweimal.

Besonders, weil er nun, im stolzen Alter von 91 Jahren, erneut auf Draco Malfoy traf.

Es war der 20.07.2071 und der Zaubergamot strebte eine Korrektur der Fehler an, die er vor ungefähr siebzig Jahren gemacht hatte.

Sie saßen im Gerichtssaal, im Halbrund mit den Fackeln an den steinernen Wänden. Die fünfzig Richter des Gamots saßen aufgereiht in den Rängen und sahen mit starren Gesichtern zum Angeklagten herab. Harry war in den Zuschauerrängen, die wie bei den ersten Prozessen zum Bersten gefüllt waren. Jeder in der noch so kleinen Zaubererwelt wollte das Spektakel mit eigenen Augen sehen. Er war allein, nur seine Tochter Lily, die selbst schon das Rentenalter erreicht hatte, begleitete ihn.

Hermine war vor zwei Jahren an die Côte d'Azur gezogen. Sie hatte genug vom kalten, englischen Klima gehabt. Zwar hätte sie zum Prozess kommen können, das war ja weder in der magischen noch in der Muggelwelt ein Problem, aber sie hatte mit der Sache endgültig abgeschlossen. Der Krieg war ein vergleichsweise kurzer Lebensabschnitt in ihren Biographien gewesen, dafür aber ein umso düsterer. Vom Grauen wollten sie sich nicht mehr ihr Leben diktieren lassen. Sie hatten losgelassen.

Ron wiederum war in dem einen schicksalhaften Jahr nach Russland ausgewandert – und dort geblieben. Sie tauschten immer noch Briefe aus und besuchten sich gegenseitig, doch er hatte sich verändert. Er hatte nochmal eine Familie in Sankt Petersburg gegründet, hat noch zwei weitere Kinder bekommen. Sie verstanden sich alle recht gut mit Hermine, Rose und Hugo, doch es war seltsam. Auch er hatte irgendwie abgeschlossen.

Was hieß es für Harry, dass er an diesem Tag im Gerichtssaal zugegen war? Er sah sich um, doch traf auf wenige bekannte Gesichter. Die meisten waren jünger als er, viele von ihnen nur halb so alt. Für sie war der Krieg nicht real, sondern nur ein Kapitel aus einem Geschichtsbuch. Sie schielten zu ihm und beobachteten jede seiner Bewegungen. Wie ein exotisches Tier im Zoo fühlte er sich und er konnte sich nicht ausmalen, wie es Draco gehen musste. Bevor er wusste, was er tat, hatte er sich erhoben und war aus den Rängen runter zum Stuhl des Angeklagten geschritten.

„Potter, siehst du endlich das, was du all die Jahre sehen wolltest?", wurde er zynisch von Malfoy begrüßt.

Harry schüttelte den Kopf. „Ich sehe nur einen alten Mann, der siebzig Jahre der Strafverfolgung entgehen konnte."

Draco Malfoy wandte sich auf dem Angeklagtenstuhl. Seine Hände waren nicht mit Fesseln an die Armlehnen gebunden. Das war eigentlich schon seit mehr als hundert Jahren Gang und Gebe und es würde wohl auch immer so sein. Es war eine Prozedur, eine Tradition, aber Draco Malfoy war so alt, dass keine Fluchtgefahr bestand. Daher war er auch nicht in Untersuchungshaft gewesen, sondern im St. Mungos. Sein Gesundheitszustand war zweifelhaft. „Es ist nicht so, als ob ich mich versteckt gehalten hätte", brummte er mit seiner rauchigen Stimme. Er hustete und sein ganzer Körper bebte.

„Stimmt", Harry neigte den Kopf zur Seite. „Du hast dich nicht bedeckt gehalten."

„Ich habe im Tagespropheten Interviews gegeben!" Draco fletschte die Zähne. „Ich war immer in England, innerhalb der Reichweite der Behörden, gewesen. Sie hatten sogar mal ein Ermittlungsverfahren aufgenommen, das dann aber ohne Kommentar wieder eingestellt. Nun … – sitze ich hier, als alter Mann! Anstatt mich in Frieden meinen Lebensabend verbringen zu lassen, zerren sie nun die Geister aus dem Keller, für die sie sich Jahrzehnte lang nicht interessiert haben!"

Harry schluckte. „Ich kann das nicht verteidigen … – Ich muss das auch nicht. Eigentlich war ich nur hier gewesen, um dir Glück zu wünschen."

Draco lachte und verschluckte sich. Er krächzte: „Glück? Das kannst du dir sonst wohin stecken."

„Was hätte denn deiner Meinung nach passieren sollen?", fragte er. Aufmerksam hörte er ihm zu, studierte jede kleine Regung in seinem Gesicht. Er wollte ihn verstehen, wirklich. Was dachte er, als ehemaliger Todesser, dazu? Die Leute munkelten, dass die Malfoys nicht mehr dieselben Werte vertraten wie früher. Das Gerücht, dass sie der Reinblutideologie abgeschworen hätten, hielt sich hartnäckig. Ebenso wie jenes, dass sie kleine Kinder im Kerker hielten und für schwarzmagische Rituale opferten. Tatsächlich hatte es seit Jahrzehnten keine verbale Entgleisung der Malfoys mehr gegeben, nicht mal „Schlammblut" hatten sie in den Mund genommen. Scorpius war ein weltoffener Mensch, das hatte Harry selbst beobachtet. Trotzdem blieb die Skepsis gegenüber seinem Vater.

„Ich habe ja gar nichts gegen den Prozess, auch wenn er so spät ist", murmelte Draco geschlagen. Es erstaunte Harry, hatte er doch damit gerechnet, dass Draco alles abstreiten und sich in ein Gewand des Schweigens hüllen würde. „Es ist wichtig, dass die Untaten von damals aufgearbeitet werden, dass den Opfern zugehört wird. Ich weiß auch, dass ich eine moralische Schuld trage, aber doch keine strafrechtliche." Er schluckte. „Das werde ich auch vor Gericht sagen."

Harry riss die Augen. „Du möchtest geständig sein?"

„Ich werde offen berichten, schonungslos", bestätigte er. „Nun komm schon, Potter, das ist doch nicht wirklich Neues! Ich habe doch schon im Tagespropheten davon erzählt, das ist nun auch schon einige Jahre her."

„Ich bin gespannt", erwiderte er knapp.

„Ich will nur keine Freiheitsstrafe", echauffierte sich Draco. „Ich bin 91 Jahre alt, verdammt nochmal. Sehe ich aus, als könnte ich eine Gefahr darstellen?" Er zeigte auf sich selbst, auf sein faltiges Gesicht und die altersfleckenbedeckte Haut. Seine Augenbrauen wuchsen über die Stirn und hatten die Farbe seiner Haare angenommen – ein vollkommenes Weiß. Es stand ihm, wenn Harry ehrlich war. Doch Draco sah nicht aus, als könnte er jemanden etwas antun. Er zitterte bereits so stark, dass Harry bezweifelte, dass er noch einen Zauberstab halten, geschweige denn einen Zauber ausführen, konnte.

„Das kann ich verstehen", sagte Harry.

Bevor er zu einem weiteren Wort ansetzen konnte, klopfte der vorsitzende Richter auf sein Pult. „Die Hauptverhandlung beginnt", rief er. „Ich bitte alle, ihre Plätze einzunehmen und Ruhe zu bewahren. Wer das nicht schafft, wird aus dem Sitzungssaal geschickt."

Draco wandte sich von Harry ab und sah mit starrem Blick zur Richterbank.

Gemächlich, wie es nur ein alter Mann konnte, ging Harry zurück zu seiner Tochter, die ihm half, sich auf den Sitz zu setzen und tätschelnd seine Hand hielt. Gemeinsam lauschten sie der Hauptverhandlung, dem vorsitzenden Richter, Draco, dem Angeklagten und den vorgeladenen Zeugen. Auch, wenn es Harry freute, dass endlich ein Prozess stattfand, der das Unrecht des Voldemortregimes aufarbeitete, so wurde seine Freude doch von der verstrichenen Zeit getrübt.

Siebzig Jahre waren vergangen. Die meisten Täter waren bereits verstorben, viele von ihnen waren nie zur Rechenschaft gezogen worden. Dass Malfoy nun auf der Anklagebank saß, als einer der wenigen, hatte er seinem damaligen jungen Alter zu verdanken.

Es wurde ein geschichtsträchtiger Prozess – für Historiker und Juristen gleichermaßen bedeutend. Harry ahnte es bereits. Es war keine Überraschung, sondern eine logische Entwicklung.

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Aus dem Urteil:

Voraussetzung für die Anordnung und rasche Durchführung der Ermordung der Muggelstämmigen war das Bestehen eines organisierten Tötungsapparates, der auf der Basis seiner materiellen und personellen Ausstattung durch verwaltungstechnisch eingespielte Abläufe und quasi industriell ablaufende Mechanismen in der Lage war, in kürzester Zeit eine Vielzahl von Mordtaten umzusetzen. Zu diesem Tötungsapparat zählte das Lager Wiltshire mit dem dort für diese Zwecke diensttuenden Personal. Nur weil ihnen eine derart strukturierte und organisierte ‚industrielle Tötungsmaschinerie' mit willigen und gehorsamen Untergebenen zur Verfügung stand, war es Voldemort und seinen Marionetten im Ministerium möglich, die Internierung und Ermordung von Muggelstämmigen und Blutsverrätern anzuordnen und in der geschehenen Form auch durchführen zu lassen. Ihr Tatentschluss und ihre Anordnungen zur Umsetzung der Aktion waren daher wesentlich durch diese Voraussetzungen bedingt und wurden hierdurch maßgeblich gefördert.

An dieser Tatförderung hatte der Angeklagte, Draco Malfoy, Anteil. Er war Teil des personellen Apparats, der schon zum Zeitpunkt des Befehls Dienst tat. Er war in die Organisation der Massentötungen eingebunden, indem er nach Dienstplan Aufgaben beim Eintreffen der Opfer wahrnahm und es ihm unabhängig hiervon durchgehend oblag, die Internierten zu überwachen sowie Widerstand oder Fluchtversuche mit Waffengewalt zu verhindern."

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London, der 21.09.2071

Der Tagesprophet

Strafsache Malfoy: vier Jahre Gefängnis

Am 20.09.2071 wurde Draco Malfoy, 91, vom vollbesetzten Zaubergamot wegen Beihilfe zum Mord in 91 Fällen zu einer vierjährigen Jugendfreiheitsstrafe verurteilt. Das historische Urteil ist höchstwahrscheinlich der Schlussstein in der Todesserrechtsprechung.

Warum hatte es so lange gedauert?

Um diese Frage zu beantworten, musste Harry in der Zeit zurückgehen. Er grub in seinen tiefsten Erinnerungen und träumte von einem Land, in dem Voldemort gerade erst besiegt worden war und die Welt für große Veränderungen offen zu stehen schien.


- Lyrics: „Menschenfresser" von Rio Reiser

Links:

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