Ein Tag wie jeder andere
Mit einem Aufschrei und vor Angst weit aufgerissenen Augen schreckte Lady Elisabeth aus ihrem Alptraum hoch. Das Herz pochte wild in ihrer Brust und sie atmete krampfhaft ein und aus. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie sich so weit beruhigt hatte, um wieder normal atmen zu können, doch schaffte sie es nicht, die panische Angst vollkommen zu vertreiben. Sie war schon seit Monaten ihr ständiger Begleiter, seit sie von ihrer Halbschwester Maria im Tower eingesperrt worden war. Auch wenn diese sie begnadigt und Elisabeths Haft in Hausarrest umgewandelt hatte, lebte sie immer mit der Furcht, dass die Königin es sich anders überlegte und die unbequeme Schwester aus dem Weg schaffen würde.
Als das Zittern schließlich soweit nachließ, dass sie aus ihrem Bett aufstehen konnte ohne gleich umzukippen, schlug Elisabeth die Decken beiseite, legte die Füße auf den kalten Holzdielenboden und ging zum Fenster rüber von wo aus sie ihren Blick über den kahlen herbstlichen Garten wandern ließ. Ihr Gesicht spiegelte sich auf dem zerkratzten Glas der Fensterscheibe wider und obwohl es ihr Spiegelbild war, kam es der Prinzessin so vor, als würde eine Fremde sie aus einer anderen Welt vom Glas her anstarren. Das Jahr, das sie im Tower verbracht hatte, hatte seine Spuren in ihr hinterlassen, sowohl körperlich als auch geistig, so dass sie älter als ihre fünfundzwanzig Jahren aussah.
Doch tat sie alles, was man von ihr verlangte. Sie hatte den ketzerischen Glauben abgeschworen, besuchte gewissenhaft die lateinische Messe, schluckte mühsam das Brot hinunter, das definitiv nur Brot war und ging regelmäßig zur Beichte. Doch das schien der misstrauischen Maria nicht zu genügen. Immer wieder suchte sie nach Beweisen, dass die Bekehrung ihrer Halbschwester nur gespielt war, dass sie weiterhin den irrtümlichen Lehren nachhing, den auch ihre Mutter geglaubt hatte.
Wie heuchlerisch von ihr, anderen zu verweigern, was ihr in ihrer dunkelsten Stunde zugestanden worden war. Denn während der kurzen Regierungszeit ihres Bruders Eduard war Maria erlaubt worden, ihren katholischen Glauben frei auszuüben, auch wenn Eduard ein inbrünstiger Anhänger des neuen Glaubens war. Er hatte akzeptiert, dass die ältere Schwester noch an den papistischen Lehren hing und hatte nicht versucht, ihr seine aufzuzwängen, auch wenn es sein Recht als König gewesen wäre.
Ihre trübseligen Gedanken wurden unterbrochen als sich scheinbar aus dem Nichts eine Hand sanft auf ihre Schulter legte. Alarmiert erstarrte sie einen Augenblick lang, drehte dann langsam den Kopf und seufzte erleichtert auf, als sie sah dass es sich nur um ihre Kammerzofe handelte.
„Ich bitte um Verzeihung, Eure Gnaden, ich wollte Euch nicht erschrecken. Aber ich habe Euch schreien gehört und wollte nachsehen, ob es Euch gut geht," sagte die Zofe und hielt dabei den Blick ehrfürchtig vor ihrer Herrin gesenkt.
Elisabeth spürte Wut in sich aufsteigen. Es gefiel ihr nicht, wenn andere sie in einem Moment der Schwäche ertappten. Das konnte sie sich nicht leisten, nicht, wenn sie den Respekt der Menschen ihrer Umgebung nicht verlieren wollte. Solange ihre Schwester auf dem englischen Thron saß, war sie nichts anderes als eine Gefangene in ihrem eigenen Land, die immer unter strengster Beobachtung stand.
Deshalb richtete sie sich so gut sie konnte in voller Größe auf, sah dem jungen Mädchen ohne mit der Wimper zu zucken in die Augen und sagte kühl und hochmütig: „Es ist alles in Ordnung, Grace. Aber da du schon mal hier bist, mach dich behilflich und hilf mir beim Ankleiden."
Das junge Mädchen blickte sie noch einige Augenblicke zweifelnd an, als ob sie den Worten ihrer Herrin nicht so recht glauben wollte, schien etwas sagen zu wollen, überlegte es sich dann aber anders und half ihr wortlos bei der Toilette.
Die Prinzessin fand die Stille behaglich, weil sie ihr ermöglichte, ihre Kräfte für den kommenden Tag zu sammeln und im Stillen betete sie zu Gott, er möge ihr bei all den Prüfungen beistehen, die dieser Tag mit sich bringen würde.
Später am Nachmittag saß Elisabeth an ihrem Sekretär und versuchte sich auf ihre Korrespondenz zu konzentrieren, was ihr aber nicht so recht gelingen wollte. Immer wieder schweifte ihr Blick zum Fenster und der dahinterliegenden Landschaft rüber. Eine leichte Brise brachte die wenigen Blätter, die noch an den Bäumen hingen, zum Rascheln und trieb die Wolken umher, so dass ein paar Sonnenstrahlen es schafften, sich nach unten zu verirren. Das Wetter war ungewöhnlich mild für Mitte November und lud praktisch für einen Spaziergang in den herbstlichen Park ein.
Ihren Entschluss gefasst, stand sie von ihrem Platz auf, schnappte sich ein Buch um es draußen zu lesen und lief schnurstracks zur Haustür, um nach draußen zu gelangen, als plötzlich eine männliche Stimme sie aufhielt.
"Darf ich fragen, wo Eure Gnaden sich zu begeben gedenkt?"
Beim Klang dieser Stimme zuckte sie innerlich vor unterdrücktem Zorn zusammen, denn sie gehörte Sir Henry Bedingfield, dem Mann, der für ihre Überwachung zuständig war und mit dem sie schon sehr oft aneinandergeraten war. Auch diesmal hatte er es geschafft mit nur einem einzigen Satz den schönen Nachmittag zu verderben, doch ihren Unmut freien Lauf zu lassen würde die Sache nur noch schlimmer machen. Deshalb drehte sie sich mit einem gezwungenen Lächeln im Gesicht um, und blickte dem verhassten Sir Henry direkt in die Augen.
„Nicht dass es Euch etwas angeht, Sir Henry," sagte sie mit einer Stimme, aus der leicht die Verachtung herauszuhören war, „aber ich werde im Garten spazieren gehen. Wenn Ihr mich also entschuldigen wollt…." Sie wandte sich ab und öffnete die Tür, die zur ersehnten Freiheit führte.
Sir Henry blieb mit offenem Mund wie angewurzelt stehen, erlangte aber schnell seine Fassung wider. „Nicht so schnell, Eure Gnaden," rief er ihr bellend hinterher und war mit wenigen Schritten bei ihr um mit seiner stämmigen Gestalt den Durchgang zu blockieren. „Ich habe strikte Anweisungen von Eurer Schwester, Ihrer Majestät, erhalten, Euch nicht unbeaufsichtigt aus dem Haus zu lassen!"
Elisabeth hob fassungslos die Augenbrauen. Sie konnte nicht glauben, wie dreist sich dieser papistische Emporkömmling benahm. Wie konnte er es wagen so zu einem Mitglied des Königshauses zu sprechen. Blinde Wut keimte in ihr auf und ließ sie all die guten Vorsätze vergessen, die sie eben noch getroffen hatte.
„Ihr vergesst Euch, Sir Henry!" fauchte sie leise, „denkt nicht, dass nur weil meine Schwester Euch als meinen Wächter eingesetzt hat, Ihr irgendwie das Recht hättet mir Vorschriften machen zu können, die über Euren Befugnisse liegen. Ich bin immer noch eine Tudor und ich erwarte, dass man mir den mir gebührenden Respekt zollt. Haben wir uns verstanden?"
Dabei funkelten ihre dunkeln Augen ihn zornig an so dass dieser einen Schritt zurückwich. In seinen Augen lag Ratlosigkeit und Verwirrung, als wüsste er nicht so recht, wie er auf diese offensichtliche Provokation reagieren sollte. Er schien aber zu dem Entschluss zu kommen, dass es besser sei, nachzugeben. Also nickte er nur ehrfürchtig mit dem Kopf, verbeugte sich leicht und trat zur Seite, damit sie aus der Tür gehen konnte.
Sobald Elisabeth draußen war, lief sie so schnell sie konnte zu ihrem Lieblingsplatz, einer alten Eiche, wo sie ungestört nachdenken oder sich einfach nur entspannen konnte. Der kleine Sieg, den sie soeben errungen hatte, hatte sie zwar erfreut, aber doch einen bitteren Nachgeschmack in ihrem Geist hinterlassen. Sie war es so überdrüssig sich immer behaupten und zur Wehr setzen zu müssen. Immer auf der Hut sein zu müssen, was sie sagte oder tat, aus Angst irgendetwas davon könnte falsch interpretiert werden, um ihren Gegnern bei Hofe die Munition zu geben, die sie brauchten, um sie in den Augen von Maria zu diskreditieren, damit sie noch mehr in Ungnade fiel als sie es ohnehin schon war. Dann schüttelte sie den Kopf um diese melancholischen Gedanken zu vertreiben, schlug ihr Buch auf und fing an zu lesen.
Sie wusste nicht wie viel Zeit vergangen war, als sie endlich von den Seiten des Buches aufblickte. Der Stand der Sonne verriet ihr, dass es später Nachmittag sein musste. Während sie noch überlegte, was sie tun sollte, ob sie noch da bleiben oder doch lieber ins Haus zurückkehren sollte, nahm Elisabeth plötzlich das Geräusch von Schritten wahr. Verwundert stand sie von ihrem Platz auf, um besser sehen zu können, wer da kam doch aus dieser Entfernung war nichts zu erkennen. Als die Schritte näherkamen, erkannte sie, dass es sich um eine Gruppe Männer handelte, die zielstrebig in ihre Richtung liefen. Ein paar Augenblicke später waren ihre Gesichter so nah, dass sie einige von ihnen erkennen konnte. Es waren hauptsächlich Mitglieder des Kronrats, angeführt von Sir Henry, der ihnen offensichtlich den Weg zeigte, wo sie zu finden war.
Beim Anblick der Männer verkrampfte sich ihr Magern schmerzhaft und ein ungutes Gefühl beschlich sie, obwohl sie sich einredete, ruhig zu bleiben und keine voreiligen Schlüsse zu ziehen, bevor sie nicht alle Fakten kannte. Wahrscheinlich gab es einen einfachen , unschuldigen Grund für das plötzliche Auftauchen des Rates in Hatfield. Wie etwa….doch so sehr sie sich auch bemühte, ihr wollte kein einfacher Grund einfallen. Das einzige, was für Elisabeth einen Sinn ergab war, dass die Königin endlich beschlossen hatte, sich der verhassten Halbschwester zu entledigen, indem man sie im Tower einsperrte, um sie dann, nach einem Prozess der Form halber, auf Tod durch Schafott zu verurteilen.
Plötzlich aber spürte sie eine neue Kraft in sich aufsteigen, die die Verzweiflung und die Resignation verdrängte. Egal was jetzt kam, sie würde es mit Ehre und erhobenen Hauptes ertragen, so wie es sich für eine englische Prinzessin geziemte. Diesen Entschluss gefasst, lief sie den Männern entgegen, und als sie direkt vor ihnen angelangt war, begrüßte Elizabeth sie kühl mit ruhiger Stimme, ohne auch nur die geringste Gefühlsregung zu zeigen.
„Mylords, was verschafft mir die Ehre Eures Besuches?"
Ein Mann trat aus der Gruppe hervor. Es war William Cecil, einer ihrer engsten und loyalsten Anhänger. Er sah sie mit einem Ausdruck in seinen Augen an, den sie nicht richtig verstand und verbeugte sich tief, bevor er verkündete: „Eure Gnaden, wir sind gekommen, um Euch leider eine traurige Botschaft zu überbringen. Unsere geliebte Königin Maria ist am heutigen Tage verstorben."
Bei diesen Worten blieb Elisabeth wie vom Donner gerührt. Mit alles hätte sie gerechnet, nur nicht mit solch einer Nachricht. Sie wusste zwar, dass die Gesundheit von Maria angeschlagen war, dennoch hatte sie nicht gedacht, dass es so schlimm um sie stand. Elisabeth wollte etwas sagen, wollte fragen, wie es dazu gekommen war, schaffte es aber nicht einen Ton rauszubekommen. Ihr Schock wurde noch größer bei Cecils nächsten Worten.
„Milady, Ihr seid jetzt die Königin von England!"
Bei dieser Proklamation verneigten sich alle Anwesenden und riefen laut: „Lang lebe die Königin!"
Das junge Mädchen starrte sie verständnislos an, sie konnte nicht glauben, was sie gerade gehört hatte. Noch vor einigen Augenblicken hatte sie gedacht im Tower als Verräterin hingerichtet zu werden und nun sollte sie die neue Königin sein. Erst als Cecil die Hand ausstreckte, um ihr den Siegelring der Könige von England zu überreichen, wurde ihr deutlich, dass das alles hier alles kein Traum war. Sie war wirklich die neue Königin, sie würde auf den Thron sitzen, der einst ihrem Vater gehört hatte. Langsam wich das Erstaunen der Freude und als sie sich umdrehte, um zu den versammelten Männern zu sprechen, war ihre Stimme fest und selbstbewusst.
„Das ist vom HERRN geschehen und ist ein Wunder vor unsern Augen!"
