Harry Potter Buch 1: Der Stein der Weisen
Ein Junge überlebt
Mr. und Mrs. Dursley, die im Ligusterweg Nummer 4 wohnten, waren stolz darauf, normal zu sein, sehr stolz sogar. Ihr Stolz, auf Normal zu sein grenzte an Obsession. Doch damit waren die Dursleys in ihrer Straße nicht alleine. Jeder der im Ligusterweg wohnte hatte diesen Stolz und so wäre Niemand, der sie auch nur entfernt kannte, auf die Idee gekommen, sie könnten sich in eine merkwürdige und geheimnisvolle Geschichte verstricken, denn mit solchem Unsinn wollten sie nichts zu tun haben.
Mr. Dursley war Direktor einer Firmenniederlassung in London, einer Firma namens Grunnings, die Bohrmaschinen herstellte. Er war groß, blond, bullig und hatte fast keinen Hals, dafür aber einen sehr großen Schnurrbart.
Mrs. Dursley war, seit dem sie ihren Mann geheiratet hatte, eine Hausfrau. Sie war dünn, blond und besaß doppelt so viel Hals, wie notwendig gewesen wäre, was allerdings sehr nützlich war, denn so konnte sie den Hals über den Gartenzaun recken und zu den Nachbarn hinüberspähen.
Die Dursleys hatten eine kleine Tochter namens Diana und in ihren Augen gab es nirgendwo ein prächtigeres, intelligenteres, gesünderes Kind in ihrem Alter.
Die Dursleys besaßen alles, was sie wollten, doch sie hatten auch ein Geheimnis. Ihre größte Sorge, war es, dass es jemand aufdecken könnte. Für die Dursleys wäre es einfach unerträglich, wenn die Sache mit den Potters herauskommen würde. Mrs. Potter war die Schwester von Mrs. Dursley doch die beiden hatten sich schon seit mehreren Jahren nicht mehr gesehen. Mrs. Dursley behauptete sogar, dass sie gar keine Schwester hätte, denn diese und deren Nichtsnutz von einem Mann waren so unnormal, wie man es sich nur denken konnte. Die Dursleys schauderten beim Gedanken daran, was die Nachbarn sagen würden, sollten die Potters eines Tages in ihrer Straße aufkreuzen. Die Dursleys wussten nicht, dass die Potters einen kleinen Sohn hatten, denn Mrs. Dursley verbrannte alle Briefe, die sie von ihrer Schwester bekommen hatte.
Wie Recht Mrs. Dursley eigentlich hatte, würde sie Erfahren, wenn sie die im Dachboden verstaubten Unterlagen ihrer verstorbenen Eltern ansehen würde, was sie jedoch niemals getan hatte.
Als Mr. und Mrs. Dursley an dem trüben und grauen Dienstag, dem 3. November, an dem unsere Geschichte beginnt, die Augen aufschlugen, war an dem wolkenverhangenen Himmel draußen kein Vorzeichen der merkwürdigen und geheimnisvollen Dinge zu erkennen, die bald überall im Land geschehen sollten. Mr. Dursley summte vor sich hin und suchte sich für die Arbeit eine langweilige Krawatte aus und Mrs. Dursley schwatzte munter vor sich hin, während sie mit der schreienden Diana rangelte und ihn in seinen Hochstuhl zwängte.
Keiner von ihnen sah den riesigen Waldkauz am Fenster vorbeifliegen.
Um halb neun griff Mr. Dursley nach der Aktentasche, gab seiner Frau einen Schmatz auf die Wange und versuchte es auch bei Diana mit einem Abschiedskuss. Der ging jedoch daneben, weil Diana gerade einen Wutanfall hatte und die Wände mit ihrem Haferbrei bewarf.
»Kleine Spitzbübin«, gluckste Mr. Dursley, während er nach draußen ging. Er setzte sich in den Wagen und fuhr rückwärts die Einfahrt zu Nummer 4 hinaus.
An der Straßenecke fiel ihm zum ersten Mal etwas Merkwürdiges auf, eine Katze, die auf eine Straßenkarte sah. Einen Moment war Mr. Dursley nicht klar, was er gesehen hatte und wandte er rasch den Kopf zurück, um noch einmal hinzuschauen. An der Einbiegung zum Ligusterweg stand eine getigerte Katze, aber eine Straßenkarte war nicht zu sehen.
‚Woran hab ich nur wieder gedacht! Das musste eine Sinnestäuschung gewesen sein', dachte Mr. Dursley blinzelnd und starrte die Katze an. Die Katze starrte zurück. Während Mr. Dursley um die Ecke bog und die Straße entlangfuhr, beobachtete er die Katze im Rückspiegel. Jetzt sah sie auf das Schild mit dem Namen Ligusterweg.
‚Katzen können weder Karten noch Schilder lesen', dachte Mr. Dursley.
Er gab sich einen kleinen Ruck und verjagte die Katze aus seinen Gedanken. Während er in Richtung Stadt fuhr, hatte er nur noch den großen Auftrag für Bohrmaschinen im Sinn, der heute hoffentlich eintreffen würde.
Doch am Stadtrand wurden die Bohrmaschinen von etwas anderem aus seinen Gedanken verdrängt. Er saß im üblichen morgendlichen Stau fest und konnte nicht umhin zu bemerken, dass offenbar eine Menge seltsam gekleideter Menschen unterwegs waren. Menschen in langen und weiten Umhängen. Mr. Dursley konnte Leute nicht ausstehen, die sich komisch anzogen. Das musste wohl irgendeine dumme neue Mode sein. Er trommelte mit den Fingern auf das Lenkrad und sein Blick fiel auf eine Ansammlung dieser merkwürdigen Gestalten nicht weit von ihm. Ganz aufgeregt flüsterten sie miteinander. Erzürnt stellte Mr. Dursley fest, dass einige von ihnen überhaupt nicht jung waren.
Doch dann fiel Mr. Dursley plötzlich ein, dass dies wohl eine verrückte Verkleidung sein musste. ‚Die Leute Sammelten für etwas oder machten für etwas Werbung… ja, so musste es sein.', dachte er.
Die Autoschlange bewegte sich, und ein paar Minuten später fuhr Mr. Dursley wie gewohnt auf den Parkplatz seiner Firma, die Gedanken wieder bei den Bohrern.
In seinem Büro im neunten Stock saß Mr. Dursley immer mit dem Rücken zum Fenster. Andernfalls wäre es ihm an diesem Morgen schwergefallen, sich auf die Bohrer zu konzentrieren. Er bemerkte die Eulen nicht, die am helllichten Tage an seinem Büro vorbeischossen, wohl aber die Leute unten auf der Straße und jene Menschen, die in sein Büro gekommen waren. Die meisten von ihnen hatten überhaupt noch nie eine gesehen, nicht einmal nachts. Mr. Dursley jedoch verbrachte einen ganz gewöhnlichen, eulenfreien Morgen. Er machte sieben verschiedene Leute zur Schnecke. Er führte mehrere wichtige Telefongespräche und schrie dabei noch ein wenig lauter. Bis zur Mittagspause war er glänzender Laune und wollte sich nun ein wenig die Beine vertreten und beim Bäcker über der Straße etwas zum essen holen.
Die Leute in der merkwürdigen Aufmachung hatte er schon längst vergessen. Doch, auf dem Weg zum Bäcker, begegnete er wieder einigen dieser Gestalten. Im Vorbeigehen warf er ihnen zornige Blicke zu. Er wusste nicht, warum, aber sie bereiteten ihm Unbehagen.
Auch dieses Pack hier tuschelte ganz aufgeregt und eine Sammelbüchse war nirgends zu sehen. Auf dem Weg zurück vom Bäcker, eine Tüte mit einem großen Donut in der Hand, schnappte er ein paar Worte von ihnen auf.
„… die Potters, das stimmt, das hab ich gehört…", sagte einer der Gestalten.
„…ja, ihr Sohn, Harry…", sagte eine andere der Gestalten.
Mr. Dursley blieb wie angewurzelt stehen. Angst überkam ihn. Er wandte sich nach den Flüsterern um, als ob er ihnen etwas sagen wollte, besann sich dann aber eines Besseren.
Hastig überquerte er die Straße, stürmte hoch ins Büro, fauchte seine Sekretärin an, er wolle nicht gestört werden, griff nach dem Telefon und hatte schon fast die Nummer von daheim gewählt, als er es sich anders überlegte. Er legte den Hörer auf die Gabel und strich sich über den Schnurrbart. ‚Nein… ich bin dumm. Potter war kein besonders ungewöhnlicher Name. Sicher gab es eine Menge Leute, die Potter hießen …', dachte er.
Es hatte keinen Sinn, Mrs. Dursley zu beunruhigen, sie geriet immer so außer sich, wenn man ihre Schwester auch nur erwähnte. Er machte ihr deswegen keinen Vorwurf, denn wenn er eine solche Schwester hätte, wäre er genau so. Und dennoch, diese Leute in den Umhängen …
An diesem Nachmittag fiel es ihm um einiges schwerer, seine Gedanken auf die Bohrer zu richten, und als er das Büro um fünf Uhr verließ, war er immer noch so voller Sorge, dass er beim ersten Schritt nach draußen gleich mit jemandem zusammenprallte.
»Verzeihung«, grummelte er, als die kleine Frau ins Stolpern kam und beinahe hinfiel. Erst nach ein paar Sekunden bemerkte Mr. Dursley, dass die Frau seine Sekretärin war. Dass er sie fast umgestoßen hatte, schien ihr gar nicht weiter zu ärgern. Im Gegenteil, auf ihrem Gesicht öffnete sich ein breites Lächeln, und die Leute, die vorbeigingen, blickten auf, als sie sagte: „Heute verzeih ich alles, mein lieber Chef, heute kann mich nichts aus der Bahn werfen! Denn ich habe im Lotto gewonnen. Ich Kündige, denn ich muss nicht mehr hier arbeiten…"
Und die Sekretärin umarmte Mr. Dursley ungefähr in Bauchhöhe und ging von dannen, dass sie bei dem Aufprall ein Stück Papier verloren hatte, war ihr nicht bewusst.
Mr. Dursley stand da wie angewurzelt, beugte sich und nahm den Zettel auf. Es war ein Lottoschein der für letzten Samstag ausgefüllt worden war. Völlig durcheinander eilte er zu seinem Wagen und fuhr nach Hause. Den Lotto Schein würde er seiner Sekretärin morgen geben, wenn er sie wieder sah, denn eine Mündliche Kündigung war im Grunde nichtig.
Er hoffte, sich diese Seltsame Dinge nur einzubilden und das war neu für ihn, denn von Einbildungskraft hielt er normalerweise gar nichts.
Er ging zu seinem Auto und fuhr Heim. Bei dieser Fahrt, war Glücklicherweise Weniger los, als es Heute Morgen der Fall war. Die komischen Gestalten mit Umhängen, waren nirgends zu sehen und es gab auch keinen Stau, auf dem Weg. Als er in die Auffahrt von Nummer 4 einbog, fiel sein Blick als Erstes und das besserte seine Laune nicht gerade auf die getigerte Katze, die er am Morgen schon gesehen hatte. Sie saß jetzt auf seiner Gartenmauer. Gewiss war es dieselbe Katze. Sie hatte dasselbe Muster.
»Schhhh!«, zischte Mr. Dursley laut.
Die Katze regte sich nicht. Sie blickte ihn nur aus ernsten Augen an.
‚Ist so etwas denn normal für Katzen', fragte sich Mr. Dursley im Gedanken. Er versuchte sich zusammenzureißen und öffnete die Haustür. Immer noch war er entschlossen, nichts von alledem seiner Frau zu sagen.
Mrs. Dursley hatte einen netten, gewöhnlichen Tag hinter sich. Beim Abendessen erzählte sie ihm alles über Frau Nachbarins Probleme mit deren Tochter und dass Diana ein neues Wort gelernt hatte. Mr. Dursley versuchte sich ganz wie immer zu geben. Nachdem er Diana zu Bett gebracht worden hatte, ging er ins Wohnzimmer, wo er sich das Neueste in den Abendnachrichten ansah.
„…Und hier noch eine Meldung. Wie die Vogelkundler im ganzen Land berichten, haben sich unsere Eulen heute sehr ungewöhnlich verhalten. Obwohl Eulen normalerweise nachts jagen und tagsüber kaum gesichtet werden, wurden diese Vögel seit Sonnenaufgang hunderte Male beobachtet, wie sie kreuz und quer über das Land hinwegflogen. Die Fachleute können sich nicht erklären, warum die Eulen plötzlich ihre Gewohnheiten geändert haben.", sagte der Nachrichtensprecher erlaubte sich ein Grinsen und fuhr fort: „Sehr mysteriös. Und nun zu Jim McGuffin mit dem Wetter. Sind heute Abend noch weitere Eulenschauer zu erwarten, Jim?"
„Nun, Ted. Das kann ich nicht sagen, aber es sind nicht nur die Eulen, die sich heute seltsam verhalten haben. Zuschauer aus so entfernten Gegenden wie Kent, Yorkshire und Dundee haben mich heute angerufen und berichtet, dass anstelle des Regens, den ich gestern versprochen hatte, ganze Schauer von Sternschnuppen niedergegangen sind! Vielleicht haben die Leute zu früh Silvester gefeiert – das ist noch eine Weile hin, meine Damen und Herren! Aber ich kann Ihnen für heute eine regnerische Nacht versprechen.«, sagte der Wetteransager Jim McGuffin.
Mr. Dursley saß starr wie ein Eiszapfen in seinem Sessel und bekam die weiteren Nachrichtengar nicht mehr mit.
‚Sternschnuppen über ganz Großbritannien? Eulen, die bei Tage flogen? Allerorten geheimnisvolle Leute in sonderbarer Kleidung? Und ein Tuscheln, ein Tuscheln über die Potters …', dachte er.
Dann kam Mrs. Dursley mit zwei Tassen Tee ins Wohnzimmer. Es hatte keinen Zweck, er musste ihr etwas sagen. Nervös räusperte er sich und sagte: „»Ähm… Petunia, Liebes… du hast in letzter Zeit nichts von deiner Schwester gehört, oder?«
Wie er befürchtet hatte, blickte ihn Mrs. Dursley entsetzt und wütend an. Schließlich taten sie für gewöhnlich so, als hätte sie keine Schwester.
„Nein. Warum?", antwortete sie scharf.
„Komisches Zeug in den Nachrichten. Eulen… Sternschnuppen… und heute waren eine Menge komisch aussehender Leute in der Stadt…", murmelte Mr. Dursley.
»Und?«, fuhr ihn Mrs. Dursley an.
»Nun, ich dachte nur… vielleicht… hat es etwas zu tun mit… «, murmelte Mr. Dursley.
Mrs. Dursley nippte mit geschürzten Lippen an ihrem Tee. Konnte er es wagen, ihr zu sagen, dass er den Namen Potter gehört hatte? Nein, das konnte er nicht. Stattdessen schwieg er bis es Zeit zum Schlafen war und sie nach oben gingen, verlor er kein Wort mehr darüber. Während Mrs. Dursley im Bad war, schlich sich Mr. Dursley zum Schlafzimmerfenster und spähte hinunter in den Vorgarten. Die Katze war immer noch da. Sie starrte auf den Ligusterweg, als ob sie auf etwas wartete.
‚Bilde ich das alles nur ein? Kann all dies etwas mit den Potters zu tun haben? Wenn es so war und wenn heraus kommt, dass sie verwandt waren mit einem Paar von diesen Paaren… Nein, das Erträge ich nicht.', dachte er.
Die Dursleys gingen zu Bett. Mrs. Dursley schlief rasch ein, doch Mr. Dursley lag wach und wälzte alles noch einmal im Kopf hin und her. Bevor er einschlief, kam ihm ein letzter, tröstender Gedanke. Selbst wenn die Potters wirklich mit dieser Geschichte zu tun hatten, gab es keinen Grund, warum sie bei ihm und Mrs. Dursley auftauchen sollten. Die Potters wussten sehr wohl, was er und Petunia von ihnen und ihresgleichen hielten … Er konnte sich nicht denken, wie er und Petunia in irgendetwas hineingeraten sollten, was dort draußen vor sich ging und er gähnte und drehte sich auf die Seite.
Er tröste sich mit dem Gedanken: ‚Was auch immer da draußen Passierte, haben er und seine Frau jedenfalls nichts zu tun haben…'
Wie sehr er sich dabei nur selbst täuschte.
Mr. Dursley mochte in einen unruhigen Schlaf hinübergeglitten sein, doch die Katze draußen auf der Mauer zeigte keine Spur von Müdigkeit. Sie saß noch immer da wie eine Statue, die Augen, ohne zu blinzeln, auf die weiter entfernte Ecke des Ligusterwegs gerichtet. Kein Härchen regte sich, als eine Straße weiter eine Autotür zugeknallt wurde oder als zwei Eulen über ihren Kopf hinwegschwirrten. In der Tat war es fast Mitternacht, als die Katze sich zum ersten Mal rührte.
An der Ecke, die sie beobachtet hatte, erschien ein Mann, so jäh und lautlos, als wäre er geradewegs aus dem Boden gewachsen. Der Schwanz der Katze zuckte und ihre Augen verengten sich zu Schlitzen. Dieser Mann trug einen Weidenkorb bei sich.
Einen Mann wie diesen hatte man im Ligusterweg noch nie gesehen. Er war groß, dünn und sehr alt, jedenfalls der silbernen Farbe seines Haares und Bartes nach zu schließen, die beide so lang waren, dass sie in seinem Gürtel hätten stecken können. Er trug eine lange Robe, einen purpurroten Umhang, der den Boden streifte, und Schnallenstiefel mit hohen Hacken. Seine blauen Augen leuchteten funkelnd hinter den halbmondförmigen Brillengläsern hervor, und seine Nase war sehr lang und krumm, als ob sie mindestens zweimal gebrochen wäre. Der Name dieses Mannes war Albus Dumbledore.
Albus Dumbledore schien nicht zu bemerken, dass er soeben in einer Straße aufgetaucht war, in der alles an ihm, von seinem Namen bis zu seinen Stiefeln, keineswegs willkommen war. Er stellte den Weidenkorb ab und durchstöberte Gedankenverloren die Taschen seines Umhangs. Doch offenbar bemerkte er, dass er beobachtet wurde, denn plötzlich sah er zu der Katze hinüber, die ihn vom andern Ende der Straße her immer noch anstarrte. Aus irgendeinem Grunde schien ihn der Anblick der Katze zu belustigen. Er gluckste vergnügt und murmelte: „Ich hätte es wissen müssen."
In seiner Innentasche hatte er gefunden, wonach er suchte. Es sah aus wie ein silbernes Feuerzeug. Er ließ den Deckel aufschnappen, hielt es hoch in die Luft und ließ es knipsen. Mit einem leisen Plop ging eine Straßenlaterne in der Nähe aus. Er knipste noch mal und die nächste Laterne flackerte und erlosch. Zwölfmal knipste er mit dem Ausmacher, bis die einzigen Lichter, die in der ganzen Straße noch zu sehen waren, zwei kleine Stecknadelköpfe in der Ferne waren, und das waren die Augen der Katze, die ihn beobachtete. Niemand, der jetzt aus dem Fenster geschaut hätte, auch nicht die scharfäugige Mrs. Dursley, hätte nun irgendetwas von dem mitbekommen, was unten auf dem Bürgersteig geschah. Dumbledore ließ den Ausmacher in die Umhangtasche gleiten und machte sich auf den Weg die Straße entlang zu Nummer 4, wo er sich auf die Mauer neben die Katze setzte. Er sah sie nicht an, doch nach einer Weile sprach er mit ihr.
„Was für eine Überraschung, Sie hier zu sehen, Professor McGonagall.", sagte er.
Mit einem Lächeln wandte er sich zur Seite, doch die Tigerkatze war verschwunden. Statt ihrer lächelte er einer ziemlich ernst dreinblickenden Frau mit Brille zu, deren Gläser quadratisch waren wie das Muster um die Augen der Katze. Auch sie trug einen Umhang, einen smaragdgrünen. Ihr schwarzes Haar war zu einem festen Knoten zusammengebunden. Sie sah recht verwirrt aus.
„Woher wussten Sie, dass ich es war?", fragte sie.
„Mein lieber Professor, ich habe noch nie eine Katze so steif dasitzen sehen.", antwortete er.
„Sie wären auch steif, wenn Sie den ganzen Tag auf einer Backsteinmauer gesessen hätten.", sagte Professor McGonagall.
„Den ganzen Tag? Wo Sie doch hätten feiern können? Ich muss auf dem Weg an mindestens einem Dutzend Feste und Partys vorbeigekommen sein.", sagte er.
Verärgert schnaubte Professor McGonagall durch die Nase.
„O ja, alle Welt feiert, sehr schön. Man sollte meinen, sie könnten ein bisschen vorsichtiger sein, aber nein… selbst die Muggel haben bemerkt, dass etwas los ist. Sie haben es in ihren Nachrichten gebracht.", sagte sie ungeduldig und mit einem Kopfrucken deutete sie auf das dunkle Wohnzimmerfenster der Dursleys und fuhr fort: „Ich habe es gehört. Ganze Schwärme von Eulen … Sternschnuppen … Nun, ganz dumm sind sie auch wieder nicht. Sie mussten einfach irgendetwas bemerken. Sternschnuppen unten in Kent… ich wette, das war Dädalus Diggel. Der war noch nie besonders vernünftig."
„Sie können ihnen keinen Vorwurf machen", sagte Dumbledore sanft.
„Das weiß ich. Aber das ist kein Grund, den Kopf zu verlieren. Die Leute sind einfach unvorsichtig, wenn sie sich am helllichten Tage draußen auf den Straßen herumtreiben und Gerüchte zum Besten geben. Wenigstens könnten sie Muggelsachen anziehen.", sagte Professor McGonagall gereizt und wandte sich dabei mit scharfem Blick Dumbledore zu, als hoffte sie, er würde ihr etwas mitteilen. Doch er schwieg und sie fuhr fort: „Das wäre eine schöne Bescherung, wenn ausgerechnet in den Tagen, da Du-weißt-schon-wer endlich verschwindet, die Muggel alles über uns herausfinden würden. Ich nehme an, er ist wirklich verschwunden, Dumbledore?"
„Es sieht ganz danach aus… Wir müssen für vieles dankbar sein. Möchten Sie ein Brausebonbon?", sagte Dumbledore.
„Ein was?", fragte sie.
„Ein Zitronenbrausebonbon. Eine Nascherei der Muggel, auf die ich ganz scharf bin.", antwortete er.
„Nein, danke", sagte Professor McGonagall kühl, als sei jetzt nicht der richtige Moment für Zitronenbrausebonbons und fuhr fort: „Wie ich schon sagte, selbst wenn Du-weißt-schon-wer wirklich fort ist…«
„Mein lieber Professor, eine vernünftige Person wie Sie kann ihn doch sicher beim Namen nennen? Der ganze Unsinn mit ›Du-weißt-schon-wer‹… seit zehn Jahren versuche ich die Leute dazu zu bringen, ihn bei seinem richtigen Namen zu nennen: Voldemort.", unterbrach er sie und Professor McGonagall zuckte zurück, doch Dumbledore, der zwei weitere Bonbons aus der Tüte fischte, schien davon keine Notiz zu nehmen und er fuhr fort: „Es verwirrt doch nur, wenn wir dauernd ›Du-weißt-schon-wer‹ sagen. Ich habe nie eingesehen, warum ich Angst davor haben sollte, Voldemorts Namen auszusprechen."
„Das weiß ich wohl. Doch Sie sind anders. Alle wissen, dass Sie der Einzige sind, den Du-weißt… ähm, na gut, Voldemort fürchtete.", sagte Professor McGonagall halb aufgebracht, halb bewundernd.
„Sie schmeicheln mir. Voldemort hatte Kräfte, die ich nie besitzen werde.", sagte Dumbledore leise.
„Nur weil Sie zu… ja… zu nobel sind, um sie einzusetzen.", sagte sie.
„Ein Glück, dass es dunkel ist. So rot bin ich nicht mehr geworden, seit Madam Pomfrey mir gesagt hat, ihr gefielen meine neuen Ohrenschützer.", sagte er.
Professor McGonagall sah Dumbledore scharf an und sagte: „Die Eulen sind nichts gegen die Gerüchte, die umherfliegen. Wissen Sie, was alle sagen? Warum er verschwunden ist? Was ihn endlich aufgehalten hat?"
Offenbar hatte Professor McGonagall den Punkt erreicht, über den sie unbedingt reden wollte, den wirklichen Grund, warum sie den ganzen Tag auf einer kalten, harten Mauer gewartet hatte, denn weder als Katze noch als Frau hatte sie Dumbledore mit einem so durchdringenden Blick festgenagelt wie jetzt. Was auch immer alle sagen mochten, offensichtlich glaubte sie es nicht, bis sie es aus dem Mund von Dumbledore gehört hatte. Der jedoch nahm sich ein weiteres Zitronenbrausebonbon und schwieg.
„Was sie sagen, ist nämlich, dass Voldemort letzte Nacht in Godric's Hollow auftauchte. Er war auf der Suche nach den Potters. Dem Gerücht zufolge sind Lily und James Potter… sie sind… tot.", drängte sie weiter.
Dumbledore senkte langsam den Kopf. Professor McGonagall stockte der Atem.
„Lily und James… Ich kann es nicht glauben… Ich wollte es nicht glauben… Oh, Albus…", sagte sie, da er nichts gesagt hatte.
Dumbledore streckte die Hand aus und klopfte ihr sanft auf die Schultern und sagte belegter Stimme: „Ich weiß… ich weiß…"
Professor McGonagall sagte mit zitternder Stimme: „Das ist nicht alles. Es heißt, er habe versucht, Potters Sohn Harry zu töten. Aber… er konnte es nicht. Er konnte diesen kleinen Jungen nicht töten. Keiner weiß, warum oder wie, aber es heißt, als er Harry Potter nicht töten konnte, fiel Voldemorts Macht in sich zusammen… und deshalb ist er verschwunden."
Dumbledore nickte mit düsterer Miene.
„Ist das… wahr? Nach all dem, was er getan hat… nach all den Menschen, die er umgebracht hat… konnte er einen kleinen Jungen nicht töten? Das ist einfach unglaublich… ausgerechnet das setzt ihm ein Ende… aber wie um Himmels willen konnte Harry das überleben?", stammelte Professor McGonagall.
»Wir können nur mutmaßen. Vielleicht werden wir es nie wissen.«, sagte Dumbledore, wobei er auch hier wie immer nicht alles sagte.
Professor McGonagall zog ein Spitzentaschentuch hervor und betupfte die Augen unter der Brille. Dumbledore zog eine goldene Uhr aus der Tasche und gab ein langes Schniefen von sich. Es war eine sehr merkwürdige Uhr. Sie hatte zwölf Zeiger, aber keine Ziffern. An den Enden der Zeiger, waren kleine Planeten. Dumbledore jedenfalls musste diese Uhr etwas mitteilen, denn er steckte sie zurück in die Tasche und sagte: „Es ist Zeit, dass zu machen, warum ich hier bin. Übrigens nehme ich an, Hagrid hat Ihnen erzählt, dass ich hierherkommen würde?"
„Ja und ich nehme nicht an, dass Sie mir sagen werden, warum Sie ausgerechnet hier sind?", sagte Professor McGonagall.
„Ich bin gekommen, um Harry zu seiner Tante und seinem Onkel zu bringen. Sie sind die Einzigen aus der Familie, die ihm noch geblieben sind.", sagte er.
„Sie meinen doch nicht… Sie können einfach nicht die Leute meinen, die hier wohnen? Dumbledore… das geht nicht. Ich habe sie den ganzen Tag beobachtet. Sie könnten keine zwei Menschen finden, die uns weniger ähneln. Und sie haben ein Mädchen… ich habe gesehen, wie sie ihre Mutter den ganzen Weg die Straße entlang gequält und nach Süßigkeiten geschrien hat. Harry Potter und hier leben?", rief Professor McGonagall.
„Das ist der beste Platz für ihn. Onkel und Tante werden ihm alles erklären können, wenn er älter ist. Ich habe ihnen einen Brief geschrieben.", sagte Dumbledore bestimmt.
„Einen Brief? Wirklich, Dumbledore, glauben Sie, dass Sie all das in einem Brief erklären können? Diese Leute werden ihn nie verstehen! Er wird berühmt werden… eine Legende… es würde mich nicht wundern, wenn der Tag in Zukunft Harry-Potter-Tag heißt… ganze Bücher wird man über Harry schreiben… jedes Kind in unserer Welt wird seinen Namen kennen!", sagte Professor McGonagall mit erlahmender Stimme und setzte sich wieder auf die Mauer.
„Genau. Das würde reichen, um jedem Jungen den Kopf zu verdrehen. Berühmt, bevor er gehen und sprechen kann! Berühmt für etwas, an das er sich nicht einmal erinnern wird! Sehen Sie nicht, wie viel besser es für ihn wäre, wenn er weit weg von alledem aufwächst, bis er bereit ist, es zu begreifen?", sagte Dumbledore und blickte sehr ernst über die Halbmonde seiner Lesebrille.
Professor McGonagall öffnete den Mund, änderte ihre Meinung, schluckte und sagte: „Ja… ja… Sie haben Recht, natürlich. Doch wie kommt der Junge hierher, Dumbledore?« Plötzlich musterte sie seinen Umhang, als dachte sie, er verstecke vielleicht den kleinen Harry darunter.
Plötzlich war Albus Dumbledore bewusst geworden, dass er den Weidenkorb hatte dort liegen lassen, dort wo er erschienen war und lief schnell zurück um den Weidenkorb zu holen.
Professor McGonagall neigte ihren Kopfe über das Leintuchbündel. Darin steckte, gerade eben grade so zu sehen, ein kleiner Junge, fast noch ein Baby, in tiefem Schlaf. Unter einem Büschel rabenschwarzen Haares auf der Stirn konnten sie einen merkwürdigen Schnitt erkennen, der aussah wie ein Blitz.
„Ist es das, wo…?", flüsterte Professor McGonagall.
„Ja. Diese Narbe wird ihm immer bleiben.", sagte Dumbledore.
„Können Sie nicht etwas dagegen tun, Dumbledore?", fragte sie.
„Selbst wenn ich es könnte, ich würde es nicht. Narben können recht nützlich sein. Ich selbst habe eine oberhalb des linken Knies und die ist ein tadelloser Plan der Londoner U-Bahn. Nun denn… wir bringen es besser hinter uns.", sagte er.
Dumbledore wandte sich dem Haus der Dursleys zu und stiegüber die niedrige Gartenmauer. Jetzt hatte er den Vordereingang betreten und lief zur Eingangstür und legte den Weidenkorb dort sanft ab. Dann zog er einen Brief aus dem Umhang, steckte ihn zwischen Harrys Leintücher und kehrte dann zu Professor McGonagall zurück. Eine ganze Minute lang standen die zwei da und sahen auf das kleine Bündel. Professor McGonagall blinzelte heftig, und das funkelnde Licht, das sonst immer aus Dumbledores Augen schien, war wohl erloschen.
„Nun… das war es… Wir haben hier nichts mehr zu suchen. Wir sollten lieber verschwinden und zu den Feiern gehen. Wir werden uns bald wiedersehen vermute ich, Professor McGonagall.", sagte Dumbledore schließlich und nickte ihr zu. Zur Antwort schnäuzte sich Professor McGonagall die Nase.
Dumbledore drehte sich um und entfernte sich die Straße entlang. An der Ecke blieb er stehen und holte den Ausmacher hervor. Er knipste einmal und zwölf Lichtbälle huschten zurück in ihre Straßenlaternen. Mit einem Mal leuchtete der Ligusterweg in Orange, und er konnte eine kleine Tigerkatze sehen, die am anderen Ende der Straße um die Ecke strich. Auf der Türschwelle von Nummer 4 konnte er gerade noch das Bündel aus Leintüchern erkennen.
„Viel Glück, Harry…", murmelte er. Er drehte sich auf dem Absatz um und mit einem Wehen seines Umhangs war er verschwunden.
Eine Brise kräuselte die sorgfältig geschnittenen Hecken des Ligusterwegs, der still und ordentlich dalag unter dem tintenfarbenen Himmel, und nie wäre man auf den Gedanken gekommen, dass hier etwas Unerhörtes geschehen könnte. In seinen Leintüchern drehte sich Harry Potter auf die Seite, ohne aufzuwachen. Seine kleinen Finger klammerten sich an den Brief neben ihm, und er schlief weiter, nicht wissend, dass er etwas Besonderes war, nicht wissend, dass er berühmt war, nicht wissend, dass in ein paar Stunden, bevor Mrs. Dursley die Milchflaschen hinauszustellen, es anfangen würde zu Regnen und der Brief, den Dumbledore geschrieben hatte unlesbar wurde. Nicht wissend, wenn Mrs. Dursley die Haustür öffnen würde, um die Milchflaschen hinauszustellen, ein Schrei ihn wecken würde, und auch nicht wissend, dass ihn seine Vetterin Diana in den nächsten Jahren peinigen und piesacken würde… Er konnte nicht wissen, dass in ebendiesem Moment überall im Land geheime Versammlungen stattfanden, Gläser erhoben wurden und gedämpfte Stimmen sagten: „Auf Harry Potter… den Jungen, der lebt!"
Albus Dumbledores, würde erst zu spät erfahren wie groß, der Fehler war den er Heute gemacht hatte.
