Er traut Loki nicht.

Das sollte niemand, umso mehr verwunderte es ihn einst, dass die Einwohner Asgarðrs es tun.

Heute jedoch wundert es ihn nicht mehr.

Loki ist verführerisch, ein gutaussehender und redegewandter Charmeur mit süßer Stimme und hinreißendem Lächeln.

Seine Lügen sind schön, so schön, dass es den meisten Leuten schwerfällt, aus seinem Mund die Wahrheit zu glauben.

Nicht, dass Loki oft die Wahrheit sagt. Entweder er lügt, oder er vorenthält was er weiß und schweigt.

Heimdallr findet es komisch. Er kann nicht anders.

Es ist komisch, wie Laufeyjarsón sich mit seinem Temperament und Leichtsinn und seiner großen Klappe in Gefahr bringt und doch bestimmte Sachen für sich behält. Er handelt sich Ärger ein, wenn er jeden schlechtredet und beleidigt, und doch gibt es Dinge die er nie sagen würde, selbst wenn er sturzbetrunken ist.

Heimdallr sieht und hört alles.

Er weiß, was der Feuerriese wirklich getan hat, kennt die bösen Intrigen, die in dessen rothaarigem Kopf vorgehen, die Trauer und den Schmerz, die Lokis bitteren Hass schüren.

Auch Óðinn weiß das meiste davon und was er nicht weiß, weiß Heimdallr.

Deshalb vertraut Heimdallr Loki nicht.

Aber … auf eine unerfindliche Weise tut er es doch.

Er vertraut darauf, dem Anderen nicht zu trauen.

Er vertraut auf ihre gegenseitige Feindschaft, die dazu führen wird, dass sie sich am Ragnarök gegenseitig töten.

Er vertraut auf Lokis Verschwiegenheit über bestimmte Sachen.

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Loki geht es ebenso.

Er misstraut dem Wächter des Bifröst, seinem Gegenspieler, seinem Erzfeind.

Er hasst Heimdallr.

Verachtet ihn mit einer Leidenschaft, die heißer brennt als Múspellsheimr, sein Geburtsort.

Der Sohn von neun Müttern kennt ihn, er versteht ihn.

Er ist zuverlässig, anders als Loki, dabei ist er ebenso unberechenbar.

Ihre Unberechenbarkeit ist etwas, was sie gemeinsam haben.

Das und andere Dinge; Dinge, die keiner von beiden je anspricht.

Loki ist listig, aber er gibt freimütig zu, dass er nicht weise ist.

Nicht zugeben wird er hingegen, dass er Heimdallrs Weisheit anerkennt, sogar beneidet.

Nie wird er aussprechen, wie viel er über den anderen weiß.

Muss er aber auch nicht; Heimdallr weiß alles.

Er weiß von den Untaten, die Loki ohne die geringste Reue begangen hat.

Er kennt die Wahrheit hinter Lokis geschickt gewobenen Lügen.

Er weiß, was Loki niemals sagen wird.

Das ist der Grund, weshalb Loki ihn hasst.

Weshalb er ihm nicht vertraut.

Und es auf seine eigene verdrehte Art doch tut.

Denn Heimdallr weiß alles und und sagt nichts.

Des Wächters Verschwiegenheit ist das Einzige, worauf Loki bei Heimdallr vertraut.

Er vertraut auf Heimdallrs verständnisvolle Natur, so sehr er sie auch verachtet.

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Es kommt selten vor, dass Loki ihm wirklich Gesellschaft leistet, außer bei Versammlungen und Festen. Trotzdem sitzt er gerade neben ihm, merkwürdig still.

Nicht, dass es Heimdallr stört – es ist Nacht und er hat die dunkle, stille Nacht stets dem lauten, grellen Tag vorgezogen.

Keiner der beiden spricht für eine Weile.

Es ist Heimdallr, der das Schweigen bricht: „Du hast schon seit drei Stunden nichts gesagt, Laufeyjarsón. Muss ich mir Sorgen machen?"

Loki hebt eine Augenbraue. „Du machst dir doch immer Sorgen, Wächter des Bifröst. Außerdem hast du bisher auch kein Wort gesagt."

Heimdallr zuckt die Schultern: „Ich rede nur, wenn es wirklich nötig ist. Das weißt du, Loki."

Der Andere spielt mit seinem dicken, feuerroten Zopf.

Der Wächter findet es seltsam, dass Loki, ein Gestaltwandler, der aussehen kann wie er will, eine klischeehafte Erscheinung wie rotes Haar, Sommersprossen und grüne Augen als seine alltägliche Gestalt wählt. Wenigstens hat er keinen Ziegenbart; Loki mag es nicht, einen Bart zu haben. Die Vorstellung, dass eine androgyne Person wie Loki einen trägt, lässt Heimdallr schmunzeln.

Endlich hört Loki auf mit seinem Haar zu spielen und schaut ihn an.

„Ja … ich weiß", sagt er und Heimdallr ist klar, dass dieser seine Bemerkung von vorhin meint.

Die grünen Augen des Feuerriesen mustern den Wächter, wie so oft.

Heimdallr ist der weißeste der Götter, noch mehr als Baldr (Baldr, der tot ist, der nun bei Lokis Tochter weilt, der nie wiederkehren wird). Baldr hatte rosige Wangen, Heimdallrs sind gespenstisch fahl, wie Meerschaum. Heimdallrs Haar ist so weiß, dass es fast bläulich wirkt, besonders jetzt im Mondlicht. Das Einzige an ihm, was nicht weiß ist, sind seine vielfarbigen Iriden (und die goldenen Zähne, die der Rotschopf eher irre findet).

Loki gefällt nicht, wie geisterhaft Heimdallr aussieht. Jahrtausend um Jahrtausend sitzt er hier und bewacht die Regenbogenbrücke und Asgarðr, trotzdem hat der Enkel von Ægir und Rán kein bisschen Farbe bekommen, auch die Witterung hat an ihm keine Spuren hinterlassen.

Loki würde ihm sagen, wie sehr es ihn stört, aber es ist unnötig.

Andererseits weiß er, dass Heimdallr wiederum sein Farbschema komisch findet. Der Wächter muss es nicht sagen. Und selbst wenn er es täte, würde Loki nur kontern, dass seine schrille Verkleidung zu seiner Natur passt.

Eine Windböe weht um den Wachturm und Heimdallr zieht seinen Pelzumhang fester.

Es ist ein harscher, tiefer, endloser Winter, denn Baldr ist tot und der Frühling wird nicht wiederkehren, solange diese alte Welt noch ist. Und ihm fehlt die Schönheit früherer, normaler Winter, die seltsame Wärme und der Frieden, welche die innere Ruhe des blinden Gottes Höðr widerspiegelten (doch er ist fort, genau wie sein Zwilling Baldr, und mit ihm die Schönheit der Jahreszeit).

Trotz seines dicken Pelzumhangs fröstelt Heimdallr.

Loki bemerkt es und ergreift spontan die Hände des Anderen – eine selten freundliche Geste gegenüber seinem Erzfeind.

Heimdallr bedankt sich nicht, muss er auch nicht, denn Loki sieht die Dankbarkeit in diesen allsehenden regenbogenfarbenen Augen.

Heimdallr ist ein Sohn des Meeres. Ihm ist selten kalt, andererseits ist ihm aber auch nie warm. Sein Körper ist einfach kühl, wie die Nordsee und der Atlantik. Die vom Feuerriesen ausgehende Hitze zu spüren, ist ein fremdartiges Gefühl, wobei es nicht zwingend unangenehm ist.

Loki friert niemals, er ist ja wie alle seiner Art aus den alles verschlingenden Flammen Múspellsheimrs geboren. Auch wenn er seine wahre Gestalt verbergen kann, sein Körper ist immer brennend heiß. Manchmal fühlt es sich an, als würde das Feuer ihn von innen verzehren. Die klirrende Kälte des Winters spürt er nicht. Umso mehr wundert es ihn, dass er die Kühle der Hände des Wächters fühlt, als er sie ergreift, um sie zu wärmen.

„Deine Hände sind kalt", bemerkt er.

„Und deine brennen", erwidert Heimdallr. „Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich glauben, dass du versuchst, meine Finger zu schmelzen."

Loki lacht leise: „Aber du weißt es besser, nicht wahr, Wächter."

Es ist keine Frage.

Was der rothaarige Trickster dann sagt, verblüfft Heimdallr: „Mir gefällt, dass deine Hände so kalt sind."

Der Wächter der Bifröst lächelt, was wiederum Loki erstaunt; nie zuvor hat er Heimdallr lächeln gesehen.

Beide verfallen wieder in Schweigen und genießen jeweils die Temperatur des Anderen.

Ein Außenstehender, der sie so sähe, würde nie ahnen, dass die beiden Todfeinde und dazu bestimmt sind, einander zu töten.

In Augenblicken wie diesem würde niemand erraten, dass Loki und Heimdallr Gegenspieler sind, die einander hassen.

Ihre Feindschaft ist legendär und unerklärlich; unbegreiflich selbst für Óðinn.

Der Allvater weiß, dass die beiden hier sitzen und einander Gesellschaft leisten, natürlich weiß er das, aber er wird nie wissen, warum.

Denn Loki und Heimdallr verabscheuen einander und es macht keinen Sinn, dass die beiden hier in einer Winternacht zusammen sitzen, als wären sie Freunde. Der Feuerriese und der Sohn des Meeres sind in vieler Hinsicht gegensätzlich. Sie haben fast gar nichts gemeinsam.

Bis auf ein paar Dinge, die ihnen – alle Jubeljahre einmal – erlauben, Zeit miteinander zu verbringen, ohne einander töten zu wollen.

Natürlich vergehen diese Momente schnell und sobald die Sonne aufgeht, wird diese Nacht vergessen sein.

Das Schweigen währt noch eine Weile, bis es gebrochen wird, diesmal von Loki: „Ich muss bald weg. Wenn Sigyn aufwacht und mich nicht findet, rastet sie aus."

Heimdallr unterdrückt ein Grinsen. „Und doch hast du es nicht eilig."

„Die letzten Tage waren hart für sie", teilt Loki ihm mit.

„Und wessen Schuld ist das?"

Loki schnaubt, fährt aber fort: „Egal. Sie schläft heute aus."

Nun grinst Heimdallr doch, als er sich daran erinnert, wie der Trickster und sein Feuerkopf von Ehefrau am Vorabend gestritten haben. Sigyn gehorcht ihrem Ehemann fast nie wirklich, zu Lokis Frustration und Heimdallrs Belustigung. Wenn es um ihr Wohlsein geht, muss Loki streng sein, was ihm wider die Natur geht. Doch am Vorabend hat Sigyn schneller nachgegeben, wohl aus Erschöpfung.

„Sicher bist du auch müde", spricht Heimdallr. „Du hast die ganze Nacht bei mir gesessen."

Der Feuerriese zuckt die Schultern. „Nicht meine erste Nachtschicht."

„Weiß ich."

Loki ist ein Energiebündel und braucht kaum Schlaf.

Heimdallr auch nicht, was gut ist, denn der Feind schläft ja nicht. Oft fragt sich der Wächter, wie vielen der Asen klar ist, dass er bereits in den Mauern von Asgarðr ist. Vielleicht wirklich nur Óðinn und ihm, obwohl der weiße Gott argwöhnt, dass auch Frigg und Sigyn es wissen.

„Sie wissen es", bestätigt Loki seine unausgesprochene Ahnung. „Unsere Frauen wissen es beide."

Anderen würde es merkwürdig erscheinen, wenn der Lügenschmied zugibt, kein Freund der Götter zu sein.

Aber den Wächter der Regenbogenbrücke täuschen zu wollen ist sinnlos.

Also schwindelt Loki ihn nicht an, wenn die beiden unter sich sind.

Er belügt Óðinn, wohl wissend, dass der Allvater ihn durchschaut, aber niemals Heimdallr. Ein seltener Ausdruck von Vernunft von der unvernünftigsten Person in Asgarðr.

„Apropos Müdigkeit", fängt Loki wieder an, „Ich weiß, du braucht körperlich kaum Schlaf, aber fühlst du dich nicht ab und zu … abgekämpft? Fertig mit allem? Hast du den ganzen Mist nicht satt?"

Deinen Mist immer."

Als Antwort erhält er ein Kichern, fährt aber fort: „Aber alles Andere … nein. Nicht wirklich."

Loki grinst, nicht ganz ein höhnisches Grinsen, aber genauso hässlich, und seine vernarbten Lippen machen es nur noch schlimmer.

„Wer ist jetzt der Lügner?"

„…"

„Du bist ein Heuchler."

„Und du ein zügelloses Arschloch."

Lokis Grinsen wird breiter. „Das bin ich wohl."

Doch er hält weiterhin Heimdallrs Hand; seine Art dem Anderen mitzuteilen, dass er nicht gekränkt ist.

Er spürt einen sanften Druck der anderen, größeren Hand, was ihn erst aufschreckt. Dann aber lacht er leise und versteht die Geste als das, was sie ist: ein Zeichen, dass der Wächter ihn nicht beleidigen wollte.

Loki weiß eh, dass die Seitenhiebe nicht ernst gemeint waren; wenn er und Heimdallr ernsthaft streiten, greifen sie nicht auf kleinliche Beleidigungen zurück (außer Loki ist betrunken; dann tendiert er dazu, jeden zu beleidigen).

Plötzlich bemerkt er die düstere Miene des Wächters und ist einmal mehr erschrocken. Es ist nicht der gewohnte ernste Gesichtsausdruck, der allen so vertraut ist. Es ist der nicht ganz traurige, nicht ganz neutrale Ausdruck, welcher Lebensmüdigkeit verbirgt. Schwermut; das ist das Wort.

Und Heimdallr lässt Loki es sehen, dieses stillschweigende Eingeständnis, dass er in der Tat erschöpft ist.

Der Listige Gott weiß nicht warum, aber irgendwie passt es überhaupt nicht zum Weißen Gott. Seltsam, eigentlich sollte er sich über die innere Müdigkeit seines Erzfeindes freuen. Stattdessen beschließt er, dass sie ihm nicht gefällt.

Und das lässt er den Anderen wissen.

Heimdallr scheint aufgescheucht durch den leichten Händedruck, den er von Lokis brütend heißer Hand erhält. Aber er entspannt sich schnell und sein Gesicht hellt sich ein bisschen auf, auch wenn er nicht lächelt.

Plötzlich hat Loki eine Idee und grinst wieder.

Heimdallrs Augen verengen sich. „Was heckst du jetzt schon wieder aus, Laufeyjarsón?"

Der Trickster kichert: „Zur Abwechslung nichts! Ich dachte nur gerade an was Lustiges."

Der Wächter beschließt, mitzuspielen. „Oh? Und was wäre das?"

„Weißt du noch, wie wir dieses eine Mal Þórr als Braut verkleidet haben, um Mjöllnir zurück zu kriegen?"

Heimdallr schmunzelt: „Oh ja. Er war wahrlich eine schöne Braut."

„Ich werde nie darüber hinweg kommen, dass es deine Idee war und nicht meine!" Loki hört auf zu kichern und grinst. „Wobei es deine Schuld war, dass der Hammer überhaupt geklaut wurde."

Die Erinnerung an sein eigenes Versagen macht das Blut des Wächters kälter als es schon ist.

„Aber erheitere dich", spricht Loki weiter, „Wie du sagtest, er war eine schöne Braut – bis er Þrymr und seinen gesamten Hofstaat umgebracht hat, natürlich. Eine schöne Braut mit einer noch schöneren Brautjungfer. Findest du nicht?"

Heimdallr hat keine Lust, dem Ego des Anderen zu schmeicheln.

Aber Loki kennt die Antwort schon und kichert, wie der eingebildete Mistkerl, der er ist.

Allerdings hat er keine Lust, es einzureiben.

Stattdessen konzentriert er sich wieder auf die Hände, die er mit den seinen wärmt. Heimdallrs Hände sind viel größer und schwieliger als seine. Und obwohl sie bereits viel von seiner Wärme absorbiert haben, sind sie immer noch kalt genug, dass Loki es fühlt, wie kaltes Wasser an einem brütend heißen Sommertag. Jetzt wo Loki darüber nachdenkt, der letzte Sommer liegt schon eine Weile zurück. Doch wie könnte er je den Grund dafür bereuen?

Heimdallr erkennt an Lokis Blick, dass dieser an die Zwillinge denkt. Er kommentiert es nicht, erwähnt nicht, dass alles Lokis Schuld ist; nicht nötig, das Offensichtliche auszusprechen.

Stattdessen liest er weiter die Mimik des Tricksters. Der denkt nun an seine älteren Kinder, an Fenrir, Jörmungandr und Hel, seine monströse Brut, die weit, weit weg sind, weil sie schrecklich und gefährlich sind und alle Æsir sie außer Reichweite haben wollen.

Für einen Augenblick lässt Loki Heimdallrs linke Hand los und lässt seine eigene zu seinem Hals gleiten (reflexartig, wie immer wenn Loki an seine Brut denkt).

Der Trickster bemerkt den beobachtenden Blick des Wächters, grinst, öffnet seinen Umhang und offenbart eine Halskette. Sie besteht aus einer Locke von Hels gelbem und schwarzem Haar, einem Zahn Fenrirs und einer Schuppe Jörmungandrs, alle in Gold gefasst. Sigyn schenkte sie einst ihrem Mann, aber vielleicht – nur vielleicht – hat auch Heimdallr seinen Anteil an ihrer Schöpfung.

Loki hat keinem von beiden je gedankt, jedenfalls nicht laut. Braucht er auch nicht. Sie wissen es, weil ihnen klar ist, dass ihm diese Kette alle neun Welten wert ist, wie Baldr einst den Æsir.

Heimdallr sagt nichts, während er zuschaut, wie die langen, spinnenartigen Finger des Anderen das Schmuckstück streicheln.

Aber er blinzelt überrascht, als Lokis rechte Hand wieder zu seiner eigenen linken zurückkehrt.

„Deine Hände sind immer noch kalt", sagt der Kleinere.

Sind sie, wenn auch nicht mehr so eisig, wie sie waren, bevor der Feuerriese beschloss sie zu wärmen.

„Und deine sind immer noch heiß."

„Alles ist heiß, wo ich herkomme."

„Ich weiß."

„Glaub es oder nicht, mir ist noch nie kalt gewesen. Selbst jetzt … ich fühle den Wind, aber nicht wie kalt er ist. Ich weiß, er ist es, aber … na ja, du verstehst schon."

Loki zögert, bevor er weiterspricht: „Aber jetzt, da ich deine Hände halte, fühle ich wirklich, wie kühl sie sind."

Loki muss nicht sagen, dass er es hasst und liebt, weil es ihn an eine bestimmte geliebte Person erinnert. Er muss dem Wächter nicht sagen, dass es bei Angrboða ähnlich war (obwohl sie als Reifriesin wohl viel kälter war).

„Warum erzähle ich dir das eigentlich?", fragt Loki mit einem bitteren Seufzer.

Beide wissen die Antwort.

Der Wächter hat nie geliebt, aber er ist von Natur aus einfühlsam und verständnisvoll.

Sie hassen einander, trotzdem wird Heimdallr zuhören, wenn der Gestaltwandler sein Herz ausschütten will, und danach nie wieder darüber sprechen.

Heimdallr schüttet nie sein Herz aus, da gibt es nichts zu sagen. Am nächsten kommt er dem, indem er Loki sehen lässt. Ihn zwischen den Zeilen lesen und sein Schweigen entziffern lässt. Und Loki könnte es ausnutzen, ihm diese Momente der Schwäche entgegen halten. Aber er sagt nie etwas dazu; er höhnt und provoziert, aber diese Augenblicke erwähnt er nie.

Es ist nicht nötig. Sie werden sich am Ende der Tage eh gegenseitig töten, warum also belanglosen Augenblicken nachhängen?

Nach gefühlt einer Stunde spricht der Wächter wieder: „Das wird das letzte Mal sein, dass wir hier zusammen sitzen."

„Ich weiß."

Heimdallr fragt nicht, warum Loki weint oder weiterhin seine Hände hält, anstatt sich das Gesicht zu trocknen. Er gibt nur diesen brennend heißen Händen einen tröstenden Druck.

„Da das hier das letzte Mal ist-", spricht der Trickster mit rauer Stimme, „-muss ich fragen: warum redest du nie darüber?"

„Weil du es nicht tust."

Beide verstehen, was der Andere meint.

Der Trickster weint und lacht bitter, weil er dem Schicksal grollt, weil er müde, traurig, wütend und verletzt ist, dass alles so gekommen ist, und weil er sich niemandem anvertrauen kann als seiner Frau und seinem Erzfeind.

„Ich hasse dich, Heimdallr. Ich verabscheue dich mit glühender Leidenschaft. Ich kann es kaum erwarten, dich an Ragnarök zu töten. Ich hasse, wie du manche meiner Pläne vereitelst, während du über andere schweigst. Ich hasse deine ekelhafte Güte und dein Mitgefühl. Ich hasse wie übertrieben ehrenhaft und aufrichtig du bist. Ich hasse, dass du mir zuhörst und meine Maskerade durchschaust. Ich hasse, wie leicht meine Maske fällt, wenn wir allein sind. Ich hasse, dass du mich kennst. Ich hasse dich."

Heimdallr grinst unwillkürlich.

„Und ich hasse dich, Loki. Ich verabscheue dich mit jeder Faser meines Seins. Deine schreckliche Existenz zu beenden, wird mir ein Vergnügen sein. Ich hasse deine brennende Berührung und dein schrilles rotes Haar und wie du dich an meinem Unbehagen weidest und doch meine Geheimnisse für dich behältst. Ich hasse deine Bosheit und deine lügende, böse Zunge. Ich hasse deine Gedankenspiele und dass du, mein Erzfeind, derjenige bist, der versteht, was ich nicht sage. Ich hasse, wie du mich liest, als wäre ich ein offenes Buch. Ich hasse dich."

Loki kichert.

Dann lässt er endlich die Hände des Wächters los, um sein Gesicht zu trocknen. Er fühlt sich jetzt besser und seine Art sich zu bedanken, ist zu fragen: „Ist dir immer noch kalt?"

Heimdallr schüttelt lächelnd den Kopf.

Der Feuerriese kann nicht anders, als zurück zu lächeln.

„Ich muss jetzt gehen", sagt er mit dem Mund, als er aufsteht. Danke für diese ruhigen Stunden, sagt er mit den Augen.

„In der Tat, das wäre das Beste", sagt Heimdallr laut. Danke für die Gesellschaft, sagt er still.

Loki nickt und grinst, dann springt er vom Wachturm und kehrt zurück in sein Haus innerhalb der Mauern von Asgarðr.

Heimdallr ist wieder allein.

Nichts als die Geräusche der neun Welten, fast übertönt vom Heulen des eisigen Windes.

Doch es stört ihn nicht so wie vorher.

Er rückt über die Bank auf die Stelle, die sein Feind gerade erst verlassen hat, und das Holz ist immer noch sehr warm. Nicht nur das: der Wächter fühlt die währende Hitze seines Erzfeindes bis ins Mark. Es ist ein fremdes aber gutes Gefühl. Es ist seltsam tröstlich auf eine Weise, die gar nicht zu Loki Laufeyjarsón passt. Es erwärmt den Grund seiner Seele und er fühlt sich weniger einsam.

Ironisch, dass Loki, der oft sehr kaltherzig ist und mit Vergnügen Ärger und Streit sät, seinem größten Feind eine Wärme gegeben hat, die dieser nie gekannt hat.

Heimdallr lacht über die Ironie und zieht seinen Fellumhang enger, um diese wertvolle Wärme so lange wie möglich zu behalten.

Er hasst Loki.

Er traut ihm nicht.

Aber auf eine undefinierbare Weise tut er es doch.

Eine wahrlich seltsame Feindschaft ist es, die die beiden haben.

Fast Freundschaft, doch sie trauen einander nicht, sie wollen einander töten.

Sie verstehen einander.

Sie trauen einander nicht und tun es doch auf eine verdrehte Art.

Es liegt eine gewisse Freiheit darin, dem Feind zu vertrauen.


"Kenne dich selbst und kenne deinen Feind."