Es war schon spät. Eigentlich hatte Garak nicht geplant heute so lange zu arbeiten und sich stattdessen auf das eine oder andere Glas Kanar und gute Lektüre gefreut. Doktor Bashir hatte ihm einen Kriminalroman von einem Gewissen Arthur Conan Doyle empfohlen. Doch der Saum dieses widerspenstigen Kleides beanspruchte deutlich mehr Zeit als vorhergesehen und seine Laune verdüsterte sich von Minute zu Minute.
Und dazu dieser Lärm. In den letzten Wochen war aus Jessica Gunnarsson's Geschäft nicht viel zu hören gewesen. Er war ihr auch nur selten begegnet, bei der morgendlichen Geschäftsöffnung oder abends, wenn beide zufällig zur gleichen Zeit die Türen verschlossen. Sie grüßte jedes Mal freundlich, gab Garak jedoch nie die Gelegenheit, ein Gespräch zu eröffnen. Er bedauerte dies sehr. Die Thematik und die Geschichte der Körper-Modifikation interessierte ihn und er hatte dem Computer viele sehr aufschlussreiche Informationen über den kulturellen Hintergrund dieser Praktiken entnehmen können.
Jessica ließ jedoch klar erkennen, dass sie nicht an einem Gespräch interessiert war und Garak respektierte das. Er wollte sich unter keinen Umständen aufdrängen.
Doch seit zwei Stunden erfüllte eine Kakofonie aus elektronischem Kreischen sein Geschäft und dumpfe Bässe ließen die Glasböden in seinen Regalen zittern.
„Jetzt reicht es." Garak gab sich noch Mühe, das teure Kleid vorsichtig abzulegen, dann verließ er seinen Laden und klopfte an die Tür seiner Nachbarin. Das „Geschlossen"-Schild hing bereits am Fenster. Er klopfte weiter und er tat es mit sehr viel Nachdruck, um die Musik zu übertönen. Schließlich ergriff er die Klinke und öffnete die Tür.
„Jessica, Jessica! Ist es wohl Möglich, dass sie die … Musik etwas leiser machen? Jessica?" Garak betrat den Laden. Es war niemand zu sehen. Der Krach war unbeschreiblich. Wie konnte so was als Musik bezeichnet werden? Er durchquerte das Geschäft langsam, er wollte die Frau nicht erschrecken, da ihre Abneigung ihm gegenüber unübersehbar war.
Hinter der kleinen Theke befand sich die Quelle des Lärms. Zum Wohle seiner Ohren beschloss der Mann, die Lautstärke von sich aus zu verringern, griff schnell nach dem Gerät und wischte über den Touchscreen. Die folgende Stille war eine Erleichterung.
Der Cardassianer umrundete den Raumteiler vorsichtig und schrak vor dem Bild zurück, dass sich ihm dahinter bot. Jessica saß auf einem Hocker mit Rollen und war über der Liege zusammengebrochen. In der rechten Hand hielt sie den Griff eines medizinischen Skalpells, ihr linker Arm blutete stark und ihr Gesicht lag in der sich bildenden Lache.
Garak sprang vor, ergriff ein Tuch von dem kleinen Tischchen neben der Liege und umwickelte den Arm. Er nahm das Skalpell an sich und richtete die Frau auf. Er tätschelte ihr blasses, blutverschmiertes Gesicht, zuerst sehr vorsichtig, dann fester. Endlich flatterten ihre Augenlider.
„Jessica, wachen sie auf. Ich werde den Doktor rufen." Um die Com zu erreichen, musste der Cardassianer die Frau loslassen, dann aber, befürchtete er, würde sie vom Hocker rutschen. Er wollte sie nicht in ihr eigenes Blut zurücklegen, deshalb hob er sie vorsichtig an, stieß den Hocker mit einem energischen Tritt zur Seite und setzte Jessica auf dem Boden ab. „Einen Moment, es kommt gleich Hilfe." Garak wandte sich der Com zu, aber sie ergriff sein Handgelenk.
„Keinen Arzt", sagte sie mit dünner Stimme. Garak beschloss, das zu ignorieren, aber anders als ihre Stimme, war der Griff der Verletzten ausgesprochen kräftig. „Ich will keinen Arzt", wiederholte sie ihren Wunsch.
„In der unteren Schublade ist ein Hautregenerator, geben Sie mir den, Bitte." Sie ließ sein Handgelenk los und wies auf die Kommode an der Rückwand des Raumes.
Ein missmutiges Schnaufen entfuhr dem Cardassianer, dann suchte er in der Kommode nach dem medizinischen Gerät. Er schaltete es ein, ergriff das Handgelenk des verletzten Armes und bewegte den Regenerator langsam über den immer noch blutenden Schnitten. Jessica versuchte, ihm ihr Handgelenk und das Gerät zu entwinden, doch dieses Mal setzte Garak sich durch.
„Nun halten sie schon still." Seine Stimme klang gereizt.
„Ich weiß ja, dass sie Cardassianer nicht leiden können, oder mich im Speziellen, aber ich helfe ihnen in diesem Augenblick. Und wenn sie nicht möchten, dass ich doch noch Doktor Bashir informiere, lassen sie sich von mir helfen."
Sie ließ sich an die Wand zurücksacken.
„Fuck!", spie sie aus, und der Fluch wurde von einer Wolke aus Alkohol zu ihm getragen.
Die Schnitte schlossen sich zügig. Garak griff sich ein sauberes Tuch und wischte das restliche Blut weg. Ihm entgingen dabei nicht die vielen haarfeinen, silbrig glänzenden Narben auf ihrem gesamten Unterarm. Jessica sah seinen Blick und entzog ihm ihren Arm.
„Danke für Ihre Hilfe, sie können jetzt gehen, ich komme klar." Sagte sie, ohne ihn anzublicken.
„Und ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie diesen Vorfall für sich behalten würden."
Garak nickte, mehr zu sich selbst.
„Natürlich, sie können sich darauf verlassen." versprach er. Er wandte sich zum Gehen, hielt dann inne und ergänzte:
„Aber da ich nun Bescheid weiß, falls sie reden möchten …" die Frau fuhr herum und schrie ihn mit wütend funkelnden Augen an:
„Verschwinden Sie, gehen Sie endlich, Cardassianer. Verschwinden Sie!". Sie sackte erschöpft in sich zusammen. Garak sah noch einen Moment auf sie herab und überlegte, ob er nicht doch dem Doktor informieren sollte, beschloss dann aber, ihren Wunsch zu respektieren.
„Sie sollten Ihre Gesicht waschen, wenn Sie nicht auffallen möchten." Riet er ihr noch, dann verließ den Laden und ging langsam zu seinem Quartier. Es blieb heute bei Kanar, für das Buch konnte er keine Konzentration aufbringen. Seine Gedanken wanderten wieder und wieder zu Jessica und den vielen alten Narben zurück.
Doktor Bashir hatte mit dem Kriminalroman zwar nicht Garaks Geschmack getroffen, was gute Literatur anging, die ganze Geschichte war vorhersehbar und ohne überraschende Wendung, aber trotz allem musste der Cardassianer dem Buch eine gewisse Kurzweiligtkeit einräumen.
Dazu gönnt er sich ein Glas von dem guten Kanar und aß Datteln im Speckmantel, eine Leckerei, die ihm ebenfalls vom Doktor empfohlen wurde. Eine gelungene Mischung aus süßer Frucht und salzigem Fleisch, die seinen angenehm Gaumen kitzelte.
Garak fröstelte ein wenig. Er ging zur Umweltkontrolle neben der Tür und wählte eine etwas höhere Temperatur. Er versuchte, sich den neuen Gegebenheiten auf der Station anzupassen und hatte den Wärmegrad für sein Quartier deshalb deutlich niedriger eingestellt, als Cardassianer es liebten. Doch heute benötigte er mehr Wärme
Er beobachtete noch, wie die Anzeige auf eine höhere Temperatur umsprang, als das elektrische Signal der Tür einen Gast ankündigte. Er betätigte den Türöffner manuell und stand zu seiner Überraschung Jessica gegenüber. Sie hatte wohl nicht damit gerechnet, unmittelbar vor ihm zu stehen und die kleinere Frau zuckte zwei Schritte zurück.
„Jessica!", Garak verbarg sein Erstaunen nicht.
„Ich muss gestehen, mit Ihnen habe ich nicht gerechnet." Sie trat von einem Fuß auf den anderen und rang sichtlich um Worte.
„Herr Garak, ich bin gekommen, um mich zu entschuldigen." Es war nicht zu übersehen, dass ihr dieser Satz schwerfiel, aber sie blickte ihm dabei fest in die Augen.
„Garak, einfach nur Garak, meine Liebe", sagte er.
„Möchten Sie hereinkommen?", er trat zur Seite und machte mit der Linken eine einladende Geste. Jessica zögerte, nickte dann und kam der Einladung nach. Die Tür schloss sich zischend und der Schneider bemerkte das leichte Zucken und die Anspannung ihrer Schultern.
„Bitte, setzen sie sich. Darf ich ihnen ein Getränk aus dem Replikator anbieten? Oder ein Glas Kanar, ich habe einen exzellenten Jahrgang hier."
„Kanar bitte", sagte Jessica leise.
„Paradoxerweise mag ich das Zeug." Garak neigte seinen Kopf ein wenig und wartete auf eine Erklärung für diesen Kommentar, doch sie schwieg und er besorgte ein weiteres Glas und schenkte der Frau Kanar ein, reichlich Kanar.
Sie ergriff das Glas, warf ihm ein unsicheres Lächeln zu und nahm einen großen Schluck des sirupartigen Alkohols. Der Cardassianer wartete geduldig. Sie war zu ihm gekommen, irgendwann würde sie sich erklären.
Sie nahm einen weiteren Schluck, stellte das Glas ab, und blickte auf ihre Hände, die sie auf ihren Knien faltete.
„Wie ich bereits sagte, ich möchte mich entschuldigen. Sie waren ausgesprochen hilfsbereit und haben meinen Wunsch respektiert, nicht den Arzt zu rufen. Dafür möchte ich mich bedanken, das ist mir sehr wichtig." Sie sah ihn jetzt von der Seite an, unsicher glitt ihr Blick immer wieder weg.
„Ich möchte sicherstellen, dass diese Geschichte dauerhaft unter uns bleibt. Kann ich mich auf ihre Diskretion verlassen, Garak?"
Garak fiel auf, dass ihre Augen so viel älter wirkten, als ihr Gesicht. Er hatte sie für eine Frau von etwa 30 Jahren gehalten, aber diese Augen erzählten ihm etwas anderes.
„Natürlich können sie das, meine Liebe. Erzählen Sie mir, was vorgefallen ist? Ich meine, ich möchte Ihnen nicht zu nahe treten und ich möchte auch nicht urteilen, es interessiert mich wirklich. Ich konnte die älteren Narben nicht übersehen und ich frage mich, was eine junge und attraktive Frau wie sie dazu bringt, sich das anzutun."
Jessica versteifte sich wieder, ihre Hände krampften sich umeinander und ihr Kiefer spannte sich an. Sie schüttelte den Kopf und stand auf.
„Es tut mir leid, ich kann nicht." Sie ging Richtung Tür an Garak vorbei. Er erhob sich, um die Frau zur Tür zu geleiten, doch sie drehte sich erschrocken von ihm weg, hob ihre Hände schützend vor ihren Kopf und gab ein entsetztes „Nein!" von sich.
Der Cardassianer hob beschwichtigend die Hände und entfernte sich ein Stück von ihr.
„Entschuldigen Sie, meine Liebe, habe ich etwas Falsches gemacht?0" Er war verwirrt und bestürzt. Diese Reaktion hatte er, trotz seiner Geschichte, noch bei keiner Frau ausgelöst, und wollte das auch nicht.
Sie stand da, die Arme weiter erhoben, zitternd. Sie flüsterte etwas, aber Garak vernahm nur ein leises zischeln. Er trat vorsichtig an ihre Seite.
„Es ist vorbei. Es ist vorbei." Sie wiederholte diese drei Worte immer wieder. „Jessica, wollen sie sich wieder setzen? Ich kann sehen, dass es ihnen nicht gut geht. Kann ich ihnen irgendwie helfen?"
Ruckartig nahm sie ihre Arme runter, presste sie an ihre Seite, als wollte sie die Arme daran hindern, wieder in die Höhe zu schnellen. Sie schüttelte den Kopf.
„Sie können nichts dafür, mir ist nicht zu helfen. Ich hätte nicht herkommen sollen." Garak war unschlüssig, was er machen sollte. Schließlich entschied er sich für eine Konfrontation.
„Ich möchte, dass Sie sich wieder setzen." Sagte er leise, ergriff ihre Schultern und schob sie vorsichtig rückwärts zum Sofa. Er füllte ihr Glas auf und drückte es der Frau in die Hand.
„Trinken Sie. Und dann erzählen Sie. Wenn sich jemand vor mir fürchtet, dann weiß ich auch gerne, wie ich das erreicht habe."
Mit zitternden Händen führte Jessica das Glas an ihre Lippen. Sie nahm einen kleinen Schluck, dann noch einen. Immer wieder schüttelte sie kurz ihren Kopf, als wenn sie einen inneren Dialog ausfocht. Garak drängte sie nicht, aber seine Anspannung stieg stetig.
„Ich bin hierhergekommen, um mich für mein Benehmen zu entschuldigen, als Sie mir geholfen haben. Und jetzt mache ich es noch schlimmer." sagte sie resigniert.
„Sie können nichts dafür, aber Sie sind nun mal Cardassianer, und jedes Mal, wenn ich Sie ansehe, löst das Erinnerungen aus. Erinnerungen, die ich nicht will." Sie leerte ihr Glas.
Garak füllte nach und überdachte seine nächste Frage.
„Sie haben demnach unangenehme Erfahrungen mit Cardassianer gemacht? Ich kann Ihnen versichern, dass nicht alle meines Volkes gleich sind. Wie bei den Menschen gibt es gute und schlechte Individuen, und …"
„Es waren keine unangenehmen Erfahrungen", ihre Stimme war geschliffener Stahl und ihre Augen härter als Diamant. Garak fühlte sich mit einem Mal unwohl.
„Es waren keine unangenehmen Erfahrungen", wiederholte sie schneidend, „es war die Hölle. Sehen Sie mein Gesicht? Sehen Sie genau hin. Das ist nur eine der unangenehmen Erfahrungen mit Cardassianern gewesen." Der letzte Satz war ein Flüstern. Sie ließ sich vom Sofa auf den Fußboden rutschen und vergrub ihr Gesicht in ihren Händen.
Garak war sprachlos. Natürlich gab es eintausend Dinge, die er jetzt hätte sagen können, aber alles davon wäre falsch gewesen. Er ließ sich, mit etwas Abstand, neben ihr auf den Boden rutschen, nahm vorsichtig eine ihrer Hände von ihrem Gesicht, hielt sie fest und rieb mit seinem Daumen über ihren Handrücken.
„Ich würde mich gerne für alles entschuldigen, was Mitglieder meines Volkes ihnen angetan haben, Jessica, aber das kann ich nicht. Ich kann mich nicht für etwas entschuldigen, an dem ich kein Anteil hatte. Aber ich kann hier sitzen und zuhören, wenn Sie es mir erzählen. Ich kann den Hass, den sie verspüren, über mich ergehen lassen. Sie schämen sich vielleicht, für das, was Ihnen angetan wurde und deshalb möchten Sie eventuell mit niemandem ihres Volkes darüber reden? Wenn Sie es stattdessen mir erzählen, landet der Schmerz wieder bei dem Volk, dass Sie verletzt hat."
Garak wartete, auf eine Reaktion, eine Antwort. Er saß einfach nur da, hielt ihre Hand und wartete. Er sah nicht zu ihr rüber, wollte ihr so viel Privatsphäre wie möglich geben, um sich ihrer Gedanken klar zu werden.
Eine gefühlte Ewigkeit später spürte er einen Druck an seiner Hand und er blickte Jessica an, ihre Augen war rot gerändert.
„Können wir dabei einfach hier sitzen bleiben?" Der Cardassianer nickte.
„Ja sicher."
„Garak, tun Sie mir einen Gefallen. Unterbrechen Sie mich bitte nicht. Wenn Sie mich unterbrechen, kann ich vielleicht nicht weiter reden. Aber vielleicht muss ich endlich aussprechen, für mich selbst."
