Baldr ist nicht fähig zu Hass.
Nicht zu Verachtung oder Ekel.
Nicht einmal zu Häme oder Arglist.
Zu Wut und Abscheu ist er allerdings sehr wohl fähig.
Auch wenn seine Wut nie lange währt, sie ist doch da. Er zeigt sie nicht, das wäre sinnlos. Außerdem will er niemanden verletzen, indem er irgendwie ausrastet.
Jemand muss die bessere Person sein, und wenn nicht er, wer dann?
Also entscheidet er, das Vorbild zu sein, das Ausbund an Tugend, der, welcher jedermanns Tag verschönt.
Tatsächlich ist es ganz leicht; er ist halt eine solche Person. Zu anderen gut zu sein macht ihn froh. Seine Freundlichkeit und sein Mitgefühl sind echt. Sein Frohsinn ist es nicht. Aber warum?
Baldr hat Glück, solches Glück.
Er hat Schönheit, Weisheit und Anmut. Er hat das größte Schiff und die schönste, heiligste Halle in Asgard. Er hat jedermanns Liebe und Bewunderung. Er hat eine wunderschöne Frau und einen wundervollen Sohn.
Warum also, warum zum Niflheimr, ist er nicht glücklich?!
Sein Lächeln strahlt heller als die Sonne, doch es ist nur da, um andere zufrieden zu stellen und seine Melancholie zu kaschieren.
Alle glauben er sei glücklich, das ist er aber nicht und nur vier Personen in Asgard wissen das.
Óðinn weiß es, natürlich.
Baldr spricht nie mit seinem Vater über seine Depression, aber der Allvater weiß auch so davon. Und vielleicht, nur vielleicht, ist der strahlende Gott dankbar, dass sein Vater es nicht anspricht.
Höðr weiß es auch.
Er kennt Baldr besser als alle anderen, auch wenn seine Augen nicht sehen können. Sein Schatten ist wie eine tröstende Decke, seine Kühle ist wohltuend. Der blinde Gott der Dunkelheit und des Winters erwartet nichts von ihm.
Heimdallr weiß es, weil ihm nichts entgeht.
Baldr schätzt die verständnisvolle und einfühlsame Natur des Wächters, die seiner eigenen so ähnelt. Noch mehr schätzt er, dass Heimdallr nicht mitmacht, wenn die anderen Götter Baldr mit Sachen bewerfen.
Die letzte Person, die Bescheid weiß, ist definitiv die problematischste: Loki.
Baldr wünschte, der rothaarige Trickster würde ihn wenigstens ein bisschen mögen – immerhin sind sie durch Schwur Onkel und Neffe. Das wird allerdings nie sein: Loki will ihn tot sehen und wird in der Tat sein baldiges Ableben bewirken.
Baldr weiß nicht mal, warum Loki ihn so sehr hasst (es ist nicht, als hätte ihm der Ältere je gesagt, was sein Problem ist; er spottet nur und dreht sich weg, wenn Baldr versucht, mit ihm zu reden). Er weiß nur, dass er durch die Hand des Anderen sterben wird. Und er weiß auch genau, wie – seine prophetischen Albträume sind sehr klar.
Vielleicht sollte er Loki dafür hassen, dass der sein zukünftiger Mörder ist.
Doch das tut er nicht.
Wütend ist er aber trotzdem.
Loki kann Höðr keinen Mord anhängen und erwarten, dass das künftige Mordopfer nicht wütend ist!
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Loki hasst alles an Baldr.
Alles.
Er hasst, dass das Blondchen Óðinns Sohn ist.
Er hasst, dass der junge Gott so hübsch, anmutig, weise und süß ist.
Er hasst, dass alle diesen Gutmenschen lieben und ausflippen, wenn er auch nur ein Anzeichen von Kummer zeigt. Frigg hat wortwörtlich alles in allen neun Welten schwören lassen, dass es ihrem „kleinen Liebling" nicht schaden wird! Naja, fast alles; der Spross einer Mistel war zu jung, um zu schwören, hat sie gesagt. Aber trotzdem!
Es macht ihn krank, so krank. Sein Blut kocht, wenn er Baldr sieht. Er will würgen, wenn er dessen Stimme hört und wenn er ihn aus irgendeinem Grund berühren muss, kriegt er Gänsehaut. Zwerge hassen die Sonne nicht so sehr wie Loki Baldr.
Ein Grund ist natürlich Neid.
Das ist keine Überraschung, der Trickster kennt seine Natur. Natürlich würde er das nie laut sagen, auch wenn er sich ziemlich sicher ist, dass die meisten es schon wissen.
Aber sie wissen nicht, wie neidisch er wirklich ist.
Loki ist der, der für die Æsir die ganze Drecksarbeit macht! Nicht Baldr! Und trotzdem kriegt der das ganze Lob und die Liebe, obwohl er nichts tut, als ein Hippie zu sein und Entscheidungen zu treffen, die nicht revidiert werden können! Warum kriegt dieser Sonnenschein also die ganze Liebe und positive Aufmerksamkeit?! Das ist so unfair, es tut körperlich weh!
Aber das ist nicht der einzige Grund für seinen Neid.
Óðinn ist ein liebevoller Vater, weiß Loki. Der Allvater liebt all seine Kinder gleichermaßen, auch wenn er das auf eine ziemlich verkorkste Art zeigt.
Aber er liebt nicht alle von Lokis Kindern.
Vor Urzeiten mischten Loki und Óðinn ihr Blut und schworen sich Brüderschaft, schworen, die Kinder des Anderen als ihre eigenen zu behandeln. Aber anscheinend gilt das nicht für Fenrir, Jörmungandr und Hel. Der Trickster weiß, dass die Drillinge gefährlich sind, aber das ist keine Entschuldigung für ihre schlechte Behandlung!
Es gab eine Zeit, da liebte der Trickster Baldr und Höðr wie seine eigenen Kinder. Aber das war, bevor seine eigenen Kinder verbannt wurden. Die Zwillinge wissen nichts, sie waren noch zu klein.
Und wenn die Æsir es nicht zugeben wollen, warum sollte er?
Es ist ohnehin egal.
Loki wird alles tun, um sie zu Hel hinabzuschicken. Und es wird die größte Befriedigung sein, das Entsetzen der Æsir zu sehen und Óðinn und Frigg auf die schlimmstmögliche Weise zu verletzen.
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Baldr sitzt auf dem Dach seines Hauses und nach dem Stand des Mondes zu schließen, ist es fast Mitternacht.
Es ist wunderbar still, wenn alle schlafen. Es entspannt ihn, wenn ein Albtraum ihn aufrüttelt.
Normalerweise würde er sich an der Schulter seines Bruders ausweinen, aber er will ihn nicht wecken (er weiß, es wird das letzte Mal sein, dass Höðr ruhig schläft).
Hier auf dem Dach zu sitzen und den Nachthimmel zu beobachten ist daher seine zweite Option.
Er fühlt eine Präsenz hinter sich und lächelt schief: „Warum überrascht es mich nicht, dass du durch die Barriere um mein Haus gekommen bist?"
Eine etwas höhere, weiblichere Stimme kontert: „Vielleicht, weil es nichts gibt, was ich nicht kann? Und du? Warum überrascht es mich nicht, dass du etwas so gefährliches tust, wie auf dem Dach zu sitzen, statt bei deiner Frau zu liegen?"
Baldr lacht leise und dreht sich um: „Was sehe ich? Loki sucht tatsächlich meine Gesellschaft und spricht mit mir? Welch eine Sensation!"
Loki schnaubt: „Und was höre ich? Ironie aus dem Munde des ansässigen Mr. Perfekt? Hätte nie gedacht, dass ich diesen Augenblick mal erleben würde!"
Der Blonde rollt mit den Augen. „Wir beide wissen, dass ich nie perfekt sein werde, wie sehr ich es auch versuche. Aber mal im Ernst; wie bist du hier reingekommen? Das Kraftfeld auf meinem Haus soll jeden mit bösen oder unschicklichen Absichten fernhalten."
Der Rotschopf grinst: „Bitte, ich weiß mit welchen Zaubern Frigg dieses Kraftfeld errichtet hat! Und für jeden Zauber gibt es einen passenden Gegenzauber."
„Oh. Macht Sinn."
Erst jetzt bemerkt Baldr, dass Loki in der Luft schwebt – er muss seine magischen Schuhe anhaben, mit denen er auf Luft gehen kann.
„Darf ich mich zu dir setzen?", fragt der Trickster.
„Du bist schon auf mein Grundstück eingedrungen, ohne um meine Erlaubnis zu fragen."
„Da ist was dran."
Baldr rückt ein Stück und erlaubt Loki, sich zu ihm zu setzen.
Er ist unsicher, ob er sich freut, dass sein „Onkel" mit ihm ein Gespräch anfängt, oder ob er argwöhnisch ist, warum.
Loki hält es für unnötig, den Argwohn des Anderen zu zerstreuen.
„Was machst du hier mitten in der Nacht?", fragt er. „Kamst du schon wieder mit deinen Albträumen nicht klar?"
„Das und ich wollte noch einmal den Nachthimmel sehen, bevor ich sterbe."
„Also weißt du es."
„Du wusstest doch schon, dass ich es weiß."
Der Feuerriese runzelt die Stirn. „Du bist ganz schön locker, nach all der Aufregung um deine Albträume."
Der andere runzelt ebenfalls die Stirn.
„Onkel, da ist ein Unterschied zwischen dem Wissen, dass man auf jeden Fall sterben wird, und ständigem Schlafentzug."
„Ja, das stimmt wohl."
Sie verfallen wieder in Schweigen.
Baldr ist der erste, der spricht: „Wie komm ich denn zu der Ehre, dass du endlich mit mir sprichst, Onkel? Das hast du noch nie gemacht."
Loki zuckt die Schultern: „Ich werde zur Abwechslung mal ehrlich sein; ich weiß es nicht."
Ein weiterer Moment peinlicher Stille.
Endlich bemerkt der Strahlende: „Die Sterne sind sehr schön heute Nacht."
Loki schmunzelt: „Vielleicht, aber für mich ist das nichts Besonderes. Wenn ich die Sterne sehen will, brauche ich nur meine Frau anzuschauen. Sie hat den Nachthimmel in den Haaren."
Sigyn, Baldrs Halbschwester mit den Sternenhaaren.
Baldr mag ihr explosives und aggressives Gemüt nicht, aber sie ist auch die zuverlässigste, uneigennützigste Person, die er kennt.
Fakt ist: Loki ist ein furchtbarer Ehemann; oft abwesend, hinterhältig, verlogen und definitiv pervers. Doch wie sehr ihm seine Frau dafür auch einheizt, er kann auf ihre unwandelbare Stärke und Treue bauen, in guten wie in schweren Zeiten. Baldr wünschte, seine Frau wäre halb so loyal (als wüsste er nicht von ihrer Affäre mit Hermóðr), wobei er aber auch nichts getan hat, um sich ihre Treue zu verdienen.
Er will den Gestaltwandler fragen, ob dieser Sigyn liebt, aber dann fährt Loki fort: „Tatsächlich wage ich zu sagen, dass der Nachthimmel in all seiner Pracht sich nie mit Sigyns Haaren messen könnte."
Baldr lächelt, mehr muss er nicht hören. „Also liebst du sie doch."
Der Trickster schmunzelt.
Er wird seiner Frau nie diese Worte sagen können, aber alle wissen, dass es so ist. Wann und warum seine burschikose Gattin beschlossen hat, dass er eine Reise durch alle neun Welten wert ist, ist ihm schleierhaft. Aber es ist so. Der Schmuck um seinen Hals ist der Beweis.
Natürlich ist Baldr die Halskette, die Loki trägt, schon aufgefallen.
„Mir gefällt deine Halskette", teilt er dem Älteren mit. Und wünscht sich sofort, er hätte es nicht getan: Lokis Lächeln verschwindet und weicht einer finsteren Miene.
„Sie ist schön, nicht wahr?" Die Stimme des Feuerriesen ist kalt.
„Ist sie. Sie hat irgendwas, das sie besser macht als Freyjas Brisingamen."
Das scheint den älteren Gott zu besänftigen.
„Verdammt richtig. Die beste in allen neun Welten. Ich würde sie für nichts hergeben."
„Darf ich sie halten? Nur ganz kurz?"
Lokis Augen verengen sich. Aber dann gibt er nach und nimmt sie ab. „Das würde ich nicht erlauben, wenn ich nicht wüsste, wie vorsichtig du bist. Betrachte es als den ersten und einzigen Gefallen, den ich dir tun werde."
Baldr strahlt ihn an und nimmt sie behutsam. Für ihn ist es mehr als nur ein Gefallen.
Die Kette liegt bequem in seinen leuchtenden Händen.
Jetzt wo er sie näher betrachtet und sie mit seinen eigenen Fingern berührt, weiß er, was sie so schön macht: sie ist selbstgemacht. Nur die goldene Fassung ist die Arbeit von Zwergen. Dieses Schmuckstück hat eine Persönlichkeit, die Brisingamen fehlt. Jeder Bestandteil hat eine Geschichte, das kann er spüren.
„Willst du wissen, was das ist?"
Es ist keine Frage.
„Ich bin ganz Ohr", willigt Baldr ein. Wenn Loki ihm die Geschichte erzählen will, wie könnte er Nein sagen?
Also fängt Loki an zu erklären: „Diese Kette war ein Geschenk Sigyns … und meiner Kinder."
„Nicht Nari und Narfi, schätze ich?"
„Nein. Nicht ihnen."
Loki seufzt schwer und Baldr ist erstaunt; er hat den älteren Gott noch nie seufzen hören.
Dann erläutert er: „Der geschnitzte Zahn ist von meinem ältesten Sohn Fenrir. Die in Gold gefasste grüne Schuppe ist von meinem zweiten Sohn Jörmungandr. Die Locke aus schwarzem und blondem Haar ist von meiner Tochter Hel. Die goldene Kette selbst ist von Sigyn. Und sie hat dieses Schmuckstück gemacht."
Oh.
Baldr fühlt sich nicht nur ein bisschen unwohl, als er Loki die Kette zurückgibt und der sie sofort wieder um den Hals legt, wo sie hingehört.
„Ich wusste nicht, dass sie deine Kinder sind", flüstert der Strahlende.
„Natürlich wusstest du es nicht!", faucht der Trickster. „Deine Familie labert von Mut in der Schlacht, aber hätte nie das Rückgrat, dir zu erzählen, welche Scheiße sie gebaut haben!"
Loki merkt, dass Baldr fragen will was er meint, sich jedoch davor fürchtet, ihn wütender zu machen.
„Frag doch mein Töchterchen!", zischt er, „Du wirst ja bald bei ihr sein! Sicher wird sie dir mit Freuden erzählen, was damals passiert ist!"
„Mit 'bald' meinst du 'morgen', oder?"
Die Frage kommt so plötzlich, dass der Feuerriese seinen Zorn vergisst.
„Ja und nein", erklärt er, „Dort hinunter zu fahren dauert ein bisschen. Und ohne die Begräbnisriten geht das nicht. Das hat sie mir erzählt, als ich das letzte Mal mit ihr gesprochen habe. Und dass sie schon alles für dich vorbereitet hat."
Bezaubernd.
„Ich fühle mich geehrt", erwidert Baldr und Loki ist verblüfft darüber wie ernst er es meint.
„Ich verstehe echt nicht, wie ruhig du darüber bist. Wie kannst du so gelassen sein, obwohl ich dich morgen töten werde?"
„Heute", korrigiert Baldr und zeigt auf die Turmuhr nahe Walhalla. Es ist jetzt fast um eins. „Und es ist ziemlich kühn von dir, anzunehmen, dass ich nicht wütend bin."
„Das habe ich nie gesagt. Aber hasst du mich nicht? Wo ich es sein werde, der dich ins Reich meiner Tochter schicken wird?"
Der Blondschopf schüttelt den Kopf. „Nein. Ich hasse dich nicht. Ich bin nicht mal wütend, weil du mich töten willst. Mich regt was Anderes auf."
„Oh? Klär mich doch auf!"
Also tut er es: „Was mich zornig macht, ist, dass du meinen Zwilling da mit rein ziehen willst. Ich habe keine Angst zu sterben – es ist mir nicht mal zuwider. Und wenn du mir nicht erzählen willst, warum du mich so sehr hasst, fein. Aber Höðr dazu zu bringen, mich zu töten, wohl wissend, dass es ihn zerstören wird und er mit der Reue wird leben müssen, bis mein Vater ein Kind zeugt, nur um ihn zu töten? Dafür würde ich dir eine kleben." Ein trockenes Lächeln. „Aber sowas habe ich noch nie gemacht, also würde ich wohl so hart zuschlagen wie ein kleines Mädchen."
Loki gackert: „Oh Mann! Sieht aus, als hätte Asgarðrs Goldjunge doch was in sich!"
„Wie du meinst, Onkel."
Das Gackern reißt ab. „Nenn mich nicht so."
Der Jüngere lächelt entschuldigend.
Der rothaarige Trickster starrt ihn wütend an.
„Bei den Nornen, ich hasse es, wenn du dieses Gesicht machst. Eigentlich hasse ich alles an dir."
Oh mein Vater, jetzt geht's los, denkt Baldr und macht sich auf eine Hasstirade gefasst.
Klar könnte er den Rotschopf bitten, ihm nur zu sagen, dass er ihn hasst und es dabei zu belassen. Aber er weiß, dass Loki es loswerden muss, also wird er zuhören.
„Ich verachte dich, Junge", knurrt der Feuerriese.
„Meine Verachtung ist unbeschreiblich. Wenn ich könnte, würde ich dich anzünden, zusehen, wie du langsam und qualvoll krepierst, und lachen. Ich hasse dein hübsches Gesicht. Vom Klang deiner Stimme wird mir übel. Jeder liebt dich, aber womit hast du das verdient? Wie kommen sie darauf, dass du perfekt bist?! Du! Dass ich nicht lache! Wir beide wissen die Wahrheit, nicht wahr? Du bist erbärmlich! Du nennst dich Pazifist, dabei bist du nur ein Feigling, der sich selbst auf die Schulter klopft! Warum deine Beschlüsse endgültig sind, ist mir ein Rätsel – bei aller Weisheit, jeder irrt, auch du – und Junge, kann das böse enden! Ich habe den Æsir viel mehr gegeben als du! Ich brachte die Zwerge dazu, für euch die größten Schätze zu schmieden! Wer hat mir je dafür gedankt?! Und du! Du öffnest nur den Mund, schon schauen dich alle an! Wenn ein Jötunn Asgarðr bedroht, wollen sie entweder Freyja oder dich, weil ihr ach-so-hübsch seid! Was alle für Perfektion halten, ist doch nur Schein! Du kommst ja nicht mal mit deinen Albträumen klar – ernsthaft, es ist doch immer der gleiche, solltest du nicht daran gewöhnt sein?! Und dein Familienleben! Meine Achterbahn von Ehe mit Sigyn ist funktionaler als du und Nanna! Euch hält nichts zusammen, als euer Sohn und eure Angst vor Skandalen! Wie du immer so fröhlich tust, macht mich krank! Du bist depressiver als deine Mutter, aber die hat ihre prophetische Gabe als Ausrede. Trotzdem tust du so, als wäre alles eitel Sonnenschein und es kotzt mich an! Wieso bin ich hier der Lügner, wo du so künstlich bist, dass es wehtut?! Ich kann es kaum erwarten, dich zu töten! Sie werden sich über deiner Leiche die Augen aus heulen und ich werde dastehen und lächeln, so befriedigend wird es sein! Ooohhh, wie ich dich hasse!"
Wow.
Baldr dachte nie, dass es möglich ist, so viel Hass und Neid auf einmal zu speien. Andererseits gibt es nichts, was Loki nicht kann.
Er braucht eine Weile, um es sacken zu lassen, bevor er antwortet.
„Ich … bin beeindruckt. Du hast mich echt aufs Kreuz gelegt."
„Hab ich das, ja?", knurrte Loki.
„Ja."
„Und? Was sagst du dazu?"
„Nur dies: jetzt, wo du es dir von der Seele geredet hast, wirst du mich anhören?"
Der Ältere seufzt: „Muss ich wohl – das ist einfach fair."
Baldr holt tief Luft und fängt an: „Ich bin traurig, dass du mich hasst. Das weißt du bestimmt schon, ich wollte das nur klar stellen. Und bei zwei Dingen hast du recht: mein Glück ist vorgetäuscht und meine Ehe eine Katastrophe. Aber lass mich dir eins sagen, der Rest von mir ist es nicht. Wenn ich es allen recht machen will, dann weil ich mich über ihr Glück freue. Ich helfe anderen nicht aus Pflichtgefühl, oder weil ich Lob will, sondern aus Vergnügen. Ich mag es, andere glücklich zu machen. Wenn mein eigenes Glück der Preis dafür ist, dann sei es so. Du hingegen, oh Mann! Handelst du jemals uneigennützig? Etwas, das nicht voraussetzt, dass du vorher Ärger gemacht hast? Du hast diese Schätze nur für uns besorgt, nachdem du es lustig fandest, Sif die Haare abzuschneiden. Eine Frau als Ehebrecherin zu brandmarken ist nicht lustig, Loki."
„Sie ist aber eine", murmelt der Feuerriese. „Und rate mal, mit wem."
„Erspare mir das doch bitte. Außerdem ist es ganz schön heuchlerisch von dir, mir meine Ehe vorzuhalten. Ich kann Nanna keine Vorwürfe machen, denn die Nornen wissen, ich bin nicht annähernd der liebevolle Ehemann, der ich sein sollte. Bei Mimirs Kopf, ich kann an einer Hand abzählen, wie oft ich bei ihr gelegen habe, natürlich sucht sie woanders nach dem, was ich nicht geben kann. Aber Sigyn kann dir sehr wohl Vorwürfe machen! Du musst mehr Affären gehabt haben, als du Sommersprossen hast! Du musst – bitte vergib meine Wortwahl – die größte Schlampe in Asgarðr sein! Zudem bist du kaum zuhause! Kein Wunder, dass Sigyn ständig sauer auf dich ist! Sie mag ein Feuerkopf sein, aber sie ist meine große Schwester und sie verdient Besseres! Weißt du eigentlich, welches Glück du hast, mit der tapfersten und treuesten Frau in allen neun Welten verheiratet zu sein?! Die Loyalität einer Frau muss man sich verdienen, aber du würdest Loyalität nicht erkennen, wenn sie dich ohrfeigen würde – und ich weiß, das tut sie, weil Sigyn keine schwache Hausfrau ist, die sich von dir herumschubsen lässt!"
Er atmet tief durch, um sich zu beruhigen.
Loki starrt ihn mit offenem Mund an, was ihm unglaublich peinlich ist. Das ist wirklich zu weit gegangen. Er wollte sich nicht so in Rage reden. Aber zu seiner Verteidigung, er hat selbst eben eine Hasstirade von seinem Onkel/künftigem Mörder erduldet und braucht ganz dringend Schlaf.
„Verzeih mir bitte", entschuldigt er sich, „Ich wollte nicht so auf dich losgehen."
„Machst du Witze?", ruft der Trickster aus und fängt an zu lachen. „Du bist viel besser, wenn du diese blöde Maske fallen lässt! Hätte nicht gedacht, dass du es in dir hast!"
Baldr schmunzelt: „Es ist leicht, die Maskerade zu beenden, wenn man ein toter Mann ist. Und eine gewisse Schönheit ist darin, es dich sehen zu lassen. Weißt du auch warum?"
„Weil es leicht ist, zu dem ehrlich zu sein, der dich töten wird. Es ist unnötig, vor seinem baldigen Mörder den Schein zu wahren."
Baldr lächelt und nickt. Er freut sich, dass sein Onkel versteht.
„Es tut mir wirklich leid, dass du mich hasst", sagt er leise, „Ich wünschte, wir könnten uns vertragen."
Der Andere presst die vernarbten Lippen zusammen. „Keine Chance, Baldr Óðinnsón. Ich hasse dich und du wirst und musst sterben."
„Ich weiß."
Loki hasst, wie lebensmüde dieser junge Mann ist.
Und dass es so ist, hasst er noch viel mehr. Denn jetzt wird er etwas gewahr, das ihm Angst macht. Es ist so erschreckend, dass seine Hände in seinem Schoß anfangen zu beben.
Er krallt seine Finger in die Hosen, um es zu verbergen, aber Blondchen hat es schon bemerkt und schaut ihn besorgt an.
„Wag' es nicht, mich zu bedauern!", zischt er giftig.
„Ich bedaure dich nicht", sagt Baldr ihm sanft. „Ich fühle mit dir. Verwechsle Mitgefühl nicht mit Bedauern."
„Ich will beides nicht!"
„Ich weiß, ich weiß. Aber ich kann eben nicht anders. Wie schon gesagt, ich hasse dich nicht so wie du mich."
Loki würde gern dieses widerliche süße Lächeln vom Gesicht dieses Jungen wischen.
„Ich bin froh, dass du es bist, Onkel."
„Ich hab doch gesagt, du so- warte, was?!"
Baldr gibt sich Mühe, nicht über die entgeisterte Miene des Tricksters zu lachen.
„Habe ich dich schockiert? Verzeihung, ich meine … ich bin froh, dass du es bist, der mich zu Hel schicken wird, weil … na ja, du hasst mich und wirst dich nicht schuldig fühlen, weil du mich umgebracht hast. Ich kann es nicht leiden, wenn sich wegen mir jemand schuldig fühlt. Miese Logik, ich weiß. Aber ich will nicht, dass jemand anderes es tut. Deshalb regt es mich ja auch so auf, dass du meinen Bruder instrumentalisieren willst. Wenn nur du es wärst, könnte ich dir leicht vergeben-"
„Ich will deine Vergebung nicht-"
„Lass mich ausreden! Wenn nur du es tätest, könnte ich dir leicht vergeben. Meinem Schicksal habe ich mich schon längst ergeben. Ich will nur, dass alles ein Ende hat. In gewisser Weise tust du mir einen Gefallen."
„… Du bist verrückt."
Baldr schnaubt: „Nein, das wärst du. Ich bin nur depressiv und lebensmüde. Zudem völlig schlaflos. Und es ist zwei Uhr, deshalb hatte ich meinen Morgenkaffee noch nicht."
„Du bist auf jeden Fall verrückt", beharrt Loki.
„Kann schon sein", gibt der Andere nach. „Nicht, dass es noch wichtig wäre."
Fragen hat er aber trotzdem noch.
„Warum bist du eigentlich auf?"
„Ich hab auch Albträume, Junge. Anders als du jammere ich deswegen nicht." Ein Schnauben. „Außer Sigyn kümmert es aber auch niemanden."
„Doch, mich."
„Du bist ein Gutmensch. Dich würde es kümmern, wenn ein Stein Albträume hätte."
„Na ja, du bist ein wandelndes Feuer, da passt das schon."
„Tja, du bist ein wandelnder Leuchtkäfer!"
Der lichte Gott gluckst. Das ist eine echt komische Art zu beschreiben, wie er leuchtet!
Dann wendet er seinen Blick zu den Sternen und ihm fällt noch etwas ein, das er schon immer wissen wollte.
„Loki?"
„Hm?"
„Wo kommen die Sterne her?"
„Ah, ich erinnere mich. Die meisten haben dein Vater und seine Brüder gemacht. Sie waren Funken aus Múspellsheimr, wo ich herkomme. Aber manche habe ich gemacht."
Er zeigt auf einen besonders hellen Stern.
„Siehst du den? Den habe ich gemacht, er brennt durch mich. Früher hieß er Lokabrenna, aber die Menschen in Midgarðr nennen ihn jetzt Sirius."
Baldr strahlt ihn entzückt an. Zufällig ist Sirius nämlich einer seiner Lieblingssterne.
Loki lächelt bittersüß. „Du hättest deinen Vater damals sehen sollen. Was für ein Mann! Ich musste ihn einfach sofort mögen. Damals … wir hatten so viel gemeinsam!"
Der Jüngere spürt den Kummer und die Nostalgie des Älteren. Ihm zu glauben, fällt Baldr nicht schwer; selbst heute noch hat Óðinn manchmal noch ein schelmisches Funkeln und Lachen im grauen Auge, doch es wird immer seltener. Kein Wunder, das Loki ihn gleich mochte, als sie jung waren.
Er seufzt: „Weißt du, sein Lächeln sah genauso aus wie deins. Es war warm und offen. Du und dein Bruder, ihr habt das von ihm."
Das überrascht den Gott des Lichts. Er dachte immer, er hätte es von seiner Mutter. Doch er kommt nicht dazu, darüber nachzudenken, denn zu seiner Bestürzung fängt Loki an zu weinen.
„Scheiße", murmelt der Trickster und wischt sich die Augen. „Ich hab mir geschworen, keine Träne darüber zu vergießen! Und dann auch noch vor dir!"
Baldr holt ein Taschentuch hervor und reicht es ihm. Er bekommt kein Dankeschön, aber Loki ist ohnehin die letzte Person, von der er eins erwartet hätte.
„Fick dich! Deinen Zwilling und deinen Vater auch", krächzt der Rotschopf plötzlich.
Mittlerweile klingt es ziemlich gezwungen, aber das sagt Baldr nicht.
„Ich hasse dich! Ich hasse dich, ich hasse dich, ich hasse dich!"
Loki erstarrt, als der Jüngere ihn in die Arme nimmt. Als ihm dämmert, was vorgeht, ist er versucht, den Blonden vom Dach zu stoßen und zu testen, ob die Schwerkraft auch einen Eid abgelegt hat, tut er aber nicht. Stattdessen erlaubt er sich, zu weinen. Aber leise; er weigert sich, zu heulen wie ein Wolf. Er fühlt, wie die linke Hand des Anderen ihm tröstend über den Rücken streichelt.
Das Gefühl von vorhin holt ihn wieder ein und der Trickster hasst es mit ganzer Kraft.
Die meisten Götter wissen es nicht, aber tatsächlich ist Loki etwas älter als Óðinn (ein paar Jahrzehnte vielleicht). Er kennt die Æsir so gut. Er kann an einer Hand abzählen, wie viele Kinder des Allvaters er nicht seit ihrer Kindheit kennt.
Er war bei der Geburt der Zwillinge dabei, hielt sie sogar in den Armen. Damals liebte er sie. Das ist lange vorbei und er hasst sie, hasst mittlerweile fast alle von Óðinns Kindern.
„Ich hasse dich! Scher dich nach Helheimr!"
„Weiß ich, werd ich", erwidert Baldr viel zu sanft. „Und ich hab dich auch lieb, Onkel."
„Wie kannst du es wagen-"
„Schhhhh."
Es dauert eine Weile, bis Loki sich wieder beruhigt. Dann aber befreit er sich aus Baldrs Umarmung und räuspert sich.
„So, jetzt reicht's. Mehr von diesem Kitsch und ich übergebe mich."
Baldr weiß, dass es besser ist, den Mund zu halten.
Sie verfallen wieder in Schweigen, aber diesmal ist es behaglicher.
Es ist schon nach drei, als er wieder spricht: „Eine Frage noch."
Loki stöhnt und rollt mit den Augen, willigt aber ein.
„Wird deine Tochter freundlich sein?"
Oder wird sie ihren Groll an mir auslassen? - der Trickster hört den unausgesprochenen Teil der Frage in der Stimme des Jungen.
Er überlegt kurz.
So wie er seine Tochter kennt, wird sie es nicht tun. Sie könnte es und hätte das Recht dazu. Würde sie aber nicht. Hel ist großmütig. Außerdem ist Baldr das reinste Wesen in Asgarðr (so ungern Loki es auch zugibt). Und Hel liebt niedliche, schöne Dinge (das hat sie von ihrer Mutter, erinnert er sich).
Natürlich könnte er Baldr einreden, dass er den Náströnd erleiden wird, aber aus irgendeinem Grund entscheidet er sich, ehrlich zu sein.
„Na ja, anders als der Rest von Asgarðr habt du und dein Bruder keinen Dreck am Stecken, also hast du nichts zu befürchten. Sie ist eine gerechte Göttin. Bei ihr wirst du es gut haben. Wenn du über ihre Gestalt hinwegsehen kannst, wirst du sie vielleicht sogar mögen."
Bei diesen Worten fühlt Baldr sich erleichtert.
So sehr, dass er lacht, als Loki hinzufügt: „Erwähne nur nicht die Christen. Oder Pferde. Das einzige Pferd, das sie mag, ist Sleipnir."
„Ist notiert."
Plötzlich muss Baldr gähnen – wieder einmal wird er von einer Welle der Müdigkeit an seinen Schlafentzug erinnert.
„Meine Seele für guten Schlaf!", scherzt er.
Loki grinst: „Lässt sich einrichten – ich glaube, deine Seele wäre eine gute Gegenleistung."
Der Gott des Lichts bricht wieder in Gelächter aus.
Als er sich wieder einkriegt, lächelt er den Rotschopf an. „Ich hab schon lange nicht mehr so gelacht. Vielen Dank, Onkel."
Diesmal schilt Loki ihn nicht.
Zu Baldrs Überraschung rollt er stattdessen mit den Augen und schnaubt: „Schlaf, Junge. Ich pass schon auf, dass dein letztes Nickerchen in Asgarðr friedvoll wird."
Baldr braucht eine Sekunde um zu begreifen, dass der Feuerriese ihn einlädt, sich an dessen Schulter zu lehnen. Er will ablehnen und dem Älteren sagen, er soll selbst schlafen gehen, statt den Rest der Nacht mit ihm auf dem Dach zu sitzen. Aber er ist einfach so unglaublich müde, dass er sich einmal in seinem Leben erlaubt, egoistisch zu sein.
Die brennende Hitze des Tricksters dringt durch dessen feuerfeste Kleidung und der Strahlende fühlt sich wie in eine warme Decke gehüllt. In wenigen Sekunden ist er eingeschlafen.
Loki merkt, wie der Körper des Jüngeren entspannt und ihm an die Schulter sinkt. Natürlich hat er auch gemerkt, wie das Leuchten des Anderen heller wurde, als dieser aufrichtig lachte.
Er seufzt, legt einen Arm um die Schulter des Anderen und blickt wütend auf dessen platinblonden Schopf herab.
Ich hasse dich und deine Kinder, Óðinn. Aber ich liebe sie auch und das hasse ich noch viel mehr.
"Vergib deinen Feinden, aber vergiss nie ihre Namen."
