II. Stunde Null

Menschenfressermenschen haben auch ein Herz für Kinder
Menschenfressermenschen leben meistens viel gesünder
Menschenfressermenschen essen manchmal vegetarisch
Menschenfressermenschen sind nicht immer blond und arisch

Sein Herz hatte aufgehört zu schlagen. Starr, mit ausdruckslosen Augen lag Remus niedergestreckt vor Harry. Sein Gesicht war mit dunklen Klumpen aus verkrustetem Blut bedeckt, seine Kleidung mit Asche und Ruß verschmiert. Er würde ein Begräbnis bekommen, das einem Helden zustand – doch wenn Harry sich umsah, konnte das gar nicht für alle gelten.

Viel zu viele lagen leblos vor ihm. Zu viele waren gefallen, um jedem Einzelnen eine Stunde der Andacht zu schenken. Bei einigen war es nicht einmal möglich, sie zu identifizieren, so sehr war ihr Gesicht zersprengt worden. Wie sollten sie da die Angehörigen informieren? In den nächsten Wochen würden zu viele weinende Menschen über die Schwelle Hogwarts' treten, denen keine Gewissheit verschafft werden konnte.

Während die Herzen der Niederliegenden nie wieder schlagen würden, pumpte Harrys umso kräftiger. Neben ihm, keinen Schritt entfernt, konnte er Ginny schluchzen hören. Obwohl sie nah beieinanderstanden, schien sie doch so fern, wie aus einer anderen Welt. Die Röte war ihr ins Gesicht geschossen. Er konnte es sehen, obwohl sie den Kopf gesenkt hielt und ihre fuchsroten Haare wie ein Schleier vor ihre Augen fielen. Wie betäubt rieb sie sich über die Schläfen, von den vielen Tränen waren auch ihre Augen rot und aufgequollen. Sie bekam schwerlich Luft, japste und schniefte.

„Es tut mir so leid", sagte er und legte seinen Arm um ihre Schulter.

„Du kannst doch nichts dafür", wehrte sie sich und winkte ab. Dann seufzte sie wieder. „Es ist vorbei – wir haben gewonnen." Darin war nur ein schwacher Funken Freude zu finden – es war eher eine bittere Erkenntnis. Wie konnten sie gewonnen haben, wenn sie sich so hundeelend fühlten?

Sie hatten verloren. Allesamt. Jeder von ihnen würde mindestens einen geliebten Menschen nie mehr wiedersehen. Die Trauer war allgegenwärtig … – Trauer und Zorn. Die ersten erstickten Rufe nach Rache und Gerechtigkeit drangen an Harrys Ohr. Er sah sich um.

In der großen Halle standen die Menschen gedrängt. Es herrschte ein heilloses Durcheinander. Das Stimmenwirrwarr füllte den Raum bis unter die hohe Decke. Harry konnte sehen, dass nicht unweit von ihnen McGonagall versuchte, Ordnung zu schaffen. Sie winkte mit ihren Händen hin und her und ging auf einzelne Personen zu. Doch ihre Worte wurden von der allgemeinen Verwirrung verschluckt. Es stank nach Schweiß und Harry wischte sich über die Stirn. Die Kerzen entsandten Licht, das dringend benötigt wurde, aber die Hitze machte ihnen allen zu schaffen. Wie ein schwerer Mantel hatte sie sich auf seine Schultern gelegt. Die Gemüter brodelten. Man konnte keinen Schritt machen, ohne jemanden anzurempeln. Die Sonne war bereits seit langem untergegangen, doch das Morgengrauen war fern. Das Flackern der Kerzen tauchte die Szenerie in einen unheimlichen Schein.

Sein Blick fiel auf Hermine und Ron, die noch enger als die anderen zusammenstanden. Sie hatten ihren Kopf gegen seine Brust gelegte, ihre Stirn presste sich gegen seinen Pullover. Harry konnte nicht erkennen, ob Hermine sich aus eigener Kraft gegen ihn drückte oder ob Ron, der seine Arme um sie gelegt hatte, sie an sich quetschte. Die Arme seines Freundes zitterten unkontrolliert, doch er selbst schien es nicht zu bemerken. Den Kopf auf Hermines Kopf abgestützt, blickte er in der Gegend hin und her wie ein rastloser Wanderer. Ihre Blicke trafen sich und Harry deutete ein Nicken an.

‚Geht es dir gut?' war die stumme Frage, die er stellte. Natürlich ging es Ron nicht gut, das war einfach zu sehen, zu verstehen und nachzuempfinden. Aber ging es ihm den Umständen entsprechend gut?

Ron nicke ebenfalls leicht mit dem Kopf und sein Blick wanderte weiter.

Harry seufzte und merkte erst nun, dass er die Luft angehalten hatte. Was hatte er machen sollen, wenn Ron den Kopf geschüttelt hätte? Zu ihnen gehen und ihn auch umarmen? Er grübelte angestrengt, aber etwas Besseres fiel ihm beim besten Willen nicht ein.

Der Schrecken saß tief in den Knochen. Die Toten, die reihenweise vor ihnen, hinter ihnen und zwischen ihnen aufgebahrt worden waren, erinnerten an das Unheil. An die geschlagene Schlacht, an die Gegenwärtigkeit des Feindes. Auch wenn Voldemort besiegt worden war, seine Anhänger, die ihren Herrn überlebt hatten, waren in alle Himmelsrichtungen geflohen. Einige Zeit würden sie ihre Wunden lecken. Sie waren geschwächt, doch noch immer stellten sie eine Gefahr für die gebeutelte Bevölkerung dar.

Es waren genug Menschen gefallen. Harry schritt wackelig auf McGonagall zu. Er spürte Ginnys Blicke in seinem Nacken, doch sie sagte nichts.

„Potter!" Die alte Hexe hatte ihn in den Blick genommen. „Sie haben es geschafft! Ich habe nie an Ihnen gezweifelt, aber es ist trotzdem unglaublich!" In ihren Augen schimmerte Freude, doch auch die Gewissheit, dass sie einen hohen Preis gezahlt hatten.

„Danke, Professor", sagte er. Seine Stimme klang ein wenig bitter, das merkte er sogar selbst. Er fügte an: „Ich bin nur froh, dass es vorbei ist."

McGonagall seufzte und gab ihm einen durchdringenden Blick.

Verwirrt kratzte er sich am Kopf. Das war nicht die Reaktion, die er von der älteren Hexe erwartet hatte. Hatte sie ihm etwas an Erfahrung voraus? „Ist es nicht?", fragte er vorsichtig.

Ihre Mundwinkel zuckten und sie schien ein wenig mit sich zu ringen. Als würde sie ihre Worte zuerst in eine Waagschale packen und studieren, wie diese ausschlug, bevor sie sie in die Welt entsandte. „So leid es mir tut, aber: Der Spuk hat noch lange nicht sein Ende gefunden."

Harry schluckte, doch er verstand. Dasselbe hatte er auch schon gedacht. „Es sind viele auf der Flucht, das stimmt. Es wird mühselig, die alle einzufangen."

„Wenn nicht gar unmöglich, Potter."

„Ich möchte nach allem nicht pessimistisch sein", erwiderte er, auch wenn er wusste, dass sie recht hatte. Diesen dystopischen Blick in die Zukunft wollte er nicht auf sich nehmen, nicht zusätzlich zu all den finsteren, die er bereits mit sich zerrte.

Sie nickte und ließ ihn mit seiner Naivität allein.