Hallo!

Ich hoffe, die Geschichte geht euch nicht zu schnell. Der Grund dafür ist einfach, dass hier höchstwahrscheinlich jeder die „Panem"-Bücher gelesen hat. Ich will hier nicht alle Hintergrundinfos nochmal runterkauen, deshalb lege ich (vorausgesetzt, mich bittet keiner um das Gegenteil) mein Augenmerk eher auf Umstände, die ich dem Universum hinzugefügt habe – sei es mein OC, Distrikt 5, die 69. Hungerspiele oder sonst was.

Ich hoffe, ihr habt Spaß! :)

Abschied

Die Friedenswächter begleiten uns beide an der Seite der Mentoren, die ich bisher nur aus der Ferne kannte, ins Justizgebäude hinein. Ich bin vollkommen ruhig, ruhiger, als ich es von mir selbst erwartet habe. Da Tic alle paar Schritte ein Schluchzen von sich gibt, fühle ich sogar zweimal verstohlen meinen Puls am Hals – nur um zu sehen, ob ich noch lebe. Doch mein Herz pumpt unermüdlich Blut durch meine Adern und räumt alle Zweifel, dass ich auf der Bühne an einem Herzinfarkt verstorben bin und dieser Gang zum Schafott nur mein letzter Traum ist, aus.
„Es ist ein Spiel", erinnere ich mich stumm. „Ein Spiel mit Regeln. Spiel es mit."
Mein selbstsicherer Gesichtsausdruck schwindet auch nicht, als die Friedenswächter unsere kleine traurige Prozession anhalten und rechts von mir eine Tür öffnen. Ich schlüpfe hinein. Der Raum, in dem ich mich allein auf ein großes graues Sofa setzen darf, ist schlicht, so wie die meisten Häuser in Distrikt 5 es sind. Die Wände sind aus Sichtbeton, direkt unter der Decke sind lange gerade Leisten mit kleinen Lampen angebracht. Sie strahlen kaltes Licht aus, beleuchten die geschmacklose Kunst an der Wand und die wenigen Möbelstücke. Der Boden ist immerhin aus Holz und ich entschließe mich dazu, ihn zwischen meinen Füßen hindurch anzustarren, bis meine Großeltern den Raum betreten.
Meine Großmutter May trägt einen kämpferischen Ausdruck im zerfurchten Gesicht, als sie sich mir gegenübersetzt. „Wie viel Zeit haben wir?" Sie ist nicht ansatzweise so alt, wie sie aussieht, doch schwere Arbeit steht den wenigsten Menschen gut zu Gesicht. Als Kind fragte ich häufiger, ob das Arbeitspensum auch in anderen Distrikten so hoch sei. Meine Großeltern schüttelten jedes Mal nur den Kopf über solche Fragen. Heute nehme ich an, dass 12-Stunden-Schichten wohl überall in Panem normal sein werden.
„Eine Stunde", antworte ich ihr. Das erste Mal seitdem mein Name aufgerufen wurde, stockt meine Stimme ein wenig. Fast 19 Jahre lang habe ich mir dieses Gespräch vorgestellt und nun ist es gekommen. Trotzdem fühlt sich alles anders an. Wo ich vorhin noch sicher wirken konnte, bin ich nun zunehmend aufgewühlt. Aus meinem Gesicht ist das gewinnende Grinsen gewichen, stattdessen spüre ich meinen Kopf pochen. Ich nehme die Hände meines stummen Großvaters und drücke sie.
„Eine Stunde", wiederholt meine Großmutter fest. „Das war schon damals so, als sie Mirabella holten."
Mein Großvater verzieht bei der Erwähnung meiner Mutter das Gesicht und ich blicke zu Boden. Augenblicklich liegt der Finger meiner Großmutter unter meinem Kinn und drückt meinen Kopf nach oben bis ich ihr direkt in die Augen sehen kann.
„Was habe ich dir gesagt? Kopf hoch!", sagte sie laut. Ich nicke und atme einmal tief ein. Sie hat Recht. „Du kannst das, Kind", fährt sie sanfter fort. „Du hast trainiert wie die aus den Karrieredistrikten." Mein Großvater stößt einen zischenden Laut aus, als meine Großmutter das verbotene Training erwähnt. Vorbereitung auf die Spiele ist offiziell verboten, aber jeder weiß, dass die Kinder aus 1, 2 und 4 es tun. Da meine Familie stets davon ausging, dass ich eines Tages in den Hungerspielen landen würde, habe auch ich mich in allen möglichen Disziplinen geübt – ich kann schnell rennen, ich kann mit Messern umgehen, ich kann an schier unbezwingbaren Flächen hinaufklettern. Ich kann sogar ein bisschen schwimmen, das habe ich im großen Teich auf dem Platz vor dem Justizgebäude gelernt. Doch das alles ist nichts gegen das Drumherum der Hungerspiele: Die Sponsoren. Die, die einen auch retten können, wenn man kein großer Kämpfer ist. Die auf einen wetten, noch bevor man sein kämpferisches Können in der Arena unter Beweis stellen kann. Deshalb lernte ich, auf hohen Schuhen zu gehen, richtig zu winken, wo mein bester Winkel für die Kameras ist. Und ich verbrachte einige Wochenenden damit, mich in Interviews zu üben.
Nach dem Tod meiner Mutter brachte das Kapitol meinen Großeltern nicht nur mich zurück, sondern auch eine Summe Geld als Entschädigung. Natürlich nicht für den Tod meiner Mutter, sondern dafür, dass meine Familie mich erst einige Tage nach meiner Geburt zurückbekam. Nicht, dass die überhaupt damit gerechnet hatte. Das Geld ermöglichte uns jedenfalls ein angenehmes Leben. Ich musste nicht bereits als Kind kleine Schichten in einem der Kraftwerke schieben. Die Stromversorgung zu garantieren ist dem Kapitol so wichtig, dass man in Distrikt 5 ab dem Alter von 14 in die Arbeit eingeführt wird. Zumindest, wenn man will – und die meisten Familien wollen, allein um des Geldes Willen. Mir blieb die Arbeit erspart und umso mehr Zeit hatte ich, mich neben dem Training auch meinen Studien zu widmen. Klar, der praktische Einsatz in den Kraftwerken hätte mir sicher geholfen, doch in Büchern und alten Schriften fand ich weit mehr Informationen als sie meine Altersgenossen hatten. Einige der Texte, die ich las, waren vor der Rebellion sogar distriktübergreifend verfasst worden – ich ging immer davon aus, dass sie übersehen worden waren, als man die Distrikte durch die Einführung der Hungerspiele noch strenger trennte. Mein Interesse an allem, was mit Technik zu tun hatte, trübten sie jedenfalls nicht. Insgeheim hoffte ich sogar, mit einem klugen Einfall gewinnen zu können wie dieser Wissenschaftler aus Distrikt 3 vor einigen Jahren.
„Alys! Hörst du zu?"
Ich nicke heftig, als die Stimme meiner Großmutter durch den Raum schneidet.
„Sei stark!", prägt sie mir ein. „Zeig den anderen von Anfang an, wer in diesem Jahr das Sagen hat! Du bist stärker als die, hast du mich verstanden? Du kommst zurück!"
Ich nicke erneut, mache meinen Rücken gerade und strecke die Brust raus. „Ich kann das", wiederhole ich ihr Mantra, einmal für sie und einmal in Gebärdensprache für meinen Großvater Ed. Beide nicken und obwohl ich weiß, dass sie sich trotz all der starken Worte Sorgen machen, grinsen sie so breit, dass ich mit einstimmen muss.
„Es ist ein Spiel", sagt meine Großmutter eindringlich. „Spiele haben Regeln und man kann sie gewinnen!"
„Ich hoffe, die Arena spielt in diesem Jahr mit", sage ich, auch wenn ich so gut vorbereitet bin, wie es mit unseren beschränkten Mitteln in den spezialisierten Distrikten eben geht.
„Am Füllhorn kriegst du, was du brauchst", sagt meine Großmutter und erhebt sich. „Das ist jedes Jahr sicher, egal, wie die Arena gestaltet ist."
Mein Großvater steht nun ebenfalls wieder von dem tristen Sofa auf. Aus der Tasche zieht er eine kleine Schachtel und hält sie mir hin. Als ich den Deckel herunternehme, entdecke ich eine Handvoll Nüsse, die wohl von dem Busch hinter unserem Haus stammen müssen. Ich lächele ihn an und er nickt.
„Bis in ein paar Wochen. Denk daran, du bist die Botschaft!", sagt meine Großmutter fest, dann drehen sie sich beide um und verschwinden, obwohl die Stunde, die den Tributen zum Abschied gewährt wird, noch nicht um ist. Ich starre ihnen wortlos nach. Mein Hals ist wie zugeschwollen, doch ich weiß, dass ich alle Zweifel von mir fortschieben muss. Für Zweifel war in den letzten Jahren Zeit. Zeit, alles Menschenmögliche zu tun, um diese Zweifel auszuräumen. Ich starre die Wand an, bis die Friedenswächter erneut in den Raum treten.

Der Zug, der Tic, unsere Betreuer und mich ins Kapitol bringen soll, ist in einem dunklen Metall gehalten und vorne über und über mit Lampen bestückt. Vermutlich soll er zeigen, dass er aus Distrikt 5 kommt. Für mich ist es das erste Zeichen der herannahenden Spiele, bei denen die Tribute ebenfalls passend zu ihrer Heimat angezogen werden. Ich kann kaum erwarten, was für Albernheiten sich die Stylisten des Kapitols in diesem Jahr ausgedacht haben.
Im Zug treffe ich auch zum ersten Mal so richtig auf Tic Anderson. Sein Haar steht ihm wild vom Kopf ab, die Augen geschwollen und sein Gesicht rot. Er wirkt im Vergleich zu der Erntefeier vor nur einer Stunde geschrumpft und ein Anflug von Gefühlen keimt in mir auf. Als wir einsteigen, legt Porter ihm ermutigend eine Hand auf die Schulter.
„Tut mir leid", sage ich zu ihm und ich meine es.
„Die werden dir Mutationen auf den Hals hetzen", sagt er leise. „Meine Eltern waren sich da sicher."
Ich zucke mit den Achseln, auch wenn mich sein Kommentar unvorbereitet trifft. Irgendwie hatte ich Tränen oder eine Erwiderung meiner Worte erwartet. „Alles für die Botschaft."
Er watschelt davon in das ihm zugewiesene Schlafabteil und ich bleibe mit Porter allein. Sie ist Anfang 50 und sie schaut genauso ernst drein wie immer. Porter ist die Siegerin der 38. Hungerspiele gewesen und sie trägt in Form einer metallenen Stabilisation ihrer Wirbelsäule noch immer die Wunden ihrer Spiele offen zur Schau. Ich habe sie noch nie mit jemandem sprechen hören. Selbst wenn sie in der Stadt Einkäufe erledigt, schweigt sie für gewöhnlich. Sie ist eine seltsame Frau und wir sehen uns eine Weile einfach nur an, ihre grauen Augen mustern meine dunklen, und als hinter Tic den Flur hinunter eine Tür ins Schloss fällt, sagt sie: „Er wird nicht lang machen."
Ich nicke stumm.
„Die jungen machen nie lang, außer sie sehen aus wie Finnick Odair", sagt eine männliche Stimme hinter uns. Es ist der ältere Sieger, Spudnell Wilson, der einige Jahre nach Porter gewann, aber doppelt so alt aussieht. In seiner Stimme liegt dieselbe Bitterkeit wie sie meine Großmutter immer zu Schau stellt, und obwohl der Anlass es nicht fordert, muss ich lächeln. Neben ihm steht, sichtbar unruhig, der Kapitolbetreuer, dessen Name mir bereits in dem Moment egal wird, als er ihn mir nennt. Spud und Porter mustern mich wie Vieh, während dem Betreuer eine Träne über die Wange rinnt. Würde er dabei gerade nicht meinen baldigen Tod betrauern, dem ich aus dem Weg zu gehen versuchen werde, würde ich ihm die Schulter tätscheln. So jedoch bekommt er von mir nur einen grimmigen Blick.
„Für dich erwarte ich hingegen einige Sponsoren", sagt Spud.
„Fernsehreif bin ich allemal", erwidere ich. „Und wer will nicht auf den zukünftigen Sieger wetten?"
Spud lacht, während Porter das Gesicht verzieht. „Na, du hast das ja alles bereits wunderbar geplant."
„Mein Schicksal wurde von meiner Mutter festgelegt. In dem Moment, in dem sie schwanger wurde", zitiere ich meine Großeltern vage und mache eine alberne kleine Verbeugung, als würden wir noch immer gefilmt. „Was anderes, als mich zu fügen, blieb mir wohl nicht übrig, oder?"
„Und was machen wir mit dem Kleinen, wenn du bereits deinen Sieg bestimmt hast?", fragt Porter.
„Ihr zieht ihn so lange mit, bis er eben stirbt." Ich runzle die Stirn. „Mein Plan für die Arena beinhaltet keine Bündnisse."
Porter zieht die Augenbrauen hoch und der Betreuer macht ein Gesicht, als hätte ich gerade unter seinem Stuhl eine Bombe gezündet.
„Wir können nicht beide gewinnen", sage ich fest, dann drehe ich mich um und mache mich auf die Suche nach meinem eigenen Abteil. Die drei Erwachsenen lasse ich sprachlos zurück. Porter und Spud mögen mich für harsch halten, aber als ich ihn hinter mir kichern höre, weiß ich, dass ihnen genauso wie mir bewusst ist, dass ich Recht habe. Nur einer kann siegen. Und ein dicker 13-Jähriger hat keine Chance bei den Hungerspielen. Das gnädigste, was geschehen kann, ist dass er schnell getötet wird – zur Not von mir.