Im Kapitol

Die Fahrt ins Kapitol überstehe ich ohne größere Gespräche mit irgendwem aus dem Team. Vor allem Tic geht mir regelrecht aus dem Weg und ich kann gut verstehen, wieso. Vor dem Frühstück überlege ich kurz, ihm Mut zuzusprechen und ihm von Siegern alter Hungerspiele zu erzählen, deren Chancen ursprünglich auch nicht gut standen. Doch ihm einen Sieg zuzusprechen würde meinen unausweichlichen Tod bedeuten und an den ist nicht zu denken. Und als ich Tic vor dem Fernseher sitzen sehe, verwerfe ich den Gedanken endgültig.
Der Junge sitzt in sich zusammen gesunken da und schaut sich die Wiederholung der Ernten aus anderen Distrikten an. Gerade diskutieren die Fernsehsprecher über die freiwilligen Tribute aus den Karrieredistrikten und etwas Furchteinflößenderes hätte Tic sich vor dem Fernsehen wahrscheinlich nicht ansehen können. Zu sehen sind ein grobschlächtig aussehender Junge aus 4, dem bereits jetzt ein Schneidezahn fehlt, und ein Mädchen mit kahl geschorenem Kopf aus Distrikt 2, die der Kamera einen so kämpferischen Blick zuwirft, dass ich ihn im Zug beinahe selbst spüren kann. Ich merke mir auch die anderen Gesichter, schließlich werden sie mir in wenigen Tagen gegenüberstehen und mein Blut wollen. Dass sie mir nicht wohlgesonnen sein werden, ist klar.
Tic allerdings schaltet augenblicklich den Fernseher aus, als er mich bemerkt. Eine Weile sehen wir einander nur an, mein Gesicht regungslos, seines mit Tränenspuren. Ich will das Mitleid, das mich bei seinem Anblick überkommt, weiter verdrängen, da sagt er: „Wirst du mich töten?"
Wieder hat der Junge mich so mit seinen Worten überrumpelt, dass ich einen Moment nicht weiß, was ich sagen soll. Ich stehe nur da und sehe ihn an, mustere seine Pausbäckchen und die nassen Flecken auf seinem dünnen Pullover. Tic ist ein Kind. Nichts weiter. Ein Kind, das in wenigen Tagen tot sein wird, wenn ich leben will. Er ist jemandes Sohn, vielleicht jemandes Bruder – wie es wohl ist, einen Bruder zu haben? Dreizehn Jahre ist er alt und doch klingen die Worte, die er eben zu mir sprach, so ruhig, so berechnend. Als hätte er sich bereits vom Leben verabschiedet, den Tränen zum Trotz. Ich finde es nicht fair. Die Worte, die ich gestern noch zu Porter und Spud gesagt habe, erscheinen mir auf einmal grausam. „Nein", erwidere ich leise.
„Kannst du töten?"
„Ich habe es nie getan", sage ich und gehe zu einem Sessel hinüber, der Tics gegenübersteht. „Aber das wird in der Arena schon kommen."
„Du wusstest es, richtig?", fährt er mit hohler Stimme fort. „Dass dein Name gezogen wird. Du wusstest es."
„Ich … ich habe es geahnt."
„Meine Eltern haben das gesagt. Sie haben auch gesagt, ich soll mich vor dir in Acht nehmen."
Ich schüttele den Kopf, noch bevor ich großartig darüber nachdenken kann. „Wenn wir am Füllhorn sind, lauf in eine andere Richtung als ich."
„Du wirst mir nichts tun?"
„Wir werden uns nicht begegnen, verstanden?"
„Was, wenn wir die letzten sind?"
„Unwahrscheinlich." Meine Stimme verklingt im Raum und ich weiß, dass wir beide die mögliche Bedeutung meines Satzes ausschließen, dass ich nicht zu den letzten zwei Tributen gehören könnte. Es ist so still, dass ich nun beinahe hören kann, wie mir das Herz in der Brust zerspringt.
Zum Glück werden in diesem Moment die Speisen fürs Frühstück hereingebracht und ich kann Tic gerade noch ein grimmiges Lächeln zuwerfen. Unsere Mentoren stehen ebenso pünktlich wie die Diener des Kapitols im Raum, zwischen ihnen wuselt unser Betreuer herum. Er trägt einen mit Glitzerpailletten besetzten Anzug, der an seinen Schultern orange ist, jedoch zu seinen Füßen hin blau wird. Hoffentlich werde ich nicht bald in einem solchen Outfit stecken. Glitzer ist okay, aber schillernde Pailletten werde ich nicht über mich ergehen lassen.
Porter bemerkt die Stille zwischen mir und Tic und wirft uns beiden gleichermaßen mitleidige Blicke zu. Für sie ist Tic noch nicht tot und ich habe noch nicht gewonnen. Wäre mein Denken nicht vom Mantra meiner Großmutter und vom Tod meiner Mutter in der Arena überschattet, hätte ich ihr Kampfgeist und die Fairness hoch angerechnet. So fängt sie sich jedoch beinahe selbst einen mitleidigen Blick für ihre Naivität.

Die Stimmung bleibt kühl, bis wir ins Kapitol einfahren. Der Ausblick aus den großen Zugfenstern ist es schließlich, der meine Maske fallen lässt. Zeitgleich mit Tic springe ich auf und presse das Gesicht an die Scheibe, als die hohen Gebäude mit ihren Glasfassaden und riesigen Bildschirmen langsam in Sicht kommen. Und nicht nur die Häuser sind beeindruckend: Ich habe das Gefühl, noch nie solche grünen Bäume gesehen zu haben, nie solche knalligen Blumen, nie eine so schillernde Wasseroberfläche wie die des Sees, den wir überqueren, bevor der Zug im Bahnhof hält.
Im Kapitol ist es ein wenig wärmer als in Distrikt 5, doch mir bleibt keine Zeit, die Ärmel hochzukrempeln. Kaum haben meine Füße den Boden des Bahnsteigs berührt, werde ich von Porter am Arm gepackt. Sie geht mit langen Schritten an vereinzelten Zuschauern vorbei und ich versuche so gut es geht mit ihr Schritt zu halten. Nach einigen Metern des verwirrten Gesichtsausdrucks und des Stolperns erinnere ich mich daran, weshalb ich hier bin. Die Spiele. Das alles hier gehört bereits dazu. Also werfe ich feste Blicke in die Runde, nicke einer Gruppe in meinem Alter zu und bringe sogar ein möglichst arrogantes Lächeln hervor. Das ist die Strategie, die sich meine Großmutter so wünschte: Möglichst sicher, möglichst gewinnend. Hoffentlich darf ich dieses Image, das ich inzwischen so sehr verinnerlicht habe, dass ich gar nicht mehr sicher bin, wo es aufhört und mein eigentlicher Charakter beginnt, auch behalten, wenn es nach Porter und Spud geht.
Porter führt mich direkt in die Arme von drei aufgeregt tuschelnden Gestalten. Als wir abrupt stehen bleiben, heben sie die Köpfe und verstummen mit schuldbewussten Gesichtern. Ich hebe lässig die Hand zum Gruß und da beginnen sie zu lächeln und sich in flötenden Tönen vorzustellen.
„Arminius, meine Liebe, Arminius!", sagt ein hochgewachsener Kerl mit dunkler Haut und hellblauen Zöpfen zu mir. Seine Arme sind so dünn, dass ich nicht anders kann, als mir vorzustellen, wie sie durch mein Händeschütteln abbrechen. Doch er lacht nur herzlich und reicht mich direkt an den Mann neben ihm weiter, der ihm so ähnlichsieht, dass ich zweimal hinsehen muss. Nein, es sind tatsächlich zwei unterschiedliche Personen. Der zweite Mann ist ähnlich schlank und trägt dieselbe Frisur wie Arminius, den ich für seinen Zwilling halte. Allerdings hat er etwas mit seinen Augen angestellt, anstatt in einem dunklen Braun, das meinen Augen nicht unähnlich ist, strahlt seine Iris golden.
„Flavius", sagt er weniger überschwänglich.
Die dritte im Bunde ist eine untersetzte Frau. Neben den beiden Männern wirkt sie ungewohnt unförmig, obwohl mir doch ihr Körperbau gesünder vorkommt als die der Zwillinge. Ihre Haut ist blasslila gefärbt und bevor ich in Gedanken einen Witz darüber reißen kann, sagt sie selbst: „Ich bin Violetta."
Ich kichere, als ich ihre Hand nehme. Sie scheint es mir nicht übel zu nehmen, im Gegenteil, sie senkt den Kopf wie zu einer Verneigung.
„Du warst sehr furchtlos bei deiner Ernte. Ich bin froh, mit Distrikt 5 arbeiten zu dürfen, das ist hoffentlich nicht so eine Karrierebremse wie 11 oder 12."
„Dank mir in zwei Wochen", sage ich und sie lacht gekünstelt.
„Halt dich ein wenig zurück", zischt Porter neben mir. Ich merke, dass sie erst jetzt meinen Arm loslässt. Ich zucke mit den Achseln, denn sie verschwindet ohnehin im nächsten Moment und lässt mich mit den drei Kanarienvögeln allein.
Was folgt ist wohl der einzige Teil der Spiele, der nicht im Fernsehen übertragen wird: Das Schönheitsprogramm. Gemeinsam reißen Arminius, Flavius und Violetta alle Haare aus, einzig mein Kopf bleibt erstmal verschont. Ich werde gewaschen, frisiert, generell herumgeschubst wie eine Puppe. Als sie nach zwei Stunden fertig sind, bin ich ausgelaugt. Die Stimmung des Vorbereitungsteams ist jedoch ungetrübt.
„Du hast so schöne Haut!", sagt Arminius schwärmend. „Das habe ich selten außerhalb des Kapitols gesehen."
„Du warst ja auch nie außerhalb des Kapitols", sagt Flavius und beide lachen.
„Ich musste nie arbeiten", erkläre ich mich und merke noch im gleichen Augenblick, wie privilegiert das selbst für mich klingt. Die drei Kapitolbewohner sehen mich jedoch verständnislos an – als wäre meine Aussage eine normale Gegebenheit und alle anderen Tribute jährlich die Abnormalität.
„Das Mädchen von letztem Jahr hatte Verbrennungen, noch bevor sie die Arena betrat", erinnert sich Violetta. Ich beschließe, nur noch stumm zu nicken und ihnen nichts weiter über das Leben in meinem Distrikt zu erzählen. Ich bin mir nicht sicher, ob es mir überhaupt erlaubt wäre, aber viel mehr hält mich ihre Reaktion zu meiner letzten Aussage zurück. Ich bin erst wenige Stunden im Kapitol, doch der Zug und das Schönheitsequipment hier haben mir bereits gezeigt, dass das Leben hier anders ist. Alles, was wir in Distrikt 5 kennen, sind die schrille Kleidung, der Akzent und dass sie gerne dabei zusehen, wie unsere Kinder sterben. Wir kennen auch ihre Hovercrafts, beherbergen ihre Friedenswächter und haben von ihrer Medizin gehört, doch das muss nur ein Bruchteil dessen sein, wie es wirklich im Kapitol zugeht. Und obwohl es mich interessiert, weiß ich, dass für mich gerade nur eine Sache wichtig ist: Mein öffentlicher Eindruck.
Ich will Sponsoren. So viele wie möglich.
Die Hungerspiele sind eine Fernsehshow und das Publikum fährt auf Geschichten und Images ab, die man verfolgen kann, Charakteren, mit denen man leiden oder sich freuen oder einfach mitfiebern kann. Denn nichts anderes sind wir Tribute für sie, Charaktere in ihrer jährlichen Show. Und ich werde mitspielen, sie mit einer Mischung aus tragischer Lebensgeschichte und übertriebener Selbstsicherheit auf meine Seite ziehen. Wenn ich mir sicher bin, dass ich gewinnen kann, dann können sie es auch sein.
„Fertig", sagt Arminius liebevoll und zieht mich am linken Arm in eine sitzende Position. Ich stehe von meiner Liege auf und trete vor den Spiegel. Zu meiner Freude erkenne ich, dass ich mich an den meisten Stellen kaum verändert habe. Im Gesicht allerdings strahlt meine Haut. Zusätzlich haben sie mich geschminkt. Die Lider schimmern perlmuttfarben und der dicke Eyeliner glänzt wie mit purem Gold gezogen. Meine Lippen sind daran angepasst. Am fremdartigsten erscheint mir jedoch, dass meine Haare zu einem sehr strengen, sehr hohen Zopf zurückgebunden sind. Das ist nicht meine Art – normalerweise trage ich mein Haar offen.
Trotzdem ringe ich mir mein überzeugendstes Fernsehlächeln ab: „Wunderschön! Danke."
Die drei quieken beinahe vor Freude und hören erst auf, als sich hinter uns die Tür öffnet und eine Frau mit wallend grünem Haar hereinkommt, das ihr bis auf die Taille fällt. In der Hand hält sie einen großen Kleidersack und ein weißes Stück Kreide, weshalb ich sie als Stylistin erkenne. Sie selbst ist in Schwarz und Gold gekleidet, mit einem engen Outfit, das vor allem eines betont: Ihren Babybauch. Ich zucke zusammen. Ob es ein Zufall ist, mir eine schwangere Stylistin zuzuweisen? Ich spüre, wie es in meiner Brust zu brodeln beginnt.
„Hallo, Alys", sagt sie mit überraschend kühler Stimme, überspringt ihren eigenen Namen und öffnet ohne viel Federlesen den Kleidersack. „Heute Abend wirst du der Öffentlichkeit richtig vorgestellt. Natürlich wissen sie alle bereits, wer du bist. Das ist eine Stärke, die ich gerne unterstreichen wollte. Gleichzeitig habe ich dem Outfit eine Note von mir selbst mitgegeben."
Sie streicht sich roboterhaft mit der Hand über den Körper und mir wird abwechselnd heiß und kalt. Bevor einer der anderen im Raum weiß, was geschieht, springe ich auf die Stylistin zu.
„Wenn du mir irgendetwas anziehst, das auch nur ansatzweise an meine Mutter oder an ein Baby erinnert, stech' ich dich ab!", sage ich wütend. Mein erhobener Finger sticht ihr beinahe in das furchtsam erhobene Kinn. Dann stampft sie verärgert mit dem Fuß auf und pfeffert den Kleidersack in die Ecke.
„Nein", sagt sie gereizt. „Nichts davon ist mein Plan."
Sie macht einen Schritt rückwärts und hält mir das Outfit hin, das ich bei der Parade tragen soll.