3. Kapitel – Was nun?

8.8.1997

Am Abend brachte Bills Eule die Ausgabe des Tagespropheten vom Morgen. Er hatte einen Artikel markiert, der die komplette dritte Seite beanspruchte. In großen Lettern verkündete er „Professor Severus Snape zum Schulleiter von Hogwarts ernannt". Darunter war ein Bild, auf dem ein begeisterter Minister Ticknesse dem neuen Direktor die Hand schüttelte. Snape sah aus wie eine Puppe, das Gesicht ohne jede Emotion.

„Das kann doch nicht wahr sein!"

„Er hat Dumbledore ermordet und soll jetzt Schulleiter werden?"

Die beiden Zauberer machten sofort ihrem Ärger Luft. Hermione betrachtete das Bild und fühlte, wie Unruhe in ihr kribbelte. Sie begann, den Artikel zu lesen.

Der Autor stellte die dramatische Situation dar, in der sich die Schule nach dem plötzlichen Ableben Dumbledores befunden habe. Daß McGonagall Stellvertreter war und regulär die Aufgaben des Schulleiters übernommen hatte, wurde übergangen und Snape als Retter von Hogwarts dargestellt. Seine Vita wurde geschildert und seine Verdienste als Lehrer und ordnende Hand hervorgehoben. Man hatte ihm auch eine kurze Aussage zu seinen Zielen abgerungen, die Hermione mit großem Interesse las. Er strebe in Kooperation mit dem Schulbeirat eine Reform des Unterrichts und der Organisation der Schule an. Erste Änderungen seien bereits für den Beginn des kommenden Schuljahres geplant. Die vordringliche Aufgabe sei jedoch, schnellstmöglich kompetente Lehrkräfte für die offenen Fächer zu finden.

„Mehrere Fächer?" murmelte sie. Was außer Verteidigung gegen die Dunklen Künste ist denn noch frei? Furcht grub sich in ihre Eingeweide: War jemand von der Lehrerschaft verschwunden? Oder entließ Snape Kollegen, die es ihm schwer machen würden, wie McGonagall oder Flitwick? Davon war im Artikel keine Rede gewesen, doch das schloß nichts aus. Hermione durchsuchte die Zeitung, fand aber keine weiteren Hinweise auf die Geschehnisse in Hogwarts.

10.8.1997

Die drei Bewohner des alten Black-Stadthauses hatten gemeinsam gekocht. Es hatte der Gruppe gutgetan, zusammen etwas zu tun und am Schluß ein Ergebnis zu sehen. Auch wenn es nur ein Mittagessen war. Nun, gegen Ende der Mahlzeit, war die Stimmung gelöst und die Spannungen der letzten Tage waren verschwunden. Zumindest beinahe, wie Hermione dachte. Sie und Ron hatten sich nach ihrem heftigen Streit wieder versöhnt, auch dank Harry, der Boteneule und Diplomat gespielt hatte. Die vergangene Nacht hatten sie sogar wieder im selben Zimmer geschlafen. Doch ihre Beziehung hatte sich verändert, wie sie fand. Sie sah das feine Gespinst, das sie zusammenhielt, und fragte sich, was genau es war. Die Zweifel, die sie zu Beginn geplagt hatten, waren zurück. Sie liebte Ron, das wußte sie. Sie fürchtete um ihn, wenn er in Gefahr war oder sie das nur vermutete, sie genoß seine Gegenwart – meistens zumindest. Doch hatten sie auch eine Zukunft als Paar? Wären sie nicht besser dran, wenn sie ihre Freundschaft bewahrten und wieder einen gewissen Abstand hielten? Denn es gab immer wieder Momente, in denen sie sich gegenseitig furchtbar auf die Nerven gingen oder verständnislos gegenüberstanden. Vor allem störte es sie, daß er sich ihr gegenüber oft eifersüchtig und aggressiv verhielt. Warum nur? Mit Schaudern erinnerte sie sich an den Beginn des letzten Schuljahres, als er ihr ihre längst vergangene – und ziemlich unschuldige – Schwärmerei für Viktor vorgehalten hatte, um ihr kurz darauf die seine Beziehung mit Lavender förmlich ins Gesicht zu werfen. Er hatte verschiedene Maßstäbe an sein eigenes und ihr Verhalten angelegt. Würde er das weiterhin tun? Daß er sie wegen Harry so angefahren hatte, deutete darauf hin.

Ihre Überlegungen wurden von einem ohrenbetäubenden Knall unterbrochen, bei dem sie alle vor Schreck das Besteck fallen ließen. Etwas grob Menschenähnliches wand sich auf dem Küchenfußboden. Eine Sekunde später war Harry aufgesprungen. Sein Stuhl knallte auf den Boden. Eine kleinere Gestalt löste sich von der Person auf den Fliesen, und Hermione holte ihren Zauberstab aus der Tasche. Dann erkannte sie Kreacher, der sich vor Harry verbeugte.

„Kreacher bringt den Dieb Mundungus Fletcher, Meister."

„Danke, Kreacher."

Während Harry auf den Elfen konzentriert war, hatte Hermione gesehen, wie Mundungus, nun auf der Seite liegend und auf einen Ellenbogen gestützt, den Zauberstab zog. Sie zögerte keine Sekunde.

Expelliarmus!"

Die Person auf dem Fußboden stieß ein furchtsames Jammern aus, als der Zauberstab sich aus seiner Hand wand. Hermione fing ihn auf. Mundungus versuchte, sich aufzurappeln und in Richtung Tür zu entkommen. Am Rande ihres Gesichtsfeldes sah die Hexe, daß sich Ron in Bewegung setzte. „Incarcerus!"

Ein dünnes, honigbraunes Seil entstand an der Spitze ihres Zauberstabes und wand sich um den Flüchtigen.

„Nein, laßt mich gehen!" rief er und versuchte, fortzukriechen, wie die Made die, er war. Ron war mit wenigen Schritten bei ihm, ergriff seinen Kragen und setzte ihn auf, wobei er von hinten seine Schultern hielt. Harry ließ sich vor ihm auf ein Knie nieder und hielt ihm den Zauberstab ins Gesicht, so nahe, daß er ihn beinahe in die Nasenspitze piekte.

„Laßt mich gefälligst gehen!"

„Erst wenn du geredet hast."

„Was wollt ihr von mir? Ich habe nichts getan!"

Hermione stand am Rand, gegen den Küchentisch gelehnt, den Zauberstab locker in der Hand und beobachtete das Verhör. Sie empfand kein Mitleid mit dem feigen Dieb, doch etwas in Harrys Stimme und seinen Bewegungen ließ sie frösteln. Es schien ihm Freude zu bereiten, dieses Häuflein Mensch in Angst zu versetzen.

„Du hast das Haus ausgeräumt."

„Es ist immernoch wegen den paar Bechern und Bestecken? Sirius hat sich nichts aus dem Plunder gemacht, und von irgendwas muß ich auch leben!"

Jetzt piekte Harry ihm tatsächlich den Zauberstab ins Gesicht, gegen die Stirn.

„Wie kommst du dazu, Sirius' Namen auch nur auszusprechen? Er ist sofort gekommen, um zu helfen. Du hast dich verkrochen, sobald du von Dumbledores Tod erfahren hast."

„Ich hatte Angst!" jaulte er und versuchte, nach hinten zu entkommen. Doch dabei drückte er sich nur fester gegen Rons Schulter.

„Das hatten wir auch", sagte Hermione. „Trotzdem sind wir nicht einfach weggelaufen, und auch niemand sonst aus dem Orden."

„Ihr seid alle große Helden, nur ich bin keiner", jammerte er. „Ich hätte gar nicht erst mitmachen sollen, aber Dumbledore hat mich gebeten, er hat gesagt, daß er jemanden braucht, der viele Leute kennt-"

„Hör auf zu heulen!" unterbrach ihn Harry. „Wir lassen dich gehen wenn du uns gesagt hast, was wir wissen müssen."

Die Made nickte, den Blick auf die Spitze des Zauberstabes gerichtet, der noch immer direkt vor seinem Gesicht schwebte.

„Du hast auch den Küchenschrank ausgeräumt. Da muß ein goldenes Medaillon drin gewesen sein. Erinnerst du dich daran?"

„Kann sein…"

„Streng dich an. Wir müssen wissen, wo es ist. An wen hast du es verkauft?"

„Ich weiß es nicht mehr." Jetzt heulte er wirklich.

„Denk nach. Muß ich nachhelfen?"

„Nein, nein! Bitte nicht! Ich wollte die Sachen schnell loswerden, darum habe ich sie nicht auf der Straße verkauft. Das meiste hab' ich an 'nen anderen Händler verkauft. Ich treffe ihn im ‚Schimmligen Apfel' in der Nocturngasse. Er nennt sich Onkel Aurelius. Den Rest hab' ich zu ‚Birchwoods Antiquitäten' gebracht, ein paar Sachen auch zu Borgin & Burkes in der Nocturngasse. Ich weiß nicht mehr, was wo gelandet ist. Bitte, bitte laßt mich gehen."

„Verdammt, bist du überhaupt zu irgendwas zu gebrauchen?"

„Wo ist ‚Birchwoods Antiquitäten'?" mischte sich Hermione wieder ein.

„Am Mondscheinplatz in Edinburgh."

„Ich weiß wo das ist", sagte Ron.

„Mehr weiß ich nicht, wirklich. Ich werde niemandem sagen daß ihr hier seid." Inzwischen konnte selbst Hermione, die noch immer am Küchentisch lehnte, Mundungus' Angstschweiß riechen. Er wimmerte und versuchte wieder, sich aus dem Seil und Rons Griff zu winden. Harry wirkte unschlüssig. Das konnte Hermione gut verstehen: Auch sie würde diesem Häufchen Elend nicht weiter trauen, als sie spucken konnte.

„Ich habe mich sehr intensiv mit Gedächtniszaubern beschäftigt", sagte sie. „Ich bin sicher, daß ich einen Obliviatezauber korrekt ausführen kann."

„Gibt es auch etwas was du nicht kannst?" fragte Ron, und sie fühlte ein Stechen, als ihr klar wurde, daß sie darüber nachdachte, ob es Bewunderung war oder Spott.

„Sehr gut, mach das", sagte Harry mit hörbarer Erleichterung.

Hermione entfernte die Erinnerung an das Verhör und auch an das Ringen mit Kreacher. Als der Zauberer schließlich mit glasigem Blick vor ihr saß rief sie das Seil zurück, das ihn fesselte. Harry wandte sich an den Elfen:

„Kreacher, bitte bring ihn dorthin zurück, wo du ihn gefunden hast, und dann komm wieder her."

„Ja, Meister."

Bevor er einen Arm der Made ergriff und mit einem lauten Knall verschwand glaubte Hermione, Bedauern in seiner Miene zu sehen.

11.8.1997

Das kupferne Glockenspiel läutete klar wie Winterluft als sie die Tür öffnete. Drinnen empfing sie Teeduft, die zarten Aromen von grünem Tee, die kräftigeren von Schwarzem, dazu Frucht- und Blütennoten. Darunter lag ein Hauch von Zimt und etwas Erdiges. Im Schaufenster standen Teegeschirr und Gläser mit Kräutern. Der vordere Teil des Ladens enthielt überwiegend Utensilien wie Siebe, Dosen, Geschirr, aber auch Kandis, dazu die beliebtesten Hausmischungen in vorbereiteten Tüten. Ein Regal beherbergte Kräuteressige. Eine Theke, auf der mehrere Waagen standen, teilte das hintere Drittel des Raumes ab. Dahinter befand sich eine Regalwand, in der sich dunkelblaue Dosen bis unter die Decke reihten. Auf jeder glänzte ein silbriges Schild. Auf der linken Seite führte ein kleiner Durchgang mit einem nachtblauen Vorhang in die hinteren Räume.

Der Laden war Millicent vertraut. Sie war nur zwei- bis dreimal im Jahr hier, doch das recht regelmäßig, seit sie nach Hogwarts ging. Ihre Augen wanderten über die Dekoration und jene Auslangen, die sich seit ihrem letzten Besuch verändert hatten. Sie mußte nicht lange warten. Bald nach dem Ruf des Glockenspiels kam ein Zauberer in einer schlichten Robe vom selben Blau wie die Teedosen nach vorn. Sein Anblick brachte eine Dissonanz an den vertrauten Ort. Mr. Davis war recht zierlich für einen Mann, doch seine Präsenz hatte stets den Raum gefüllt. Sein ganzes Sein hatte Begeisterung für seine Tees, Tincturen und Öle ausgestrahlt, eine stille, höfliche Freude, die einnahm, ohne sich aufzudrängen. Nun wirkte er müde. Seine Haut war fahl und das Lächeln die Maske eines Händlers.

„Guten Tag, was kann – Millicent, Hallo!"

Als er sie erkannte sprang echte Freude in sein Gesicht und seine Stimme.

„Guten Tag Mr. Davis. Ist Tracy hier?"

„Nein, Tracy und Lili sind in Danzig, bei den Großeltern. Sie kommen kurz vor Schulbeginn wieder. Ich kann einen Brief für dich weiterleiten, wenn du möchtest."

Millicent fluchte innerlich. Daran hätte sie denken können. Tracy verbrachte jedes Jahr einen Teil ihrer Sommerferien dort.

„Nein, danke. Das bespreche ich lieber persönlich mit ihr, wenn sie wieder da ist. Bitte richten Sie liebe Grüße aus."

„Das werde ich tun."

Die Hexe zögerte. „Geht es Ihnen gut?" fragte sie dann.

„So gut es uns im Moment gehen kann", war die vorsichtige und doch vielsagende Antwort. Wahrscheinlich war nichts Ernstes passiert, aber sie machten sich Sorgen. Millicent kaufte etwas von dem schwarzen Tee mit Zitrone, den sie im Sommer sehr mochte, und verabschiedete sich.

Die Winkelgasse hatte sich verändert. Die Erinnerungen an ihre ersten Ausflüge dorthin hütete Hermione wie einen Schatz: an jeder Ecke etwas Neues, Unglaubliches, und ein lebhaftes Gewusel von Menschen, viele davon in farbenprächtigen Roben. Familien, die die Schulausstattung für ihre Kinder kauften, Hexen und Zauberer auf der Suche nach Lebensmitteln, Kleidung, absonderlichen Haushaltwaren und manchem mehr. Gäste in Straßencafés, Eis in unzähligen Sorten, Süßwaren mit Eigenleben, ihr erster Kürbissaft. Im letzten Jahr war die Straße leerer gewesen, etliche Geschäfte geschlossen, die Leute vorsichtig und in Eile. Nun, eine Woche nachdem Voldemort das Ministerium unter seine Kontrolle gebracht hatte, herrschte eine Art geisterhafte Normalität. Es waren weniger Menschen unterwegs als gewöhnlich, aber mehr als ein Jahr zuvor. Man spürte keine ausgelassene Freude, doch auch nicht die Furcht, die sie zuletzt gesehen hatte. Vielmehr lag eine gespannte Erwartung über dem magischen London.

Sie waren unterwegs zur Nocturngasse. Ron und sie selbst trugen die Gestalten von Muggeln fortgeschrittenen Alters, faltig und weißhaarig, in schweren altmodischen Roben, die Sirius' Kehraus entgangen waren. Harry folgte ihnen unter dem Tarnumhang. Sie wollten zu Borgin & Burkes und sich anschließend nach dem Hehler umhören, der den größten Teil des gestohlenen Black-Inventars erworben hatte.

Am Rande ihres Gesichtsfeldes sah sie eine Person aus einem Laden kommen, die ihr vage bekannt vorkam. Eine kräftig gebaute Hexe in Kleidern, die sie sonst an Jungen gesehen hatte, und mit kurzen schwarzen Haaren. Ist das Bulstrode? In Schuluniform sieht man so anders aus… Ein Grund mehr, nicht in diesen Laden zu gehen. Das Geschäft, das die Schwarzhaarige verlassen hatte, war ein Teeladen, in dem sie in den Ferien vor dem dritten Schuljahr gewesen war. Ein sehr schöner Laden, doch seit sie herausgefunden hatte, daß er den Eltern ihrer Mitschülerin Tracy Davis gehörte, die mit Pansy herumzog und diejenigen schikanierte, die keinen jahrhundertealten magischen Stammbaum hatten, war sie ihm ferngeblieben.

Die Nocturngasse war so geschäftig wie bei ihren letzten Besuchen, vielleicht sogar ein bißchen mehr. Vor allem gab es weniger Menschen, die sich eilig und verstohlen hier bewegten, als wollten sie nicht von jemandem gesehen werden, der sie kannte. Offenbar war es nun für weniger Leute anrüchig, hier Besorgungen zu erledigen.

„Schaffst du das?", flüsterte sie Ron zu. Sie hatte ihre Hand in seinen Arm gelegt und so flanierten sie die Straße entlang.

„Na klar, ich bin doch nicht blöd!"

„Das natürlich nicht, aber auch kein geübter Schauspieler."

„Aber du, ja?"

Der Ton war zunehmend giftiger geworden, und das Flüstern lauter. Hinter ihnen erklang ein „Sscht!", woraufhin sie schuldbewußt schwiegen.

Borgin & Burkes war so staubig und düster wie im vergangenen Sommer. Die Glocke läutete bei ihrem Eintreten, und aus dem hinteren Teil des Ladens rief eine altersrauhe Stimme „Einen Moment bitte!". Hermione besah die ausliegenden Schmuckstücke. Ein Seitenblick offenbarte, daß Ron mit verkniffenem Mund und krausgezogener Nase die Schrumpfköpfe anstarrte, die ein Regalbrett in der Nähe füllten. Sie trat ihm sanft gegen den Fuß. Er räusperte sich und schaute sich um, darum bemüht, interessiert statt angewidert auszusehen.

„Was kann ich für Sie tun?"

„Ich habe eine kleine aber feine Sammlung verzauberter Schmuckstücke, die ich gern erweitern würde. Haben Sie gerade etwas Interessantes da?"

Der Alte kniff die Augen zusammen und brummte leise, bevor er antwortete.

„Erst vor einer Woche habe ich etwas hereinbekommen, das Ihnen gefallen könnte. Warten Sie einen Moment."

Er brachte ein Halsband aus Silber und Bergkristall, das bei Hautkontakt einen Fluch übertrug, der Tage später zu zunehmender Müdigkeit und Schwäche führte.

„Tragen Sie es auf einem Kleid mit hohem Kragen und berühren Sie es nur mit Handschuhen. Verleihen oder verschenken Sie es an eine Konkurrentin und sehen Sie zu, wie sie verwelkt."

„Faszinierend. Haben Sie auch verfluchte Medaillons?"

Mr. Burke zeigte ihnen noch einige Stücke aus Silber und Gold, auch eines aus Kupfer, verziert mit Smaragden. Zwei trugen Schutzzauber, die anderen waren eher finsterer Natur. Hermione tat, als fiele es ihr schwer, sich zu entscheiden, pries die Verarbeitung, die Komplexität der Magie, zeigte sich erfreut von ungewöhnlichen Zaubern. Ron überließ weitgehend ihr das Reden, stellte nur gelegentlich eine Frage nach der Herkunft oder der eigenen Sicherheit beim Umgang mit dem verfluchten Objekt. Die Laune des Händlers wurde immer schlechter, je länger sich das Gespräch hinzog. Seine Mundwinkel zuckten und wanderten nach unten, seine Antworten wurden knapper. Schließlich sprach er einen Zauber und jegliches Geschmeide verpackte sich wieder und schwebte zurück in die Schränke und Schubladen, aus denen es gekommen war. Er stützte die Hände auf die nun leere Theke.

„Entweder Sie verraten mir, wonach Sie wirklich suchen, oder Sie hören auf, meine Zeit zu verschwenden."

Hermione schluckte und spürte, wie ihre Wangen warm wurden. Sie wechselte einen Blick mit Ron, der erschrocken dreinsah, ein komischer Anblick im Gesicht des älteren Herrn, in den er sich gekleidet hatte. Er faßte sich rasch wieder und räusperte sich.

„Wir haben von einem goldenen Medaillon gehört, mit Smaragden drauf, als großes ‚S'", brachte er hervor.

„So etwas habe ich noch nie gesehen. Gehen Sie bitte."

„Wirklich nicht?", fragte Hermione weiter, „Und wenn Sie-"

„Ich sagte, gehen Sie."

In seiner Stimme klirrte Eis, und er hatte den Zauberstab aus der Tasche geholt.

„Auf Wiedersehen", brachte sie hervor. Ihr Hals fühlte sich trocken an unter dem Blick des Alten. Im selben Moment flüsterte die Luft neben ihr mir Harrys Stimme „Stupor!", und Burke ging zu Boden.

„Du hast..."

„Ja, ich hab ihn ruhiggestellt", sagte er, noch immer unter dem Tarnumhang verborgen.

„Aber, das ist doch.. Du hast gerade einem alten Mann einen Schockzauber verpaßt!"

„Der hat uns mit Sicherheit belogen, und er hat Malfoy geholfen."

„Aber-"

„Nun fang schon an zu suchen!", rief Ron ihr zu. „Großartig, Harry!"

Er hatte bereits die Theke umrundet und wandte sich den Schränken zu. Hermione nahm einen tiefen, keuchenden Atemzug. Dann holte sie den Zauberstab hervor und setzte sich in Bewegung.

„Warte, die Schränke sind bestimmt gesichert."

Mit großer Sorgfalt überprüfte sie die Schubladen des Tisches, bevor sie sie öffnete. Es lagen tatsächlich Sicherungszauber darauf, und im Stillen dankte sie Bill und der gut ausgestatteten Bibliothek der Blacks dafür, daß sie sie alle kannte und lösen konnte. Die Magie selbst war nicht sonderlich komplex, aber es waren Zauber dabei, die in Hogwarts nicht zu finden waren. Dann beschwor sie für die beiden Zauberer und sich noch Handschuhe. Es wäre sicher nicht klug, in diesem Geschäft irgendetwas mit bloßer Haut zu berühren.

Die Schubladen offenbarten Kisten mit allerlei wundersamen Dingen. Schreibfedern aus schillerndem Opalglas, Beinschnitzereien, gelbes, brüchiges Pergament, ein Paar Ohrringe aus Silber und Amethyst, Ringe aus verschiedensten Materialien ... Hermione konnte kein System darin erkennen. Es mußte mit der Herkunft der Dinge oder den darauf liegenden Zaubern zu tun haben.

„Es ist nicht hier. Verdammt!"

Harry trat gegen ein Regal, was durch ein Klirren der Glasgeräte im zweiten Fach von oben beantwortet wurde.

„Schauen wir hinten nach, es gibt bestimmt ein Lager", sagte Ron.

Ein Vorhang aus schwarzen und elfenbeinweißen Perlen trennte den Verkaufsraum von den übrigen Räumen des Geschäfts.

Dahinter lag ein Chaos aus Schränken, Kisten, Staub und Spinnweben unterschiedlichen Alters.

„Wie sollen wir hier irgendwas finden?"

Rons Stimme war hohl und seine Augen weit aufgerissen. Er taumelte durch das Gebirge von Dingen, ohne daß sein Blick an etwas Halt fand.

Auch Hermione fühlte eine Welle von Resignation und Verzweiflung, kalt und dumpf wie Kellerluft. Sie hatten einfach nicht die Zeit, das alles zu durchsuchen. Jeden Moment konnte ein Kunde den Laden betreten, und der Zauber, der Burke ausgeschaltet hatte, würde nicht ewig anhalten.

Harrys Augen huschten durch den Raum, und die Hexe konnte ihm ansehen, daß es in seinem Kopf arbeitete. Während ihr Hirn nach Strategien suchte, die Plätze zu finden, an denen der Händler seine wertvollsten Stücke versteckt und gesichert haben konnte, hob der Zauberer den Stab.

Accio Slytherins Medaillon!"

Nichts regte sich.

„Geniale Idee", rief Ron vom anderen Ende des Zimmers. „Versuchs noch mal."

Doch auch bei den nächsten Versuchen tat sich nichts. Hermione setzte sich in Bewegung, bedachte alle Behältnisse mit Analysenzaubern. Sie suchte nach Flüchen und Sicherungen.

„Er läßt sowas sicher nicht einfach irgendwo herumliegen", rief sie den Jungen zu. Unverständliches Grummeln war die Antwort.

Hermione konzentrierte sich weiter darauf, den am besten gesicherten Platz in diesem Sumpf zu finden. Staub und Geräusche zeigten ihr, daß auch die Jungen weitersuchten, doch sie schenkte ihnen keine Beachtung. Die Aufgabe erforderte ihre volle Aufmerksamkeit. Schließlich entschied sie sich für eine kleine Kommode aus dunklem Holz mit zahlreichen Schubladen. Schnitzereien und silberne Griffe und Beschläge deuteten einen hohen Wert des Möbelstücks an, und es schimmerte förmlich von Magie.

Die Zeit verschwamm, während sie sich systematisch durch das Netz aus Zaubern arbeitete. Leises Summen, Lichtsignale, unter ihrem Stab kurz aufglühende Fäden in staubbedeckter Ewigkeit. Sie fühlte sich wie in Watte gepackt, entrückt, als stünde sie einen halben Schritt neben der Zeit, als sie die erste Schublade öffnete. Sie offenbarte Edelsteine in verschiedenen Farben und Schliffen und einen opulenten goldenen Halsschmuck, der große Teile von Brust und Schultern bedecken mußte.

Jemand klopfte ihr auf die Schulter. „Cool, du hast es geschafft", erklang Rons Stimme in weiter Ferne.

Sie suchten weiter, öffneten Schublade um Schublade. Federn und glänzende Schuppen kamen zum Vorschein, Schnitzereien aus Elfenbein, der Schädel eines Drachenjungen, kaum größer als der eines mittleren Hundes, Schmuckstücke, deren Material allein ein Vermögen wert sein mußte. In Seide gebettet lag ein Glasgefäß, von dem sich Hermione dunkel daran erinnerte, es auf einer Abbildung in einem Buch über die Kunst der Alchimie gesehen zu haben. Doch das Medaillon blieb verschwunden.

Der helle Ton der Glocke ließ sie erstarren.

„Guten Tag. Mr. Burke?"

„Mist. Wir müssen hier raus." Harrys Stimme war ein sachtes Rascheln wie von trockenem Gras im Wind. Die beiden anderen nickten.

Es mußte eine Hintertür geben. Hermione schlich zum Flur. Sie war noch nicht weit gekommen, als hinter ihr ein Schrei von Überraschung und Schmerz kündete. Der Blick zurück offenbarte Ron, glücklicherweise noch immer nicht er selbst, der entsetzt seine rechte Hand anstarrte. Sie war purpurrot und schwoll rasch an. Aus dem Verkaufsraum erklang Rumpeln und Klirren, doch die Hexe eilte zu ihrem Freund.

„Was hast du jetzt bloß angestellt?"

„Mach daß es aufhört!"

„Zeig her." Sie sprach einen Gegenfluch nach dem anderen, doch alles was sie erreichte war, daß die Hand aufhörte, weiter anzuschwellen. Allerdings war sie schon ungefähr doppelt so groß wie normalerweise.

„Das fühlt sich an wie ein ganzer Ameisenhaufen", jammerte Ron.

„Wo bleibt ihr denn?"

Harry stand in der Tür, die Kapuze des Tarnumhangs zurückgeworfen, sodaß sein Kopf in der Luft zu schweben schien. Wie ein Blitz schoß das Entsetzen durch Hermiones Körper.

„Setz die Kapuze auf!", zischte sie. „Wir kommen."

Einen noch immer jammernden Ron hinter sich herziehend eilte sie durch die staubige Landschaft nach draußen. Im Eingangsbereich mußte sie über den Körper des Kunden steigen, der sie beinahe überrascht hatte. Harry hatte auch ihn mit einem Schockzauber außer Gefecht gesetzt. So wie der Mann auf dem Boden lag, hätte er auch tot sein können. Eine Gänsehaut kroch über ihren Rücken.

Der Weg durch die magischen Straßen bis in die Apparierzone war ein verwaschener Alptraum. Die Leute starrten sie an, und eine Hexe versuchte, sie aufzuhalten. Hermione verstand nicht, was sie sagte. Aus dem Nichts traf die Frau ein Wabbelbeinfluch, sodaß sie abgelenkt war, und die Flüchtigen rannten weiter. Erst in der Eingangshalle von Sirius' Elternhaus kamen sie wieder zur Ruhe.

Diese Haare können wir nicht mehr benutzen, kroch es durch Hermiones noch halb betäubten Kopf. Im nächsten Augenblick wurde sie völlig in die Gegenwart gerissen, als Rons Stimme neben ihr erklang:

„Mist, das wird wieder schlimmer! Mach doch was!"

„Hör auf so zu zappeln!"

Mit welchem Spruch hatte sie den Fluch aufgehalten? Sie hatte so viele benutzt, und sie schwammen ineinander. War die Reihenfolge wichtig? Zitternd vor Aufregung probierte Hermione die Zauber durch, von denen sie glaubte, daß sie die letzten vor ihrem kleinen Erfolg gewesen waren. Beim fünften Versuch gelang es wieder: Das Wachstum stoppte, das Pulsieren ließ nach, und Ron entspannte sich. „Besser", japste er. „Danke."

„Und jetzt?" fragte Harry mit besorgter Miene.

„Jetzt brauchen wir Bill. Er hat die Woche noch Urlaub, richtig?"

Ron nickte. Die Hexe beschwor ihren Patronus und schickte ihn fort, Hilfe zu holen.

Die folgenden Tage waren wie eine kakteenbewachsene Halbwüste. Man mußte achtgeben, wo man sich wie bewegte und wurde dennoch immer wieder gestochen. Bill war zu Hilfe geeilt, so schnell er konnte. Selbst ihn hatte es einige Mühe gekostet, doch er hatte seinen kleinen Bruder von dem Fluch erlösen können. Hermione hatte zugesehen, Fragen gestellt, versucht, so viel wie möglich zu lernen. Ron hatte ihr das später vorgehalten und gesagt, er habe sich gefühlt wie die Tiere, an denen sie im Unterricht die Zauber übten. Daraufhin hatte sie erklärt, daß sie sich nicht darauf verlassen könnten, immer Hilfe von anderen zu bekommen und daß sie deshalb lernen müßten, sich selbst zu helfen. Vielleicht war sie dabei eine Spur zu laut gewesen, denn der Rotschopf warf ihr ein „Du glaubst auch, man kann alles mit lernen lösen" entgegen und verließ türenknallend das Zimmer.

Danach gingen sie wie auf Glas. Gelegentlich beteiligte sich auch Harry an den Streitereien, anstatt wie zuvor zu schlichten, und ranuzte beide abwechselnd an. Die Frustration darüber, daß sie das Medaillon nicht hatten finden können, machte es nicht besser.

Nach zwei Tagen beruhigten sich die Gemüter. Der Frust war geblieben, aber man verzichtete darauf, sich gegenseitig anzugiften. Hermione fühlte sich noch immer verletzt, doch der Ärger war verraucht. Sie war einsam und fand sich bereit, über den Streit hinwegzugehen, obwohl es sie wurmte, daß Ron keinerlei Anstalten machte, sich zu entschuldigen. Als sie sich beim Frühstück neben ihn setzte, war es, als lockere sich etwas, das in letzter Zeit überspannt gewesen war. Der Lohn war ein zaghaftes Lächeln, aus dem bald darauf Rons ansteckendes Grinsen wurde.

Ab diesem Abend teilten sie wieder ein Zimmer, und Hermione genoß es, nicht allein zu sein. Nur der Gedanke an Harry, der nur mit seiner Eule zur Gesellschaft im Dunkeln lag und sicher an Ginny dachte, brachte ihr einen Hauch Wehmut.

14.8.1997

Der Koffer war bereits vollgepackt mit Kleidung und absonderlichen Gegenständen. Ein Stapel Kessel in verschiedenen Größen und Materialien steckte in einer Ecke, der kleinste gefüllt mit Strümpfen. Weitere Strümpfe beherbergten Glasfläschchen. In einer anderen Ecke ragte ein Besenstiel hervor, der der Raumdiagonale folgte, obwohl der Koffer unmöglich einen Besen von normaler Größe fassen konnte. Dazu kamen noch mehr Gläser und Dosen, Bücher und Instrumente aus Metall und Glas, sorgfältig gepolstert durch Kleidungsstücke. Davor stand eine Frau in einem weiten meeresblauen Rock und cremefarbener Bluse. Ein dicker dunkelroter Zopf fiel ihren Rücken herab fast bis zur Taille. Sie griff einen weiteren Kleiderstapel, legte ihn in den Koffer und setzte eine Waschtasche daneben. Das Gepäck ragte nun deutlich über den Koffer hinaus, doch sie drückte es mit beiden Händen leicht hinein, wodurch der gesamte Inhalt ein Stück nach unten sank. Die Frau schloß den Koffer und stellte ihn beiseite, aufmerksam beobachtet von einer etwa fünf Fuß langen Natter, die sich auf dem Kopfkissen des schmalen Bettes ringelte. Die Schuppen des Tieres glänzten weinrot. Den Rücken entlang lief ein violetter Streifen, die Bauchseite hingegen, die die Schlange beim Aufrichten des Vorderkörpers offenbarte, war elfenbeinweiß. Die Zunge fuhr aus dem Maul, bewegte sich auf und nieder und wurde wieder zurückgezogen. Es folgte ein scharfes Zischen.

„Es läßt sich nicht ändern, Nimue. Du wirst nachher in die Tasche müssen."

Die Schlange zischte noch einmal und verbarg den Kopf unter ihren Windungen. Die Frau nahm einen Stab vom Nachttisch und trat vor den Wandspiegel. Sie mochte Ende zwanzig sein, doch ihre Augen wirkten deutlich älter. Ein Schatten lag darauf, der das leuchtende Saphirblau trübte. Sie hob den Stab an ihren Kopf und führte murmelnd kleine Bewegungen aus. Fahles Aschblond kroch über das Rot ihres Zopfes. Als die letzte Strähne die gewünschte Farbe angenommen hatte wandte sie sich den Augen zu und legte einen Grauschleier darüber. Dann hellte sie Brauen und Wimpern auf, um sie den Haaren anzupassen.

Sie kehrte zum Bett zurück und zog ihren Paß aus der Tasche. Ein Tippen mit dem Zauberstab, und das Bild paßte sich ihrer neuen Erscheinung an. Die Hexe ließ den Stab in einem ihrer Kniestrümpfe verschwinden und wandte sich der Schlange zu.

„Komm, Nimue, das erste Stück der Reise kannst du dich an mir festhalten."

Sie streichelte die Schuppen des ovalen Kopfes, und die Natter schob sich die Hand entlang und ringelte sich um den Arm. Rasch verschwand der Kopf im Ärmel, der Körper folgte Stück für Stück. Die Bewegung des Stoffes ließ ihren Weg erkennen, bis sich das Tier schließlich völlig der Sicht entzog, als es sich unter der gerade geschnittenen Bluse um die Taille der Hexe legte. Diese schloß den Knopf am Ärmel, griff Jacke und Gepäck und verließ das Zimmer.

13.8.1997

Die Schatten waren ein gutes Stück durchs Zimmer gewandert in der Zeit, die Hermione im Lesesessel verbracht hatte, den Gedichtband auf dem Schoß, den Dumbledore ihnen hinterlassen hatte. Der letzte Rest ihres Tees war kalt und von den Keksen zeugte nur noch ein bekrümelter Teller. Sie hatte mehrere Blätter mit Notizen gefüllt, die längst nicht so systematisch waren wie gewöhnlich. Dieses Buch war ein Rätsel. Es war nicht gedruckt, sondern handgeschrieben. Oder, korrigierte sie sich in Gedanken, wahrscheinlich hatte eine selbstschreibende Feder diese Zeilen nach Diktat zu Papier gebracht. Die Schrift paßte zu den Beispielen, die sie von Dumbledores Handschrift gesehen hatte. Vermutlich hatte er diese Sammlung selbst zusammengestellt. Doch da endeten die halbwegs sicheren Informationen. Wie so oft in den letzten Wochen grübelte sie, ob in Inhalt und Reihenfolge der Verse eine Botschaft versteckt war. Es würde zu dem alten Zauberer passen, wichtige Informationen in Rätseln zu verbergen. Andererseits ... vielleicht war es ihm einfach darum gegangen, dieses sehr persönliche Büchlein weiterzugeben und sie biß sich vergeblich die Zähne daran aus.

Es ging um Träume, um Pfade im Nebel. Eine Ballade erzählte von einer Suche, die erst gelang, als der Erzähler die Augen schloß. Ein Gedicht sprach von Gedanken, die Spuren hinterließen. Diese Themen tauchten in wechselndem Gewand immer wieder auf und sie kam nicht umhin, dabei an ihre eigene Suche zu denken. Eine Suche mit wenigen Spuren, bei der jeder Hinweis sich auflöste, sobald man ihm folgte.

Die Hexe legte das Buch beiseite und rieb sich die müden Augen. Nun, da sie nicht mehr auf ihre Aufgabe konzentriert war, machte sich Hunger bemerkbar. Ein Blick auf die Armbanduhr bestätigte, daß sie den ganzen Nachmittag in dem kleinen Salon mit den bequemen Sesseln verbracht hatte und es längst Essenszeit war. Sie stand auf, streckte sich und machte sich auf den Weg zur Küche.

Essensgeruch hing in der Luft, als sie die Tür öffnete. Der Tisch war gedeckt und es stand ein Topf darauf, in den Ron gerade hineinschmulte. Mißtrauen lag auf seinen Zügen. Als sie hineinkam hob er den Blick.

„Da bist du endlich. Wo hast du dich denn verkrochen?"

„Im dritten Stock ist ein gemütlicher kleiner Raum mit Sesseln und Sofas. Dort habe ich gelesen."

„Was auch sonst."

Der Zauberer rollte mit den Augen und wandte sich wieder dem Topf zu.

„Ob das wohl eßbar ist?"

„Was ist es denn, und wo ist Harry?"

„Unterwegs. Kreacher hat gesagt, er sollte für uns kochen."

„Aber er wußte nicht, wo Harry ist?"

Sorge breitete sich in ihr aus. Was, wenn er etwas Unvorsichtiges unternommen hatte? Meist kochte Harry das Essen, weil er darin von ihnen das größte Geschick besaß, oder die meiste Übung. Er war von seiner Tante häufig zu Küchenarbeiten verpflichtet worden. Die beiden anderen halfen bei Zuarbeiten wie Gemüse putzen und reinigten nach dem Essen das Geschirr. Manchmal übernahm auch Hermione das Kochen und bereitete eines der wenigen Gerichte zu, die sie ohne Kochbuch beherrschte.

Daß Harry sich einfach ohne Absprachen davongeschlichen hatte, ließ nichts Gutes ahnen.

„Der kommt schon wieder", sagte Ron, doch er klang, als wolle er das nicht nur ihr, sondern auch sich selbst versichern.

Sie aßen schweigend. Kreacher hatte einen simplen Eintopf für sie zubereitet. Es schmeckte nicht überragend gut, war aber genießbar. Seit die drei Jugendlichen versuchten, das Medaillon zu finden und den Auftrag zu vollenden, den sein geliebter Meister ihm gegeben hatte, verzichtete der Elf darauf, sie seinen Unmut spüren zu lassen. Er hielt in aller Stille das Haus einigermaßen in Ordnung und ging ihnen dabei aus dem Weg.

Nach dem Essen gingen sie in die Bibliothek und machten es sich auf einem Sofa bequem. Hermione ließ sich zu einer Partie Schach überreden, die sie verlor. Ron schlug sie fast immer. Er sah stets weiter voraus als sie, sosehr sie sich bemühte. Das wurmte sie und war Ansporn, besser zu werden – in der zweiten Klasse hatte sie auch Schachbücher gelesen. Gleichzeitig war sie stolz auf ihren Freund.

Die Hexe huschte hinunter in die Küche, um zwei Tassen Kakao zuzubereiten. Das Haus war still. Als sie mit den sahnegekrönten Bechern zurückkehrte, spielte Ron wieder mit dem Deluminator. Sie stellte die Schokolade auf den Couchtisch.

„Hast du noch nicht genug davon?"

„Oh, großartig! Danke." Er ergriff eine Tasse und nahm einen langen Zug. „Mmm, der ist toll, fast so gut wie von Mum." Sein Blick wanderte zu dem magischen Artefakt in seiner Hand. Die nächsten Worte waren langsamer, nachdenklicher.

„Ich weiß nicht. Das Ding ist faszinierend. Und ich werde das Gefühl nicht los, daß mehr dahintersteckt. Harry sieht das auch so, aber wir haben keinen blassen Schimmer, was da noch sein soll. Ob es etwas mit diesem seltsamen Buch zu tun hat?"

„Du meinst, sie hängen zusammen?"

„Ja. Dumbledore hat sehr langfristig geplant und immer nur so viel Information herausgegeben, wie nötig war, um uns an genau die richtige Stelle zu bekommen. Er hat Hinweise gegeben, von denen er wußte, daß wir ihnen nachgehen würden, auch wenn wir das eigentlich nicht durften. Bestimmt hat er sich etwas dabei gedacht, uns diese Sachen zu geben. Vielleicht muß man das Buch mit Licht lesen, das man mit dem Deluminator eingefangen hat oder so."

„Hmm. Ich denke auch, daß in den Gedichten etwas verborgen sein könnte, aber daß es so einfach ist..."

„Probieren wir es aus."

Über die nächsten Stunden experimentierten sie mit allen Lichtquellen, die sie im Haus auftreiben konnten. Sie testeten verschiedene Kerzen, Kamin- und Herdfeuer, magische Lichter und die Taschenlampe, die Hermione eingepackt hatte, und Kombinationen daraus. Sie sperrten Lichter allein oder gemeinsam und unterschiedlich lange in das Artefakt, entließen sie wieder und betrachteten dann das Buch in deren Schein. Doch es veränderte sich nichts. Schließlich saßen sie spät nachts in der Küche vor der dritten Tasse Kakao. Hermiones Augen brannten und in ihr brodelte es. Warum hatte dieser alte Sack nur in Rätseln sprechen müssen? Wahrscheinlich wären sie längst fertig, wenn er gleich alles auf den Tisch gelegt hätte anstatt sie Scheibchen um Scheibchen erraten zu lassen. Ron hatte auch wieder angefangen zu sticheln und über die vielfarbigen Tabellen zu spotten, mit denen sie die Ergebnisse ihrer Versuche festhielt. Er wurde schnell unangenehm, wenn ihn etwas frustrierte, und offenbar benutzte er sie auch diesmal wieder als Ventil. Sie versuchte, Verständnis dafür aufzubringen, doch es fiel ihr zunehmend schwer. Und tief unten am Grund ihres Empfindens wühlte die Sorge um Harry, der noch immer nicht zurückgekehrt war.

„Das wird so nichts", seufzte sie. „Es muß irgendwie anders funktionieren."

„Dann mach doch einen besseren Vorschlag, Superhirn!", antwortete Ron in gereiztem Tonfall.

„Hör auf damit!"

„Womit?"

„Ich bin nicht dein Mülleimer!"

Doch bevor sich das Wortgefecht zu einem Streit auswachsen konnte, öffnete sich die Küchentür, und ein müder Harry mit dreckverschmiertem Gesicht kam hereingeschlurft.

„Was ist denn mit euch schon wieder los?"

„Harry!", riefen die beiden Daheimgebliebenen gleichzeitig.

„Wo warst du?" – „Warum hast du nichts gesagt?", schallte es anschließend durcheinander.

Der Neuankömmling hob beschwichtigend die Hände.

„Beruhigt euch erstmal, macht nicht so eine Panik."

„Beruhigen?" Hermiones Stimme war schrill und laut. „Du bist einfach verschwunden, ohne etwas zu sagen-"

„Aber ich habe doch Kreacher..."

„Der wußte auch nicht, wo du warst! Hast du vergessen, wer da draußen unterwegs ist? Daß sie sicher nach uns suchen? Ich hab mir Sorgen gemacht."

Hermione war hin- und hergerissen zwischen dem Bedürfnis, ihm eine zu scheuern und dem, ihn zu umarmen und festzuhalten. Sie landete bei Letzterem und schluchzte in einen modrig riechenden Pullover, als die Anspannung des Abends sie verließ. Harry tätschelte ihr den Rücken und murmelte „Sorry."

„Und, wo bist du nun gewesen?", erklang Rons Stimme in unmittelbarer Nähe.

„In Edinburgh, bei Birchwoods. Ist noch was vom Abendessen da?"

Hermione riß ihr Gesicht aus Harrys Pullover. „Wie, du warst allein dort?"

„Deshalb hast du so viele Fragen dazu gestellt, wie man den Mondscheinplatz findet und wie es dort aussieht!" Man sah förmlich die Zahnräder in Rons Kopf arbeiten.

Hermione fuhr ihn an: „Er hat dich ausgequetscht, und du hast nicht daran gedacht, daß er eine Dummheit planen könnte?"

„Mione, nicht doch!", versuchte Harry sie zurückzuhalten. Ron giftete zurück:

„Du mußt reden! Wer hat denn in den letzten Tagen begeistert Unterricht im Lösen von Objektschutzzaubern gegeben?"

„Ich war froh daß wenigstens einer von euch endlich Vernunft annimmt und sich anständig vorbereitet!"

„Ich habe unsere Planungen unterstützt. Wenn ich etwas hätte merken sollen, dann du auch!"

„Hört auf zu streiten!"

Die Hexe wandte sich wieder Harry zu, der sich müde auf einen Stuhl sinken ließ.

„Wollt ihr wissen, was ich gemacht habe, oder reicht es euch, mir und euch gegenseitig Vorwürfe zu machen?"

„Sprich", preßte Ron hervor und setzte sich ebenfalls. Hermione schluckte ihren Zorn herunter und tat es ihm gleich, mit zwei Stühlen Sicherheitsabstand.

„Ich habe mich unter dem Tarnumhang in den Laden geschlichen und still in einer Ecke gewartet, bis der Inhaber abgeschlossen hat und nach Hause gegangen ist. Dann habe ich den Laden und das Lager durchsucht. Die Zauber, die du mir gezeigt hast" – er nickte Hermione zu – „haben gereicht. Ich glaube, die Sicherungen waren einfacher als bei Borgin & Burkes. Es waren auch kaum dunkle Objekte da und viel mehr Ramsch. Ich habe alles abgesucht. Das Medaillon war nicht da."

Schweigen legte sich über den Tisch.

„Und jetzt?", fragte Ron schließlich.

Harry strich sich durch die wirren, staubigen Haare. „Jetzt bleibt uns nur noch der Hehler."

15.8.1997

Sorgfältig steckte die Hexe ihre langen, dunkelroten Haare auf und hüllte sie in ein silbriges Haarnetz. Nur ein paar Strähnen, die sich um ihr Gesicht ringelten, ließ sie offen. Diese hatte sie am Vorabend braun gefärbt: ebenso dunkel wie ihr Rot, doch weniger auffällig. Das Färbemittel stammte aus einem kleinen Geschäft in einer Seitenstraße der Winkelgasse. Es garantierte lange Haltbarkeit und perfekt gleiche Ergebnisse nach jeder Anwendung. Das war aufwendiger als ein Verwandlungszauber, aber für ihre Zwecke besser: Der Farbton, den der Zauber erzeugte, war immer ein wenig anders. Sie war nicht geschickt genug in Verwandlung, um die Unterschiede so winzig zu halten, daß sie keinesfalls auffallen würden. Außerdem widerstand das Färbemittel Rückverwandlungszaubern.

Medea Grey würde von nun an ihr Name sein. Und sie gedachte, diesen Namen zum Thema zu machen. Ihr Kleid war schiefergrau, ebenso der spitze, breitkrempige Hut, der jenes Haar verbarg, das nicht durch das Netz in ihrem Nacken getarnt wurde. Der Schnitt des Kleides war altmodisch. Inzwischen wußte sie, daß Muggelfrauen um 1900 herum einen ähnlichen Stil getragen hatten. In der magischen Gesellschaft war derlei noch in den Sechzigerjahren regelmäßig zu sehen gewesen. Wahrscheinlich würde man sie in diesem Aufzug für älter halten, als sie war, und für ziemlich konservativ. Vor allem aber schätzte sie es, daß das Korsett und die Unterkleidung mit Polstern und Rüschen ihre Figur an ein Standardschema mit viel Volumen an Oberkörper und Hüften und schmaler Taille anpaßten und somit verfremdeten. Außerdem veränderte die Kleidung ihre Haltung und die Art, wie sie sich bewegte. Die Ärmel waren am Oberarm weit, am Unterarm aber anliegend, sodaß sie nicht bei der Arbeit stören würden. Medea haßte es, achtgeben zu müssen, daß sie ihre Sachen nicht in den Kessel hängte oder damit Geräte vom Tisch wischte. Unter dem hohen Kragen, dort, wo sich ihre Schlüsselbeine trafen, trug sie eine silberne Brosche mit eingravierten Schneeflocken. Sie hatte sie in Kanada erworben: Niemand würde das Schmuckstück mit ihrem alten Selbst in Verbindung bringen. Und Augen, die das glänzende Silber anzog, würden nicht zu genau in ihr Gesicht sehen.

Eben jenes Gesicht verfremdete sie nun mit Schminke: Die Augen wurden ein wenig runder, als sie waren, die Oberlippe schmaler, die Unterlippe etwas stärker geschwungen. Sie hatte viel geübt, seit sie den Plan gefaßt hatte, zurückzukehren. Jetzt saß jeder Strich. Sie würde jeden Tag gleich aussehen. Eine andere Person durch ein paar farbige Pigmente. Kein Finite incantatem oder ähnliche magiebrechende Zauber würde ihr wahres Antlitz zeigen. Das einzige, was an ihrer Verwandlung magisch war, war ein kleiner Zauber auf dem Lidschatten, der einen Grauschleier über ihre saphirblauen Augen legte. Sie waren noch immer blau, drängten sich aber weniger ins Bewußtsein.

Die Hexe trat einen Schritt zurück und betrachtete sich im Spiegel. Nun hatte sie sich wirklich in Medea verwandelt. Tränkemeisterin Grey wusch sich die Hände, packte die letzten Utensilien in ihren Koffer, komplimentierte ihre Schlange in die Handtasche und verließ das Hotelzimmer. Sie würde mit dem Fahrenden Ritter nach Hogsmeade reisen, dort ein Zimmer mieten und ein leichtes Mittagessen zu sich nehmen. Am Nachmittag hatte sie ein Vorstellungsgespräch.

Ein eisiger Klumpen lag in Hermiones Magen, als sie zwei Portionen Vielsafttrank aus ihrer Vorratsflasche abfüllte. Diese leerte sich bedenklich. Wenn sie weiterhin fremde Gestalten nutzen wollten, würde sie bald neuen brauen müssen. Konnte sie sich darauf verlassen, daß sie einen weiteren Monat hier verbringen würden?

Die Hexe fing ihre Gedanken ein und ging die Haarsammlung durch. Sie wollten wieder in die Nocturngasse, diesmal in den ‚Schimmeligen Apfel'. Der Hehler war ihre letzte Chance, noch an das Medaillon zu kommen. Bei dem Gedanken wurde Hermione übel und ihr Hirn entwickelte immer neue Szenarien, was alles schiefgehen konnte. Manchmal wünschte sie sich die Unbefangenheit mit der die Jungen, und vor allem Harry, an solche Aktionen herangingen. Aber das konnte sie sich nicht erlauben, hatte ihre Vorbereitung auf jedes erdenkliche Problem doch schon so manche kritische Situation gerettet. Und so hatte sie sich wieder in Büchern vergraben und den Zauberern Diskussionen darüber aufgezwungen, in welchen Rollen sie auftreten wollten.

Sie hatten sich für zwei Muggel von Mitte zwanzig entschieden: Ron verwandelte sich gerade in einen kleinen, drahtigen Mann mit kurzen braunen Locken. Hermione warf ein endloses blondes Haar in ihre Portion Vielsafttrank. Eine Frau mit langen Beinen, hübschem Gesicht und reichlich Dekolté. Sie hoffte, daß ihr Gesprächspartner nicht ganz so genau auf seine Worte achten würde, wenn sie diese Form wählte. Harry wollte wieder unter dem Tarnumhang mitgehen.

Die Verwandlung war ähnlich unerfreulich wie die letzten, doch es stellte sich auch eine gewisse Routine ein. Sie wußte, was auf sie zukam und wie lange es ungefähr dauern würde. Als das Ziehen und Kribbeln nachließ machte sie sich daran, ihre Kleidung anzupassen. Die nun etwas zu kurze Jeans und das weite T-Shirt verschmolzen unter ihrem Zauber und wuchsen zu einem taillierten Kleid mit ausgestellten Ärmeln, dessen weiter, schwerer Rock fast bis zu den Knöcheln reichte. Der Ausschnitt war gewagt. Zu gewagt, um sich wohlzufühlen. Sie hob erneut den Zauberstab, um nachzukorrigieren, doch Ron unterbrach sie:

„Laß das ruhig, das sieht gut aus."

Sie lächelte unsicher und beschäftigte sich damit, den Stab einzustecken und den Stoff glatt zu streichen.

Von der Türschwelle apparierten sie in eine Gasse in der Nähe des Tropfenden Kessels. Der Wirt grüßte sie, schenkte ihnen aber sonst keine Beachtung. Im Hinterhof wurde die Mauer gerade von zwei graubärtigen Zauberern geöffnet. Die drei folgten ihnen. Man nickte einander kurz zu, dann gingen beide Gruppen weiter ihrer Wege.

Kurz vor der Nocturngasse fielen ihr zwei füllige Hexen in kostbaren Brokatroben auf, die tratschend die Straße heraufkamen. Hinter ihnen schwebten Päckchen, Taschen und eine Hutschachtel. Eine der Damen kam ihr bekannt vor und sie versuchte, sich daran zu erinnern, woher. Die zweite rempelte eine Hexe an, die sich am Rande des Weges, neben den Auslagen eines Geschäfts, mit zwei weiteren unterhielt. Dabei wäre es ein Leichtes gewesen, einen Schritt zur Seite auszuweichen, um die Gruppe zu passieren.

„So passen Sie doch auf!", rief die geschubste Frau der anderen nach, doch diese ging weiter und murmelte nur etwas zu ihrer Begleiterin. Die schwieg mit verkniffenem Mund. Und nun erkannte Hermione sie: Es war Dahlia Goyle, die Hexe, die im Namen der dunklen Familien den Weasleys Hochzeitsgrüße überbracht hatte.

Die Nocturngasse war wieder gut besucht. Vor einigen Schaufenstern standen Leute und betrachteten die Auslagen. Eine Apotheke hatte Tafeln auf die Straße gestellt, die Warzensalbe („für die schönsten Warzen, die Sie jemals gesehen haben") und „Tausendschlaf" („für eine erholsame Woche") anpriesen. Ein Stück weiter bezeichnete ein Schild das gesuchte Lokal. Darunter führte eine Treppe zu einer graufleckigen Tür.

Das erste was sie wahrnahm, als sie hindurchtrat, war die kühle, feuchte Kellerluft. Sie roch nach Moder, Bier und Mensch. Erst einen Augenblick später erkannte sie die Einrichtung des Raumes, der nur von einigen Öllampen spärlich beleuchtet wurde. Die Decke war niedrig und die Schankstube relativ klein. Tische und Stühle waren wild zusammengewürfelt. Die gegenüberliegende Wand wurde vollständig von der Bar und einem Regal eingenommen, in dem Flaschen in allen Farben und Formen standen. Manche schienen schwach zu leuchten, und Hermione war sicher, daß sich in einem dickbauchigen Exemplar etwas bewegte. An den Seitenwänden waren Türen und Durchgänge zu sehen, die offensichtlich in Nebenräume führten.

Sie folgte Ron an die Bar, wo er für sie beide Feuerwhisky bestellte. Der Barkeeper sah ein paar Jahre jünger aus als Arthur Weasley. Hermione schätzte ihn auf um die Vierzig. Eine giftgrüne Robe verhüllte seine Figur, die weder ungewöhnlich hoch noch breit war. Sein mattbraunes Haar trug er in einem kurzen dünnen Zopf. Er hatte Krähenfüße um die Augen, aber auch eine ausgeprägte senkrechte Falte zwischen den Brauen. Auf die Bestellung murmelte er nur „Fünf Sickel." Ron legte die Münzen auf den Tisch. Der Barkeeper zog sie ein und rief Gläser und eine Flasche herbei. Augenblicke später hatten sie die gewünschten Getränke vor sich stehen und der giftgrüne Zauberer verließ sie, um sich um einen anderen Gast zu kümmern.

Ron schwenkte die Flüssigkeit in seinem Glas und betrachtete sie argwöhnisch. Sie war nicht honiggelb wie der Inhalt der Odgens'-Flaschen, die verbotenerweise auf mancher Quidditch-Siegesfeier herumgegangen waren, sondern eher rotbraun. Der Zauberer nahm einen großzügigen Schluck und verkrampfte sofort. Er preßte die Augenlieder zu und sein Gesicht wurde dunkler. Hermione hörte ein leises würgendes Geräusch, gefolgt von einem Keuchen. Feine Flämmchen züngelten aus seiner Nase. Glücklicherweise erholte sich ihr Begleiter rasch wieder. Haltung und Gesichtsmuskeln entspannten sich mit jedem tiefen Atemzug. Bald versiegte auch der hellgraue Rauch.

Die Hexe hob ihr Glas und schnupperte daran. Der Dunst des Gebräus stach in der Nase. Darunter lag etwas, das sich mit „brennender Schiffsrumpf" zusammenfassen ließ. Sie nippte daran. Ihre Lippen brannten, ebenso alles, was die Flüssigkeit danach berührte bis hinunter in den Magen, wo das Feuer allmählich erlosch. Dafür hatte sich Ron sehr gut geschlagen, wie sie fand. Mit einem Mund voll von diesem Zeug hätte sie mit Sicherheit gehustet und gespuckt.

Ihr Blick wanderte über die anderen Gäste. Da waren zwei ältere Hexen, die aussahen, als seien sie einem Märchenbuch entsprungen und sich leise kichernd unterhielten. Drei Zauberer saßen schweigend beieinander und genossen ihr Bier. Ein junger Mann in einer dunklen Ecke kritzelte eifrig in ein Notizbuch. Als Hermione den zweiten winzigen Schluck aus ihrem Glas nahm, betrat eine Gestalt in Mantel und Kapuze das Lokal, nickte dem Wirt zu und verschwand in einem der Nebenräume. Wie in aller Welt sollten sie hier nur den Händler finden?

„Das ist wohl nicht das richtige für euch?"

Heißer Schreck zuckte durch ihren Körper. Sie fühlte sich ertappt. Rasch wandte sie sich der Stimme zu. Der giftgrüne Zauberer betrachtete sie wie Kinder, die sich verlaufen hatten, und nickte hinab zu ihren noch immer gut gefüllten Gläsern.

Ron fand zuerst die Sprache wieder.

„Was ist das für welcher? Die Sorte kenne ich noch nicht."

„‚Drachenatem'. Kommt von einer kleinen Destillerie an der schottischen Nordküste."

„Cool. Die Flammen sind etwas gewöhnungsbedürftig."

„Warum seid ihr hier?"

„Wegen des ansprechenden Schankraums und der experimentellen Getränke." Hermione versuchte ein unschuldiges Lächeln.

„Das hier ist keine Ausgehbar. Ich habe nur Stammgäste und Leute, die verabredet sind."

Passend zu ihrer Absprache, daß Ron den Hauptteil des Redens übernehmen sollte, antwortete er. Leider suchte er immer wieder Blickkontakt zu Hermione und zupfte an seiner Robe herum.

„Wir suchen Onkel Aurelius. Ein Freund hat ihn uns empfohlen."

„Tatsächlich?"

Der Barkeeper bedachte Ron mit einem bohrenden Blick. Hermione schluckte. Ihre Hände wurden feucht, und sie unterdrückte mit Mühe das Bedürfnis, herumzuzappeln.

„Was wollt ihr von Aurelius?"

„Unser Freund hat gesagt, daß er handelt. Und daß er vielleicht das hat, was wir kaufen wollen."

„Und was könnten zwei Küken wie ihr wohl suchen?"

„Das ist unsere Angelegenheit."

Stille folgte, wuchs um sie her und schien sich auszubreiten wie Wellen auf einem Gewässer. Der Barkeeper starrte sie an. Als Hermione auffiel, daß sie auf ihrer Unterlippe kaute und auf dem Stuhl herumrutschte, fluchte sie innerlich und zwang sich zum Stillsitzen. Es war unerträglich. Schließlich nickte der Zauberer kaum merklich und begann wieder zu sprechen:

„Aurelius werdet ihr hier nicht finden. Es ist seit zwei Monaten nicht mehr aufgetaucht."

Ron fluchte leise.

„Hat er gesagt, wo er hinwill?", fragte Hermione.

„Natürlich nicht. Wahrscheinlich hatte er irgendwelchen Ärger und macht sich erstmal dünn. Und jetzt verschwindet, bevor euch die Haie fressen. Ihr riecht nach Beute."

Still standen sie auf und verließen den Pub. Als Hermione die Tür schloß sah sie noch einmal zurück. Der Barkeeper beobachtete sie mit einem Schmunzeln, und die Augen mehrerer Gäste folgten ihnen.

Auf dem Weg zurück zum Black-Haus lagen Erleichterung und Enttäuschung dicht beieinander.

18.8.1997

Ein Geräusch vom Fenster ließ Hermione aufschrecken. Was mochte das sein, mitten am Tag?

„Habt ihr das auch gehört?"

Harry schüttelte de Kopf. Er brütete wieder einmal vor sich hin, wie er es in letzter Zeit immer häufiger tat. Ron murmelte etwas, das nach Zustimmung klang. Die Hexe legte das Buch beiseite, in dem sie gerade gelesen hatte, und ging zu dem Fenster, an dem nun wieder das verdächtige Klopfen erklang. Sie spähte zwischen den Samtvorhängen hindurch. Ein Bussard starrte sie an. Dann klopfte er mit dem Schnabel gegen die Scheibe.

„Was ist es?"

„Ein Bussard."

„Der ist bestimmt von Fleur, Bill hat erzählt, daß ihre Familie ihr einen mitbringen wollte."

Hermione hatte bereits gelesen, daß gelegentlich andere Tiere als Boten zum Einsatz kamen, aber noch nie etwas anderes als Eulen in dieser Funktion gesehen. Voll Neugier öffnete sie das Fenster und ließ den Vogel ein. Er legte eine Ausgabe des Tagespropheten vor Ron ab und machte sich wieder auf den Weg.

„Der von heute", vermeldete der Rotschopf, als er die Zeitung entfaltete. Die beiden anderen setzten sich links und rechts neben ihn und lasen mit.

Die Titelseite beherrschte die Meldung, Dumbledores Mörder seien gefunden. Man habe eine Gruppe von vier Aufrührern ausfindig gemacht, die mit dem Überfall auf die Schule einen Umsturz hätten vorantreiben wollen. Gleich auf der ersten Seite sahen sie Fotos von einer jungen Frau und einem Mann um die Fünfzig in Häftlingskleidung, die mit verschleiertem Blick durch die Kamera sahen, und zwei Bilder von Männern irgendwo um die Dreißig, die aus privaten Alben stammten. Der Artikel offenbarte, daß die beiden Zauberer sich gegen die Auroren zur Wehr gesetzt und das folgende Duell nicht überlebt hatten. Drei Muggelkinder und ein Halbblut, die mit Gewalt zu mehr Einfluß kommen wollten, weil es ihnen an der nötigen Kompetenz mangelte, im Ministerium aufzusteigen.

Hermione sprang von ihrem Sessel auf. Sie platzte fast vor Empörung.

„Das sind doch offensichtlich Sündenböcke! Die ganze Geschichte ist von vorn bis hinten unglaubwürdig! Daß dieses Schmierblatt sich so anbiedert, das ist doch widerlich!"

Sie richtete den Stab auf die Zeitung und Flammen begannen an dem Papier zu lecken. Harry reagierte schnell und löschte das Feuer.

„Vielleicht steht da noch was wichtiges drin."

„Als ob wir irgendetwas davon glauben könnten."

„Mione, reiß dich zusammen", sagte nun auch Ron. Er war ebenfalls aufgestanden und legte ihr die Hand auf den Arm.

„Du sagst mir ich soll mich beherrschen? Ausgerechnet du?"

„Was soll das heißen?"

„Nicht schon wieder", unterbrach Harry. Es folgte betretenes Schweigen, das aber rasch gebrochen wurde:

„Schau mal, hier auf Seite drei."

„Was ist da?" Voll Eifer stürzte sich Hermione auf diese Möglichkeit, sich zu beschäftigen.

„Hier steht daß der Besuch von Hogwarts für alle jungen Hexen und Zauberer von elf bis achtzehn Jahren verpflichtend ist. Weder der Unterricht zu Hause, noch an anderen Schulen im Ausland ist erlaubt."

„Gibt es viele Schüler, die nicht nach Hogwarts gehen?" Die Hexe sah zu Ron. Der antwortete mit einem Schulterzucken:

„Keine Ahnung. Die meisten gehen hin, aber die Entscheidung liegt immer bei den Familien."

„Sie wollen Kontrolle darüber, was die Kinder lernen", überlegte Harry.

„Und es sind Geiseln, die dafür sorgen, daß ihre Eltern sich nicht auflehnen", spann Hermione den Faden weiter. „Steht da noch mehr?"

„Kinder, die unter Muggeln aufgewachsen sind, werden zunächst unter Vorbehalt eingeschult und später getestet. Und da ist ein Verweis auf einen anderen Artikel..."

„Zeig her."

Sie blätterten weiter und fanden eine kleine, aber hervorgehobene Meldung:

Verpflichtung zum Abstammungsnachweis

Alle in Großbritannien und Irland lebenden Hexen und Zauberer sind verpflichtet, bis zum Ende des Kalenderjahres einen Stammbaum über mindestens drei Generationen an das Zaubereiministerium, Abteilung Genealogie, zu übersenden. Dabei ist für jeden Vorfahren zu kennzeichnen, ob es sich um eine magische Person, Muggel oder Squib handelt. Wem keine magischen Vorfahren bekannt sind wird empfohlen, weiter zurück zu recherchieren und entsprechende Nachweise vorzulegen. In den kommenden Monaten wird eine Forschungsgruppe in der Mysterienabteilung aufgebaut, die sich mit Weitergabe und Ursprung von Magie beschäftigt. Personen, bei denen die Herkunft der Magie unklar ist, werden an diese gemeldet und haben für Befragungen zur Verfügung zu stehen.

Hermione wurde kalt bei der Lektüre. Was auch immer damit vorbereitet wurde, es konnte nichts Gutes sein. Als sie den Blick von der Zeitung hob sah sie, daß die beiden Jungen sie anstarrten. Ihr eigenes Unbehagen spiegelte sich in deren Mienen.

„Es fängt an", flüsterte sie.

Das silbrige Licht des Vollmonds ließ den Schwarzen See und die taufeuchten Wiesen glänzen. Medea ging barfuß durch das Gras, ein Privileg des Sommers, umso mehr hier im schottischen Hochland, weit fort vom milden Ärmelkanal. Ihre nachtblaue Kleidung, ein schlichtes Wollkleid und ein Kapuzenumhang, ließ sie mit den Schatten verschmelzen. Sie mied das Mondlicht.

Ihr Vorstellungsgespräch war erfolgreich gewesen und sie hatte tags zuvor ein Lehrerquartier im Schloß bezogen. Im Erdgeschoß, nahe genug am Unterrichtsraum für Zaubertränke und am Lehrerlabor. Die Wohnräume im Kerker waren dem Kollegen vorbehalten, der die Hausleitung für Slytherin innehatte. Er wurde für den übernächsten Tag erwartet.

Professor Snape hatte sie fachlich sehr umfassend geprüft. Er hatte das Fach selbst unterrichtet und war offensichtlich bestrebt, es in kompetente Hände zu legen. Auch zu ihren Abschlüssen und ihrer Lehrzeit hatte er nachgefragt. Im Umgang mit der angespannten politischen Situation kam es ihr zugute, daß sie aus dem Ausland kam und sich recht leicht auf eine neutrale Position zurückziehen konnte. Allerdings fiel es ihr schwer, aus dem Gespräch einzuschätzen, wie wichtig oder unwichtig die „richtige Einstellung" war. Sie mußte vorsichtig sein.

Zwischen den Wurzeln eines mächtigen Baumes nahe am Seeufer und von diesem beschattet ließ sie ihre Kleider zurück. Nun gab es nur noch die Nachtluft, das Wasser und Nimue. Die Schlange löste sich von ihrem Hals, wo sie locker auf den Schultern gelegen hatte, und wand sich ihren rechten Arm hinunter. Als die Hexe in die kühlen Fluten tauchte, löste sich das Tier. Gemeinsam schwammen und planschten sie im See. Doch das Vergnügen währte nur kurz, denn sie konnten es sich nicht leisten, entdeckt zu werden. Medea stellte sich auf den steinigen Grund. Das Wasser reichte ihr bis zu den Schlüsselbeinen. Sie zog eine Nadel aus ihren aufgesteckten Haaren und stach sich in einen Finger. Drei Tropfen Blut fielen in den Rachen der Schlange. Dann war es Zeit, Abschied zu nehmen. Nimue brauchte den See. Dennoch war Medea traurig, daß sie sie nicht einfach wieder mit nach drinnen nehmen konnte. Hier, unter vielen Menschen, würden sie einander seltener sehen können. Mit leisem Zischen tauschten sie Abschiedsworte. Sie küßte die Schlange auf die Nase, dann sah sie zu, wie sie in die Schwärze hinabtauchte.

20.8.1997

Das Frühstück wurde von unerwartetem Besuch unterbrochen: Drei braun getupfte Eulen brachten jedem von ihnen einen dicken Umschlag mit ihrem Namen und dem Hogwarts-Wappen.

„Schulbriefe? Für uns? Was sollen wir dort?" Harry starrte ungläubig auf den Seinen.

„Es ist allgemeinverpflichtend, erinnerst du dich?" Hermione drehte ihren Brief in den Händen. „Sie schreiben alle an. Und vielleicht..."

„Was soll das sein?" Ron hatte seinen Umschlag schon aufgerissen und hielt ein rotes Abzeichen mit einem goldenen „A" darauf in der Hand.

„Keine Ahnung", antwortete Harry. Sein Brief lag unbeachtet auf dem Tisch.

Hermione krauste die Stirn und brach vorsichtig das Siegel des an sie adressierten Schreibens. Auch darin war so ein seltsames Abzeichen enthalten.

„Ich hab auch eins", sagte sie, während sie das schwere Papier entfaltete.

Sehr geehrte Miss Granger,

seien Sie herzlich willkommen zu ihrem Abschlußjahr in Hogwarts. Aufgrund einer Schulreform gibt es ab diesem Jahr keine Schulsprecher mehr. Dafür bilden die Vertrauensschüler der siebten Klasse eine Schüleraufsicht mit ähnlichen Aufgaben und Befugnissen. Genauere Instruktionen erhalten Sie mit Schulbeginn.

Es ist meine Pflicht, Sie darauf hinzuweisen, daß Muggelartefakte ab dem kommenden Schuljahr in Hogwarts verboten sind. Muggelkleidung darf nur für die Anreise zum Zug mitgeführt werden.

Die Liste der benötigten Bücher und Materialien liegt bei.

Mit freundlichen Grüßen

Minerva McGonagall

Stellvertretende Schulleiterin

„Ich bin immernoch Vertrauensschülerin?", entfuhr es ihr.

„Ich verstehe ja, daß dir das wichtig ist", sagte Harry mit betont sanfter Stimme, „aber dieses Jahr haben wir andere Sorgen als Schule."

„Aber überleg doch mal: Hättest du es für möglich gehalten, daß ein Muggelkind Vertrauensschüler bleibt, nach allem, was in der Zeitung stand? Nach diesem Wechsel des Zaubereiministers und mit Snape als Schulleiter?"

„Mit Sicherheit nicht", antwortete Ron an Harrys Stelle. „Und daß ich die Aufgabe behalte, hätte ich auch nicht gedacht. Wir sind doch als Blutsverräter und Dumbledorefreunde bei denen unten durch."

Harrys Gesicht wurde nachdenklich. Er rieb sich unter der Brille die Nasenwurzel.

„Das könnte eine Falle sein. Sie versuchen, uns nach Hogwarts zu locken."

„Gut möglich, daß es das ist." Hermiones Augen wanderten immer wieder über den Brief. „Aber glaubst du nicht, MacGonagall würde versuchen, uns heimlich zu warnen? Das ist eindeutig ihre Handschrift." Sie probierte einige Zauber, die nach verborgenen Zeichen suchten, doch es geschah nichts.

„Oder sie geht davon aus, daß wir von selbst darauf kommen, daß es keine gute Idee ist, brav zur Schlachtbank zu gehen."

„Es gab keine Suchaufrufe, und wir haben nirgends Plakate oder sowas gesehen", warf Ron ein.

„Wenn wir nur wüßten, was Tom plant. Man müßte bei den Death Eatern Mäuschen spielen können."

„Was willst du machen, Mione? Einen davon verühren, in der Hoffnung, daß er was erzählt?"

„Natürlich nicht. Das ist widerwärtig."

„Da bin ich aber beruhigt."

„Ron, hör auf! Harry, hast du in letzter Zeit... geträumt?"

„Wenig. Er scheint diese Verbindung zwischen uns selbst zu unterdrücken. Als die Scrimgeors ermordet wurden hat er sich gefreut, aber mehr habe ich nicht mitbekommen."

Schweigen fiel über die Gruppe.

„Was ist denn dein Plan?", fragte Ron schließlich.

Harry fuhr sich durch die Haare. „Ich weiß nicht. Wir müssen die Horcruxe finden und zerstören. Das Medallion, die Schlange, Hufflepuffs Pokal und irgendwas von Gryffindor oder Ravenclaw. Ich habe nur keine Ahnung, wo diese Dinge sind. Vielleicht spüre ich sie irgendwie, wenn ich nahe genug dran bin? Das Tagebuch war sehr... präsent. Fast als würde es zu mir sprechen."

„Und deshalb willst du was? Durchs Land wandern und warten, bis etwas sagt ‚Hier bin ich, komm zu mir'?"

„Nein. Mione, kannst du Veritaserum brauen? Vielleicht finden wir damit heraus, wo dieser Hehler ist, und ob er das Medaillon hat."

Sie biß sich auf die Unterlippe. „Nein, kann ich nicht."

„Aber du kannst doch sonst immer alles." Ron hatte gesprochen, doch beide Zauberer sahen sie mit großen Augen an.

„Es ist zu kompliziert, das schafft kaum jemand allein, genau wie Wolfsbann und noch einige andere. Und ich habe keine Ahnung, woher ich eine Drachenzunge bekommen soll."

„Oh."

„Vielleicht wäre es tatsächlich besser, noch einmal nach Hogwarts zu gehen", sprach die Hexe weiter.

„Was? Bist du irre?"

„Was sollen wir dort überhaupt?"

„Vielleicht ist es nicht so wahnsinnig, wie wir denken. Im Moment ist es sehr ruhig, mit etwas Glück haben wir noch ein paar Monate, bevor wir wirklich untertauchen müssen. Und Harry, du hast doch gesagt, daß Hogwarts ein wichtiger Ort für Tom war. Vielleicht finden wir dort noch irgendwelche Spuren, die uns bisher entgangen sind?"

Harry war still geworden. Offenbar dachte er über ihre Worte nach.

„Mag sein", sagte er nach einer Weile. „Er war dort, um sich als Lehrer zu bewerben, dabei muß ihm klar gewesen sein, daß er die Stelle wahrscheinlich nicht bekommen würde, weil Dumbledore ihm mißtraute. Was, wenn er eigentlich nicht wegen der Bewerbung dort war, sondern um etwas zu verstecken? Wenn einer der Horcruxe in Hogwarts liegt?"

„Klingt logisch", spann Ron den Gedanken mit wachsender Begeisterung fort. „Und wer würde damit rechnen, daß er sowas genau unter Dumbledores Nase versteckt? Das ist genial, sicherer geht es nicht. Nur, wo genau hat er es versteckt, damit niemand es zufällig findet?"

„Das finden wir nur dort heraus. Und ich würde auch gern noch ein paar Dinge recherchieren. Harry, vielleicht läßt sich deine Verbindung zu ihm irgendwie nutzen, um die Horcruxe zu finden. Ich bin mir zwar nicht sicher, ob ich in Hogwarts etwas finden werde, das uns hilft, aber einen Versuch ist es wert. Es ist die größte Bibliothek, zu der ich Zugang bekommen kann. Vielleicht hat noch irgendwer aus unserer Klasse zu Hause passende Bücher und kann sie sich schicken lassen..."

„Wen willst du fragen?", hakte Ron nach.

„Ich weiß nicht recht, Ernie vielleicht? Die MacMillans sind eine alte magische Familie, und wenn die alle so eifrig lernen wie er hat sich da bestimmt etwas Interessantes angesammelt..." Wie ärgerlich, daß die magische Gemeinschaft hier keine öffentlichen Bibliotheken hat.

„Ich bezweifle, daß sie etwas über dunkle Artefakte haben, noch dazu etwas, das bei den Blacks nicht zu finden ist."

„Wer weiß? Sirius hat viel entsorgt. Und es muß ja nicht direkt ein Buch über dunkle Artefakte sein. Vielleicht hilft auch etwas über mentale Verbindungen, oder die magischen Eigenschaften der Seele."

„Jetzt klingst du wie Loony."

„Hey, nenn sie nicht so!", wies Harry den Rotschopf zurecht, bevor er sich an die Hexe wandte:

„Und wie willst du danach fragen? Du weißt doch, daß wir nicht darüber sprechen sollen."

„Ich sagte doch schon, daß es vieles gibt, das nicht eindeutig dunkel ist und uns trotzdem weiterhelfen könnte. Und daß ich mich für Themen interessiere, die nicht zum Unterrichtsstoff gehören, ist doch nichts Neues."

„Stimmt, du liest schließlich alles, was nicht wegläuft", lachte Ron.

Harry war aufgestanden und lief hin und her.

„Das gefällt mir nicht. Wir müssen so schnell wie möglich diese verdammten Dinger finden. Wenn wir nach Hogwarts gehen, finden wir diesen Aurelius nie."

„Den finden wir auch jetzt nicht. Wir brauchen etwas anderes, eine Möglichkeit, sie gezielt aufzuspüren. Und ich weiß nicht wo wir die finden sollen, wenn nicht in Hogwarts."

„Aber dort sind wir auf dem Präsentierteller."

„Das waren wir auf Bills Hochzeit auch", merkte Ron an. „Und da haben sie nichts getan. Hast du einen besseren Plan?"

Harry gab nur ein frustriertes Grunzen von sich.

25.8.1997 (Montag)

„Ich habe mir solche Sorgen gemacht, meine Lieben."

Molly Weasley betrat die Küche und schloß erst Ron in die Arme, danach Harry und Hermione. Hinter ihr war Ginny durch die Tür getreten und fiel ebenfalls ihrem Bruder um den Hals, kaum daß die Mutter von ihm abgelassen hatte. Auch Hermione wurde von ihr umarmt, während sie für Harry nur ein „Hallo" übrig hatte, aus dem deutlich Unbehagen sprach. Die beiden Weasley-Hexen waren gekommen, um gemeinsam die Schuleinkäufe zu erledigen. Gleich am nächsten Tag, nachdem Harry kapituliert hatte, hatten sie eine Nachricht zum Fuchsbau geschickt, um Rat und Informationen einzuholen. Der Ausflug in die Winkelgasse würde das erste Mal seit der Hochzeit werden, daß sie sich öffentlich zu erkennen gaben. Ein wichtiger Test für die Rückkehr nach Hogwarts.

„Und davon habt ihr die ganze Zeit gelebt?"

Molly stand das Entsetzen ins Gesicht geschrieben, als sie die Reste des raschen Frühstücks betrachtete, mit dem das Trio den Tag begonnen hatte.

„Ihr müßt unbedingt für die letzten Tage nach Hause kommen!"

„Klar, Mum!" Ron grinste von einem Ohr zum anderen. Harry und Ginny hingegen sahen weniger begeistert aus.

„Was ist mit den anderen?", fragte Hermione.

„Arthur und Bill müssen arbeiten, aber Bill hat für dich Geld aus deinem Verlies geholt." Mit den letzten Worten wandte sie sich an Harry und reichte ihm einen Beutel. Der Zauberer bedankte sich. Molly sprach weiter. „Hagrid und Alastor treffen wir dort."

Hermione biß sich auf die Unterlippe. „Ich fürchte, wir müssen trotzdem zu Gringotts. Ich muß umtauschen."

„Ich wechsle für dich. Das hier" – Harry hob den Beutel – „ist mehr als genug um uns beide auszustatten. Und ich habe keine Pfund."

Rasch räumten sie die Küche auf. Die Nervosität war förmlich greifbar. Was, wenn sie sich verschätzt hatten?

„Ihr könnt mir auch einfach eure Listen geben, und ich kümmere mich um eure Einkäufe", schlug Molly prompt vor, nachdem sie den Spülschwamm verzaubert hatte.

„Nein, danke, Mrs. Weasley", lehnte Harry höflich ab. „Wenn wir nichtmal einkaufen können, sollten wir auch nicht wieder nach Hogwarts fahren."

„Ich weiß, es ist nur... Ich würde euch alle am liebsten verstecken, bis das alles vorbei ist."

„Aber von selbst wird es nicht besser, wir können uns nicht einfach verkriechen."

„Laßt das doch die Erwachsenen machen."

„Wir sind erwachsen."

Kurz darauf passierten sie den Tropfenden Kessel, um die Winkelgasse zu erreichen. Der Wirt grüßte höflich, doch einige der Gäste starrten die Gruppe mit unverhohlener Neugier an. Molly scheuchte die Jugendlichen weiter in den Hinterhof, wo sie von Hagrid und Moody erwartet wurden. Der Hüne schloß Harry und seine Freunde gleichzeitig in die Arme.

„Es is so gut euch wiederzuseh'n."

„Wir freuen uns auch, Hagrid. Bitte nicht so fest."

„Sorry."

Er gab die Schüler frei und wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel.

„Gehen wir", hörten sie Moodys rauhe Stimme. „Jeder kennt seine Position? Dann los. Und achtet zu jeder Zeit auf eure Umgebung."

Durch die verzauberte Mauer gelangten sie in die Ladenstraße.

Es herrschte Betriebsamkeit. So kurz vor dem neuen Schuljahr waren viele Familien unterwegs, um Besorgungen für Hogwarts zu erledigen.

Sie bestellten zunächst Kleidung bei Madam Malkin – Harry und Ron waren im letzten Jahr noch ein kleines Stück gewachsen. Hermiones Schuluniform paßte noch, doch sie wollte eine Robe mehr als Wechsel und mußte ein Paar abgetragene Schuhe ersetzen. Die Hexe, die sich um sie kümmerte, bediente sie höflich, aber distanziert. Im hinteren Bereich, abgetrennt durch einen Paravent, umsorgte die Chefin selbst wichtige Kunden: Sie eilte und brachte ausgesuchte Stoffe, und ihre Stimme war wie Honig. Allerdings konnte Hermione nur einzelne Worte verstehen und hatte keine Ahnung, um wen sie sich da kümmerte.

Zurück auf der Straße fielen ihr noch mehr als zuvor die verstohlenen Blicke auf, die ihnen die Leute zuwarfen. Alle waren neugierig, doch niemand sprach sie an.

Das Erlebnis mit der Schneiderin wiederholte sich: Die Händler waren höflich, aber auch bemüht, sich nicht gar zu freundlich zu zeigen und sie schnell wieder loszuwerden, als könne ihre Anwesenheit ein schlechtes Licht auf den Laden oder den Inhaber werfen. Selbst Flourish & Blotts konnte Hermione nicht recht genießen, weil die Kunden sie verstohlen beobachteten und das Personal bemüht war, sie möglichst rasch zu bedienen. Zum Stöbern fand sie so keine Ruhe. Alle waren sehr nachdenklich gestimmt, als sie in ihr Quartier zurückkehrten.

„Man könnte meinen, wir hätten Flöhe!", platzte es denn auch aus Ron heraus, kaum daß sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte.

„Schatz, die Leute haben Angst", suchte ihn Molly zu beschwichtigen.

„Te!"

„Wir müssen auf der Fahrt und in Hogwarts bereit sein, jederzeit zu fliehen", sagte Harry.

„Warst du das bisher noch nicht?" gab Hermione zurück.

„Es sind nicht alle so perfekt wie du, Mione", verteidigte Ron den gemeinsamen Freund. Die Hexe hörte förmlich das Augenrollen in seinem Tonfall.

„Bis zum ersten September seid ihr erstmal bei uns und in Sicherheit", wechselte Mrs. Weasley das Thema und kehrte zurück zu dem Wunsch, den sie schon mehrfach angesprochen hatte. „Ich muß jetzt los, Abendessen kochen. Ihr packt zusammen und kommt dann nach, ja?"

„Ja, Mum, natürlich." Ron rollte mit den Augen, als er zum wer-weiß-wievielten Mal antwortete, doch dabei strahlte er, als hätte er eine Fee verschluckt.

Hermione hingegen sah zu Ginny, die den ganzen Tag kaum etwas gesagt hatte, und zu Harry, der sich in einem fort die Haare zerwühlte und viel öfter die Brille zurecht schob, als das jemals nötig sein konnte.

„Wir kommen gern zum Abendessen", sagte sie, „aber ich glaube nicht, daß es eine gute Idee ist, zu bleiben."

„Was?!"

„Ronald! Warum denn?"

„Ich glaube, es tut nicht allen von uns gut, lange auf engem Raum zusammengesperrt zu sein."

Mollys Blick glitt ebenfalls über ihre Tochter und ihr „Adoptivkind".

„Ich hätte euch gern alle bei mir, bevor ich euch wieder verabschieden muß. Wer weiß was dieses Jahr noch alles passiert... Ich möchte gar nicht daran denken..." Sie seufzte. „Überlegt es euch und sagt mir dann Bescheid. Aber ich bestehe darauf, daß ihr zum Essen kommt."

Kaum hatte sich die Tür hinter ihr und Ginny geschlossen, durchbrach Ron erneut das Schweigen:

„Was sollte das denn? Natürlich bleiben wir!"

„Bist du blind? Hast du nicht gesehen, wie Harry und Ginny umeinander schleichen und sich nicht in die Augen sehen können?"

„Hey, ich bin anwesend!"

Daraufhin bohrte der Rotschopf seinen Blick in den anderen Zauberer.

„Sich von ihr zu trennen war nicht nobel, sondern bescheuert. Es wird ihr nicht helfen, du tust ihr einfach nur weh. Wenn du nicht mein bester Freund wärst hätte ich dich nach St. Mungos geflucht."

„Wir haben doch schon darüber gesprochen, sie soll frei sein, wenn ich plötzlich verschwinden muß und nicht so wertvoll als Geisel sein..."

„Das ist wirklich Quatsch", bestätigte nun auch Hermione.

„Laßt mich zumindest sehen, wie es in Hogwarts ist. Ich will nicht, daß sie wegen mir Ärger bekommt."

Ron trat den Schirmständer um, der laut rasselnd über die Fliesen rollte.

„Dann bleib halt hier!" rief er in Walpurga Blacks aufwallende Schreie hinein.

Mit ihrem modifizierten Schockzauber und einem „Halt die Klappe, du alte Schreckschraube!" stellte Hermione das Bild wieder ruhig. Da eilte Harry schon die Treppe hinauf.

„Komm, gehen wir packen."

Ron stapfte ebenfalls zur Treppe. Seine Stimme war noch rauh vor Zorn.

Hermione sog einen zitternden Atemzug ein, wissend, daß er gleich wieder hochgehen würde.

„Ich werde auch hier schlafen."

Er fuhr herum und starrte sie mit offenem Mund an.

„Weißt du, es gibt hier noch so viel, das ich lesen muß, das uns vielleicht helfen könnte..."

Sie erwischte sich dabei, daß sie am Saum ihres T-Shirts herumzupfte.

„Die alten Schwarten hier sind wichtiger als ich?!"

„Nein, es ist nur -"

„Ja? Ich höre?"

„Es ist wichtig, mehr über unsere Aufgabe herauszufinden und sich auf alles vorzubereiten!"

„Du hast seit Wochen nichts anderes gemacht. Ich habe den ganzen Monat meine Familie nicht gesehen. Ich will nach Hause, bevor ich wieder nach Hogwarts gehe, in die Fänge dieser Fledermaus! Und meine Eltern wollen dich auch sehen. Sie kümmern sich seit Jahren um dich! Ist dir das egal?"

„Deine Eltern habe ich in den letzten Jahren öfter gesehen als meine." Ihre Augen begannen zu brennen und die Kehle wurde ihr eng. „Glaubst du, ich weiß nicht, wie es ist, die Familie nicht zu sehen? Meine Eltern sind in Honkong, und nicht erst seit diesem Monat."

„Und deshalb soll ich meinen fernbleiben? Fühlst du dich davon besser?"

„Nein!"

Doch er sprach weiter, als hätte er sie nicht gehört.

„Bei dir dreht sich alles nur ums Lernen. Bücher sind dir wichtiger als alles andere!"

„Das stimmt nicht !"

„Ach ja, und halbintelligente magische Wesen. Die sind auch wichtiger als Menschen. Mir reichts! Ich bin nicht länger dein Zeitvertreib. Geh doch zu deinen Büchern!"

Hermione hörte das Poltern, als er die Treppe hochstapfte, doch sehen konnte sie nichts mehr. Tränen liefen in Sturzbächen über ihr Gesicht. Sie spürte die Fliesen nicht, auf denen sie lag, denn der Schmerz in ihrem Inneren war viel kälter.