IV. „Ohne sie ist kein Staat zu machen!"

Menschenfressermenschen sind normal und meist sehr fleißig
Menschenfressermenschen gibt's nicht erst seit '33
Menschenfressermenschen sind oft ganz ganz liebe Väter
Menschenfressermenschen sind meist Überzeugungstäter

Harry hatte sich mittlerweile zu einem typischen Auroren entwickelt. Nach Dienstantritt, wenn die Kollegen der Nachtschicht die Türen hinter sich zugemacht hatten, holte er sein Frühstück heraus. Die immer gleichen Abläufe taten ihm gut. Die Berichte in den Akten, die er bearbeitete und die Außeneinsätze waren anstrengend genug, da brauchte er einen gemächlichen Start in den Tag. Er genoss seinen schwarzen Kaffee und legte die Füße auf den Schreibtisch. Zur Unterhaltung blätterte er in der aktuellen Ausgabe des Tagespropheten.

Was war das?

Hatte er das richtig gelesen?

Er musste sich verlesen haben!

Nun sah er genauer hin, hielt das graue Papier mit den kleinen, schwarzen Buchstaben direkt vor seine Augen.

Auf Seite drei stand etwas Ungeheuerliches.

Der Prophet segelte durch die Luft und als er den Boden berührte, war Harry schon lange aus dem Büro gestürmt. Ron sah ihm verwirrt hinterher, seufzte und hievte sich auf, um die Zeitung aufzuheben. Stöhnend setzte er sich wieder an den Schreibtisch und biss in sein Käsebrötchen, während er nach dem Artikel suchte, der Harry so maßlos aufgeregt hatte.

oOo

„Kingsley?", rief Harry und eilte in das Vorzimmer des Ministers. Seine Sekretärin schreckte auf, als hätte er die Türe eingetreten. „Kingsley, ich weiß, dass du da bist."

„Mr. Potter, auch Sie brauchen einen Termin", begann sie zu nörgeln.

Harry beachtete sie nicht. „Kingsley, wir müssen reden", rief er nochmals durch die geschlossene Tür.

Dies brachte ihm ein tadelndes Grunzen von der sonst so vornehmen Dame ein. Er wollte sich gerade umdrehen und intensiver auf sie einreden, als sich die Tür vor seiner Nase öffnete. Kingsley lugte hinaus. „Ist schon gut, Cynthia, ich erwarte Mr. Potter bereits."

Sie öffnete den Mund, um etwas zu erwidern. Tatsächlich hauchte sie etwas von „Terminkalender", aber ihre Stimme brach und der Protest erstickte. „In Ordnung", rang sie sich ab, um sich keine Blöße zu geben.

Zufrieden folgte Harry dem Minister in sein Büro und nahm vorm Schreibtisch im Besuchersessel Platz. Kingsley ließ sich dahinter nieder. Er legte die Hände auf das dunkle Holz ab und faltete sie ineinander. Souverän blickte er zu Harry. „Was bedrückt dich?"

„Die Meldung auf Seite drei des Tagespropheten."

Kingsley seufzte. „Das habe ich mir schon gedacht. Du bist hier, um mich an meine Werte zu erinnern, nicht? Um mir eine Standpauke über Standfestigkeit und Moral zu halten –"

Leidenschaftlich schüttelte Harry den Kopf. „Nein!" Er biss sich auf die Lippen. Eigentlich hatte er gedacht, dass er auf mehr Widerstand treffen würde, auf Uneinsichtigkeit und Egozentrismus. Doch nichts dergleichen fand er vor – natürlich, vor ihm saß Kingsley. Ein Mitstreiter gegen die Todesser, ein Verfechter von Gleichheit und Freiheit. Harry fühlte sich hilflos, sein Kopf war voller Fragen. Er fühlte sich ratloser, als wenn Kingsley einfach die Wahrheit geleugnet hätte. Ein Seufzer kroch aus seiner Kehle. „Ich will dich nur verstehen. Wie konntest du all die Ministeriumsangestellten wieder in ihre alten Jobs verhelfen?"

Der Minister schluckte und blickte ihn starr an. „Die Welt ist nun einmal nicht so einfach, wie es sich jeder wünscht. Es gibt viele widerstreitende Interessen, die ich berücksichtigen muss. Als Zaubereiminister trage ich die Verantwortung – für die ganze magische Gesellschaft des Vereinigten Königreichs. Bei meinem Amtsantritt habe ich geschworen, nie meine persönlichen Wünsche über die Bedürfnisse des Ministeriums zu stellen."

Die Worte bereiteten ihm Kopfschmerzen. Harry stöhnte und rieb sich die Stirn. Er versuchte, sie wegzumassieren, doch je länger er im Büro saß, desto schlimmer wurden sie. „Du hast Menschen wieder eingestellt, die unter Voldemort die Verfolgung der Muggelgeborenen ermöglicht haben. Eben jene sitzen nun wieder in ihren Positionen – in der Besenzulassung, in der Aufsicht und Führung magischer Tierwesen, im Büro gegen den Missbrauch von Muggelartefakten, sogar in der Aurorenzentrale!"

„Harry!" Er hob beschwichtigend die Hände, doch es half nur wenig. Harry hatte sich bereits in Rage geredet. Die Kopfschmerzen hämmerten von innen gegen seinen Schädel. Kingsley gab sich Mühe, ihn zu beruhigen. „Höre mir zu, es gab keine andere Möglichkeit."

„Es gibt immer andere Wege."

„Du weißt nicht, wovon du sprichst. Hast du dir die Abteilungen schon einmal angesehen?"

Wieder biss er sich auf die Lippen. Er hatte gearbeitet, Tag und Nacht, um die flüchtigen Todesser zu fassen. Er hatte nicht einmal die Zeit gehabt, seinen Urlaub zu nehmen, geschweige denn, sich in den anderen Abteilungen, die nicht in seinem Interessengebiet lagen, umzusehen. Er schwieg und Kingsley nahm dies als Bestätigung.

„Hättest du es getan, hättest du auch nicht viel gesehen." Was im ersten Moment wie eine Entschuldigung klang, erwies sich im zweiten als Totschlagargument. „Wir haben einen eklatanten Personalmangel. Wer soll die Besen zulassen oder die magischen Tierwesen kontrollieren und unterstützen? Die Prüfer im Büro gegen den Missbrauch von Muggelartefakten und die Auroren gehen auch auf Zahnfleisch, weil die Personaldecke so dünn ist. Sobald jemand ausfällt, wegen Krankheit oder aus anderen Gründen, müssen sie Doppelschichten schieben. Was soll ich all jenen sagen – dass sie weiter so machen müssen, weil ich mir nicht zutraue, die neuen alten Angestellten zu führen und eventuelle Missbräuche zu unterbinden?"

Harry verschränkte die Arme vor der Brust und brummte wie ein Bär, den man aus seinem Winterschlaf gerissen hatte: „Mussten es ausgerechnet sie sein?"

„Wer sonst?", fragte Kingsley zurück. „Es ist niemand anderes da."

„Ähm ..." Er grübelte. Es musste doch jemanden geben. „Was ist mit den Hauselfen? Die könnten doch Aufgaben erledigen ..."

„Sie müssten schon über eine verwaltungstechnische Ausbildung verfügen, wenigstens Erfahrung in dem Bereich sollten sie mitbringen. Zudem sollte man sich, wenn man für das Ministerium arbeitet, in Wort und Schrift gut ausdrücken können. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Hauselfen diese Aufgabe auch nur halbwegs zufriedenstellend erledigen können und ich habe keine Zeit, die ich in eine adäquate Ausbildung investieren kann. Mal ganz abgesehen, von den politischen Unruhen, die eine solche Entscheidung nach sich ziehen würde. Das Problem ist nun da und muss nun gelöst werden."

„Ähm ..." Harry fühlte sich unter Druck gesetzt. „Es muss doch andere geben!", brach es aus ihm hervor. „Nicht die, die fröhlich unter Voldemort die Muggelstämmigen verdammt haben. Sie alle haben dazu beigetragen, dass die Todesser und Greifer folgenlos Menschen umbringen konnten, die ihnen nicht angenehm waren. Kingsley, du warst doch auch im Orden – sage bloß nicht, das sei alles egal. Sie mögen vielleicht keine herausragende Rolle gespielt haben, immerhin waren sie weder Todesser noch Greifer, doch sie haben dafür gesorgt, dass diese tun konnten, was sie getan haben."

Kingsley nickte leidlich. „Das mag stimmen, Harry, aber der Staat ist ohne sie nicht zu machen."

„Aber was für ein Staat?"

„Sie sind kleine Lichter, es wird nicht zu solchen Exzessen kommen, wie du sie befürchtest."

Harry ballte die Hände. „Ich bin nicht hier, weil ich Angst habe. Ich bin hier, weil ich Gerechtigkeit will. Ich möchte, dass die Täter, gleich, wie klein ihre Rolle auch sein mag, bestraft werden. Schreibtischtäter gehören nicht in den Staatsdienst eines humanistischen Ministeriums."

„Dann bist du hier an der falschen Adresse." Kingsley warf ihm einen dunklen Blick zu. „Gerechtigkeit wird im Gerichtsaal erstritten, nicht in den Personaleinstellungen eines vom Krieg gebeutelten Ministeriums."