Rotwein is a girl's best friend
Beauty of the Dark – Mads Langer
Am nächsten Abend besuchte ich den Mystic Grill erneut. Der Tag war zwar besser verlaufen, als der gestrige, aber mir schwirrte trotzdem der Kopf. Ich hatte mich heute nur zweimal auf der Suche nach dem richtigen Klassenzimmer verlaufen und hatte die meiste Zeit mit Elena und Stefan verbracht, deren Gesellschaft deutlich weniger wortreich und chaotischer war als Carolines. Sie hatten mir ein wenig die Stadt gezeigt, bevor sie zu Stefan nach Hause verschwunden waren. Ich konnte die beiden verstehen. Wenn ich so einen heißen Freund hätte wie Elena, dann würde ich auch nicht den ganzen Tag Babysitter für eine Austauschschülerin spielen wollen.
Ich setzte mich auf den gleichen Platz wie gestern und bestellte mir wieder mein wohl verdientes Glas Rotwein. Keine Minute später stand er auch schon vor mir. Ich wollte gerade danach greifen, als:
„Bist du nicht zu jung, um Alkohol zu trinken?", fragte eine männliche Stimme amüsiert neben mir.
„Bist du nicht zu betrunken, um noch zu trinken?", schoss ich zurück.
Seelenruhig hob ich das Glas an meine Lippen, nahm genüsslich einen Schluck und stellte das Glas wieder zurück, bevor ich meinem Gegenüber ins Gesicht sah. Es hatte mich sowieso schon gewundert, warum man mich – angeblich siebzehnjährige Schülerin – widerstandslos Alkohol trinken ließ.
„Da, wo ich herkomme, bin ich alt genug," erwiderte ich gelassen.
Er hob die dunklen Augenbrauen und sein Mundwinkel schob sich nach oben. Ich zwang mich, mein Gesicht ausdruckslos zu halten und mir mein klopfendes Herz nicht anmerken zu lassen. Stefans Bruder stand dicht neben mir und musterte mich aus unergründlichen Augen. Seine Augen hatte ich gestern nicht sehen können, was ich jetzt bedauerte, denn sie waren außergewöhnlich. Eine Mischung aus einem sehr hellen Blau und Grau, wie aufziehende Gewitterwolken. Und sie schienen direkt durch mich hindurch in meine Seele zu blicken.
„Und das wäre?", wollte er wissen und setzte sich auf den Hocker neben mich. Mit einem Fingerzeig und einem Nicken bedeutete er dem Barkeeper, mein Glas aufzufüllen und ihm einen Bourbon zu bringen.
„Italien. Wir nehmen den Rotwein quasi mit der Muttermilch auf," sagte ich, nachdem der Barkeeper uns wieder allein gelassen hatte.
„Ah." Er musterte mich interessiert. „Die Austauschschülerin. Die ganze Stadt spricht über dich." Seine Finger trommelten auf die Theke, während sein wachsamer Blick von meinen langen dunklen Haaren, die offen über meine Schultern fielen, zu meinem weißen T-Shirt und der engen Jeans wanderten und schließlich an meinem Ausschnitt hängen blieb. Er betrachtete einen Moment die Kette mit dem Anhänger der Heiligen Maria, bevor er mir wieder in die Augen sah.
Ich hielt ihm die Hand hin. „Sienna Conti."
Er nahm meine Hand und hielt sie länger, als angemessen gewesen wäre. Mit Absicht. Er wollte mir wohl zu verstehen geben, dass ich mit dem Feuer spielte. Als ob ich das nicht wüsste! Aber ich hatte mein ganzes Leben zu nah an der Flamme verbracht, so schnell verbrannte ich mich nicht.
„Damon Salvatore." Er hatte schöne Finger, lang und elegant. Erstaunlich warm. Ich hatte keine Ahnung, warum ich an seine Finger dachte. Er betrachtete mich auf eine solch intensive Art, dass ich ein wenig atemlos wurde, als er mir erneut in die Augen blickte.
„Ich weiß. Man hat mich vor dir gewarnt." Ich schluckte, hob mein Glas an und trank noch einen Schluck.
„Lass mich raten." Er kippte sein Glas in einem Zug hinunter und winkte dem Barkeeper erneut. „Mein kleines Brüderchen Stefan." Er schnaubte widerwillig. Er senkte die Lider, sodass seine fantastischen Augen kurz abgeschirmt waren.
Meine Wangen wurden heiß. Ich schüttelte den Kopf.
„Hm." Damit hatte er wohl nicht gerechnet. Er beugte sich näher zu mir, sah mir tief in die Augen. Sein Geruch nach Zedernholz, Bourbon und Kupfer stieg mir in die Nase und verdrehte mir den Kopf. Verdammt, er sah verboten gut aus. Und genauso roch er auch.
„Wer hat dich gewarnt?", fragte er leise, mit einschmeichelnder Stimme.
Ich ließ ihn noch ein wenig zappeln, trank noch einen Schluck aus meinem Glas und ließ den Wein auf meiner Zunge zergehen. Geduld schien nicht seine Stärke zu sein, denn er stieß die Luft aus und verdrehte die Augen.
„Es war Bonnie, aber..." Ich verstummte, da er eine Hand ausstreckte, um eine Strähne einzufangen. Er strich sie mir hinters Ohr, und ich rang nach Luft.
Er fasste sich an die Stirn. „Wer sonst?", murmelte er mehr zu sich selbst, ließ seine Hand sinken, bis seine Fingerspitzen seitlich an meinem Hals verharrten.
Meine Wangen wurden wieder wärmer. Ich hatte keinen Schimmer, wie ich reagieren sollte, zumal seine Finger federleicht über meinen Hals strichen.
Ganz in schwarz gekleidet – schwarzer Pullover mit V-Ausschnitt, Designerjeans und glänzende Lederboots – mit seinen ungewöhnlichen eisblauen Augen und diesem dunklen Blick, der so kalt war wie die Antarktis, sollte er überhaupt nicht sexy aussehen. Aber das tat er. Gott, und wie! Der Nachteil war, dass die ganze Kälte – die ganze Dunkelheit – direkt auf mich gerichtet war.
Ich versuchte, wegzusehen, aber es war unmöglich. Versuchte, Damon nicht in die Augen zu blicken. Aber er war heute Abend genauso fesselnd – genauso faszinierend – wie gestern. Und das war, bevor er sich bewegt hatte, mit dieser lässigen Anmut, mit lockeren Schultern und geschmeidigen Hüften und Beinen, die verdammt noch mal endlos waren.
Es war überwältigend.
Er war überwältigend.
Er ist nur ein Kerl, erinnerte ich mich, während mein Mund staubtrocken wurde. Nur ein normaler Kerl wie jeder andere hier. Aber selbst als ich mir das einredete, wusste ich, dass es eine Lüge war. Damon war alles andere als normal. Alles andere als gewöhnlich, selbst hier, inmitten des Außergewöhnlichen.
Ich machte einen angestrengten Atemzug und hoffte, er würde mich etwas beruhigen. Es funktionierte nicht, aber ich hatte auch nicht wirklich daran geglaubt.
Nicht, wenn alles, was ich sehen konnte, war, wie er vor mir saß und an seinem Drink nippte.
Nicht, wenn alles, was ich hören konnte, seine Stimme war – tief, verrucht, wild -wie sie mich warnte.
Nicht, wenn alles, woran ich denken konnte, war, diesen Mund zu küssen, meine Zunge entlang des perfekten Bogens seiner Oberlippe gleiten zu lassen, seine Unterlippe zwischen meine Zähne zu ziehen und ein klein wenig darauf zu beißen.
Ich weiß nicht, woher diese Gedanken kamen – das war nicht ich. Ich habe noch nie so über einen Kerl gedacht, nicht einmal über meinen Exfreund in Italien. Sogar bevor wir das erste Mal ausgegangen waren, war ich nie dagestanden und hatte mir vorgestellt, wie es wohl wäre, ihn zu küssen.
Meine Arme um ihn zu schlingen.
Meinen Körper eng an seinen zu pressen.
Weil ich ihn beinahe fühlen konnte – beinahe schmecken konnte. Ich versuchte, mich zu zwingen, an etwas anderes zu denken. Venedig. Den morgigen Unterricht. Meinen Vater.
Nichts funktionierte, weil alles, was ich wahrnahm, er war.
Meine Haut erhitzte sich unter seinem Blick, meine Wangen glühten vor Verlegenheit bei den Gedanken, die mir durch den Kopf schossen. Und bei der Art und Weise, wie er mich ansah, als ob er jeden Einzelnen lesen konnte.
Es war unmöglich, das war mir klar. Aber die Vorstellung erschreckte mich so sehr, dass ich meinen Blick von ihm riss und mein Glas Rotwein zum Mund hob, während ich krampfhaft versuchte, gleichgültig auszusehen.
Was sollte ich jetzt sagen? Oder tun? Gott sei Dank hatte ich mein Lieblingsshirt und meine Lieblingsjeans angezogen, in denen ich mich seit jeher wohl gefühlt hatte. Genauso wie den Baumwollslip mit den Totenköpfen drauf.
Hilfe.
Warum dachte ich das überhaupt?
Damon würde meinen Schädelslip nicht zu Gesicht bekommen. Ich nippte an meinem Wein und überlegte, was ich sagen konnte, das nicht grenzenlos blöd klang. Als ich wieder zu ihm sah, fiel mein Blick auf seinen Mund. Ich versuchte, mir nicht auszumalen, wie er sich auf meinem anfühlen würde ... und an anderen Stellen.
Mir wurde am ganzen Körper heiß. Gott, ich konnte mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal so auf jemanden reagiert hatte, der mich nicht einmal anfasste. Es hatte immer nur Luca gegeben, und auch wenn mit ihm zunächst alles in Ordnung gewesen war, hatte allein der Gedanke an ihn nie bewirkt, dass mein Puls so wild hämmerte wie jetzt. Ich holte tief Luft und beschloss, dass ich lieber jetzt aufhörte zu trinken, damit ich die Chance hatte, meine Hormone zu zügeln.
Langsam glitt ich von meinem Hocker. „Danke für den Wein, Damon."
Blitzschnell war er ebenfalls aufgestanden und hielt mich am Ellenbogen fest. Ein leiser Verdacht rührte sich in der hintersten Ecke meines Verstandes. Konnte es sein? Meine jahrelange Ausbildung trat sofort in Aktion. Sein fast unheimlich gutes Aussehen, der metallartige Geruch, sein hypnotisierender Blick, seine schnellen Bewegungen. Das alles ließ nur einen Schluss zu.
Nein, ich war paranoid. Weil die Suche nach meinem Vater bisher erfolglos war, bildete ich mir Dinge ein, die gar nicht da waren. Ich wollte unbedingt einen Grund finden, warum mein Vater hier gewesen sein musste.
Eine warme Hand an meinem Ellenbogen riss mich aus meinen Gedanken. „Sienna? Kommst du?", sagte Bonnie und ich fuhr herum.
„Was?" Ich sah sie verwirrt an.
Bonnie warf mir einen verschwörerischen Blick zu. „Du wolltest doch mit uns zum Football-Spiel. Wenn wir jetzt nicht aufbrechen, kommen wir zu spät." Sie zog mich mit sich, drehte Damon den Rücken zu und marschierte zum Ausgang. Sie hatte kein Wort mit ihm gewechselt. Hatte ihn nicht einmal angesehen.
„Aber..."
Sie zerrte mich unbeirrt weiter.
Ich warf ihm über die Schulter einen letzten Blick zu. Er winkte mir hinterher, ein kleines Grinsen im Gesicht, und verdrehte die Augen, als wüsste er genau, dass Bonnie eine Ausrede erfunden hatte, um mich von ihm wegzubekommen.
Draußen vor der Tür stellte ich Bonnie zur Rede. „Was soll denn das?", fuhr ich sie an. „Ich hab nie gesagt, dass ich zu dem Spiel mitkomme."
Mit einem Seufzen fuhr sie sich durch die Haare. „Ja, ich weiß. Tut mir leid, ich konnte nicht anders. Ich hab dir doch gesagt, dass du dich von Damon fernhalten sollst. Er ist kein netter Mensch, Sienna. Das ist mein Ernst," sagte sie mit Nachdruck.
„Ich brauche keinen Babysitter, okay? Ich kann sehr gut auf mich alleine aufpassen. Wir haben uns nur unterhalten. Du tust gerade so, als hätte ich für ihn nackt auf der Theke getanzt." Ich befreite mich aus ihrem Griff und marschierte die Straße hinunter.
„Wenn er es gewollt hätte, dann hättest du es getan," rief sie mir hinterher.
Ich drehte mich zu ihr um. „Was soll das denn heißen? Hältst du mich für so unvernünftig?"
„Nein!" Bonnie kam zu mir gelaufen. „Hör zu, Sienna, ich möchte nur nicht, dass du verletzt wirst. Und das wirst du zwangsläufig, wenn du dich auf Damon einlässt. Du kennst ihn nicht. Du weißt nicht, was für ein Scheusal er ist." Bonnie nahm meine Hand und drückte sie leicht.
Mein schlechtes Gewissen rührte sich. Vielleicht war ich etwas zu forsch gewesen. Sie machte sich nur Sorgen um mich. Sie konnte nicht wissen, dass sie sich eher Sorgen um Damon machen sollte als um mich. Sie dachte, ich wäre die brave, zurückhaltende Austauschschülerin. Sie wusste nicht, wer ich wirklich war, weil ich es so wollte.
„Okay," lenkte ich ein. „Ich verspreche dir, mich von ihm fern zu halten. Bitte mach dir keine Sorgen. In Venedig bin ich schon mit ganz anderen Typen fertig geworden."
„Das glaube ich nicht," murmelte sie und dachte, ich hätte sie nicht gehört.
„Musst du nicht zu dem Spiel?", erinnerte ich sie.
„Bist du sicher, dass du nicht mitkommen willst? Ein paar gut gebaute Jungs in verschwitzten Trikots anschauen?"
Ich schüttelte lachend den Kopf. „Eher nicht. Außerdem muss ich noch zwei Kapitel für morgen lesen. Aber ich wünsche euch viel Spaß."
Wir verabschiedeten uns und ich ging zu meinem Käfer. Ungewollt hatte mich Bonnie auf eine neue Spur gebracht, der ich unbedingt nachgehen wollte.
