Training
Die Parade der Tribute zieht an mir vorbei, als hätte ich sie lediglich in einem Traum erlebt. Kaum sind die Kutschen nach ihrem Weg durch die Stadt im Trainingscenter eingerollt, kann ich mich kaum mehr daran erinnern. Wie viele Leute wohl da waren? Da war Geschrei, Gejohle, Zurufe aus allen Richtungen. Ich habe mehr als nur einem Kapitolbewohner zugegrinst und siegessicher in die Runde gewunken. Doch so richtig eindringlich ist mir nur der Moment im Kopf geblieben, in dem ich Tic beim Heben des Arms aus Versehen zur Seite gedrängt habe. Sicher ist es das, was mir den strengen Blick von Porter einbringt, als wir aus dem Wagen steigen. Während sie Tic an den Schultern packt und beiseitenimmt, kommt Spudnell jedoch auf mich zu und tätschelt mir die Schulter.
„Sie lieben dich. Sie können dein Interview kaum abwarten."
„Danke."
„Einer von diesen ranghöheren Beamten hat sich jetzt schon als Sponsor eintragen lassen – er fand stark, wie du Tic fortgestoßen hast. Den ersten Gegner schon vor Beginn der Spiele ausgeschaltet, sagt er."
„Ich habe ihn nicht gestoßen", sage ich fest und raffe mein Kleid hoch, um Spud besser auf der Treppe folgen zu können, die zu unserer Unterkunft für die kommende Woche führt.
Spud lacht hämisch. „Na, wenn du das glaubst."
Ich bleibe auf der Stelle stehen. „Es ist so."
„Porter nimmt ihn auch in Schutz. Aber du kannst froh sein, mit einem Jungen wie Tic hast du in der Arena einen Gegner weniger."
Ich spüre, wie bei diesen Worten wieder dieselbe Wut in mir hochkocht wie als ich vor der Parade Obethia angegriffen habe. Nicht, weil es grausam ist zu hören, dass Tics Mentor nicht an ihn glaubt – sondern weil ich bereits denselben Gedanken hatte und mich danach unglaublich schuldig gefühlt habe. Nun jedoch ist der Gedanke ausgesprochen und dadurch umso wahrer geworden.
„Ich werde in der Arena maximal zweiundzwanzig Tribute töten", sage ich zu Spud und versuche meine Schuldgefühle zu verschleiern.
„Jemand anderes wird ihn erledigen und dir dadurch eine Stufe höher in Richtung Sieg helfen." In Spuds Augen glänzt etwas, das mir gar nicht gefällt. Es ist nicht Stolz über mich als Tribut und es ist auch kein Glaube an meine Fähigkeiten. Es ist Gier. Ruhmesgier. Distrikt 5 steht im Vergleich mit den anderen nicht sonderlich gut da, aber eben auch nicht sonderlich schlecht. Wir sind nicht arm, aber wir sind auch nicht so reich wie die Leute in 1 oder 2. Wir hatten bereits einige Sieger, aber nun eben auch keine überragend hohe Zahl. Wir sind überall im oberen Mittelfeld und deshalb sind wir das schlimmste von allem: Vergessenswert. Den Sponsoren häufig völlig egal. Nicht einmal die Sieger, die wir haben, sind spektakulär: Porter ist meist stumm, Ayrta ist nie da und Spud … nun, der hat gerade bewiesen, dass er sich an alles klammern würde, was ihm in irgendeiner Form Ansehen bringen könnte.
„Solltest du Tic nicht coachen anstatt ihn runterzumachen?", entfährt es mir.
Er zuckt erstaunt zurück und muss sich am Geländer festhalten, um nicht zu stolpern. „Solltest du mir nicht dankbar sein?"
„Ich spiele die Spiele nach ihren Regeln, also tu du es auch. Tu wenigstens so, als würdest du an ihn glauben!"
„Tust du es?", gibt er zurück.
„Was ich glaube, spielt keine Rolle", sage ich. „Ich weiß, dass er für meinen Sieg sterben muss. Aber es ist deine Aufgabe, ihm dasselbe Mindset über mich zu vermitteln." Ich mustere ihn abschätzig. „Du hast kein Rückgrat, Spudnell. Was zum Teufel ist nach deinen Spielen passiert?" Und damit dränge ich mich an ihm vorbei.
Die Etage, in der Tic und ich als Tribute einquartiert werden, ist ähnlich luxuriös wie die Zugabteile, nur viel, viel größer. Auch nach all den Jahren der Fernsehübertragung von den Spielen und der Erzählungen meiner Großeltern, wie es im Kapitol ihrer Meinung nach wohl sein könnte, bleibt mir beinahe der Mund offenstehen. Von kahlen Betonwänden, wie wir sie in Distrikt 5 überall haben, ist hier keine Spur. Jeder freie Zentimeter der Räumlichkeiten ist mit Teppichen, Bildern und Wandbehängen geschmückt. Im Eingangsbereich steht eine weich aussehende Sofagruppe um einen Fernseher herum, dahinter erkenne ich einen riesigen hölzernen Esstisch mit Stühlen, die wahrscheinlich mehr gekostet haben als der Durchschnittsbürger in meinem Heimatdistrikt im Jahr verdient. Betten sehe ich keine, daher rechne ich damit, dass Tic und mir wohl wieder eigene Zimmer zugewiesen werden – zuhause ein absoluter Luxus, den meine Großeltern mir nur durch die Entschädigung für meine unschöne Geburt bieten konnten. Und wirklich, ein stummer Kapitolsdiener zeigt mir den Weg in einen Raum, der dreimal so groß ist wie das, was ich im Haus meiner Familie mein Zimmer nenne. In der folgenden Nacht schlafe ich so tief wie noch nie.
Dann jedoch steht das Training an. Am liebsten hätte ich Porter angebettelt, noch einige Stunden in den Kissen und Decken liegenbleiben zu dürfen. Doch mein Plan, wie ich die Spiele gewinnen will, beinhaltet nun einmal auch die Trainingseinheiten. Also ziehe ich die einheitliche Kluft an, die das Kapitol den Tributen zur Verfügung stellt, stopfe ein wenig Obst in mich hinein und folge den Mentoren und einem zunehmend unruhiger werdenden Tic in die Sporthalle des Gebäudes. Als wir aus dem Aufzug steigen, will Porter uns beide noch einmal zur Seite nehmen. Allerdings biegt in diesem Moment das Team aus Distrikt 4 um die Ecke und als ich den brachialen Jungen erkenne, reiße ich mich los und betrete die Trainingshalle. Nach unserem Blickkontakt vor der Parade muss er mich nicht von Babysittern umringt sehen.
Als uns die Sportcoaches des Kapitols in die Geräte und Waffen einführen, setze ich mich daher auch nicht auf den Boden, sondern lehne mich scheinbar desinteressiert gegen eine Säule der Halle. Trotzdem höre ich so genau zu wie möglich – nicht nur den Regeln, sondern auch dem Getuschel unter den Tributen. So schnappe ich den Namen des großen Jungen auf, Saylor, außerdem den seiner Distriktpartnerin, Riva. Sie unterhalten sich leise, aber so energisch, dass ich mir sicher bin, dass die beiden ihre Allianz für die Arena planen. Kaum öffnen die verschiedenen Stationen, gesellt sich auch das Mädchen aus Distrikt 2 zu ihnen und die Anfänge des Teams der Karrieretribute steht.
Ich straffe die Schultern, um nicht eingeschüchtert zu wirken, und gehe als erstes zum Messerwerfen. Jeder Wurf trifft und ich hämmere mit einer Handvoll Klingen ein grinsendes Gesicht in die Wand. Mit einer Verneigung in Richtung der drei Karrieretribute setze ich meinen Weg durch die Halle fort. Nach und nach klappere ich alle Übungsstationen ab, bei denen ich mir sicher bin, dass ich die Disziplinen beherrsche. Der Grund ist simpel: Am ersten Tag beschnuppern sich alle Tribute gegenseitig und vor allem auf mich sind einige Augen gerichtet. Zur Einschüchterung zeige ich daher alles, was ich kann, direkt heute. Alles, was ich noch nicht kann – und dabei handelt es sich immer noch um eine ganze Menge – werde ich mir in den kommenden Tagen beibringen lassen. So weit ich das beurteilen kann, läuft mein Plan ganz gut. Mehr als ein Tribut verlässt hastig seine Station, als ich näherkomme, und einige beginnen mit Blicken in meine Richtung zu flüstern. Als am Ende des Tages ein großes weißblondes Mädchen auf mich zukommt, weiß ich, dass ich auf dem richtigen Weg bin.
„Ich bin Angel", sagt sie selbstsicher und hält mir aufdringlich die Hand hin.
Ich ergreife sie demonstrativ nicht, sondern streiche mir eine Haarsträhne hinter Ohr. „Was gibt's?"
„Saylor hat dich beobachtet. Er will, dass du dich mit uns verbündest." Sie zieht die Hand zurück und spiegelt nun meine Geste wider.
„Und weshalb kommt Saylor dann nicht selbst?", frage ich und blicke an ihr vorbei zu den zusammengeschlossenen Tributen aus den Distrikten 4, 2 und 1 hinüber. Angel muss per Ausschlussverfahren aus 1 stammen. Möglicherweise haben die anderen sie aber auch aufgrund irgendwelcher nützlichen Fähigkeiten aus einem anderen Distrikt rekrutiert. Im Grunde ist es mir egal. „Hat er Angst vor mir?"
Sie lächelt. „Das hättest du wohl gern."
Ich lege berechnend den Kopf schief. „Nein. Das sollte er einfach, wenn er länger leben will als ich."
Angels Lächeln gefriert in ihrem Gesicht. Eine Weile dreht sie die Hände vor der Brust verschränkt hin und her, dann öffnet sie den Mund wie zu einem giftigen Kommentar. In dem Moment tritt jedoch der Junge aus Distrikt 4 selbst an uns heran und unterbricht sie.
„Na, Saylor?", frage ich lässig. Dabei entgeht mir jedoch nicht, was für ein Hüne er ist. Ich habe in wenigen Tagen Geburtstag, bin fast 19 Jahre alt und somit vermutlich die älteste der Tribute, doch Saylor strahlt eine Macht aus, die mich wirken lässt wie eine Grundschülerin.
„Na, 5?", sagt er und ich bin mir sicher, dass er nur so tut, als würde er meinen Namen nicht kennen. Er lächelt kalt, dann legt er die Hand auf Angels Schulter. „Schließt du dich uns an?"
„Gern", sage ich. „Wenn du bereits in der ersten Nacht in der Arena an deinem eigenen Blut ersticken willst." Ebenfalls lächelnd fahre ich mir mit dem Finger über den Hals.
„Dann ist dein Schicksal wohl besiegelt. Wenn du da drin auch nur halb so viel zustande bekommst wie beim Training, dann gebe ich dir fairerweise noch ein paar Tage."
„Gleichfalls."
„Wir sind mehr als du."
„Ich kann zählen. Aber ihr könnt nicht zu sechst gewinnen, oder hast du die Regeln nicht richtig verstanden?" Ich blicke fest in seine zusammengekniffenen Augen, dann wandert mein Blick zu Angel und hinüber zu den verbliebenen vier Karrieretributen. „Wer wird wohl der erste sein, der sich gegen die Gruppe stellt?" Fröhlich winke ich zu Riva, dem Jungen aus 1 und beiden aus 2 hinüber, die keines meiner Worte gehört haben. Saylor jedoch hat mich ganz genau verstanden und stößt nun ein verächtliches Schnauben aus. Er bückt sich ein wenig und bringt sein Gesicht ganz nah an meines.
„Das werden wir sehen. Aber du wirst zu diesem Zeitpunkt schon in deinen Einzelteilen von einem Hovercraft abgeholt worden sein."
„Klingt unschön", sage ich ohne eine Spur von Furcht in meiner Stimme. In Wahrheit jedoch bilden sich nun erste Schweißflecken unter meinen Armen und in meinen Kniekehlen. Vor Porter, Spud und meinen Großeltern zu sagen, ich würde die Hungerspiele ganz leicht gewinnen, war leicht. Doch nun, mit einem zähneknirschenden anderen Tribut nur wenige Zentimeter von mir entfernt, schwankt selbst mein Bild von mir ein wenig. Für einen kurzen Augenblick bereue ich meine spottenden Worte – vielleicht wäre die Sicherheit einer Gruppe doch der richtige Weg, die Arena zu bestreiten. Doch noch im gleichen Augenblick, wie ich diesen Gedanken fasse, drehe ich ihn um: Sie brauchen das Team, weil sie alleine vielleicht nicht bestehen könnten. Und eine Gruppe ist nur so stark wie ihr schwächstes Glied. Wer es in diesen Spielen wohl sein mag? Saylor mit seinen einschüchternden Worten ist es vermutlich nicht. Er scheint sich bereits jetzt als Anführer der Gruppe herauskristallisiert zu haben. Vielleicht Angel, deren Körperbau eben so zart ist, wie ihr Name klingt? Oder der Junge aus 2, der sich gerade nur allzu bereitwillig hinter seiner Distriktpartnerin versteckt?
„Du bist tot, Alys, hast du das verstanden?", zischt Saylor, als ich mich ohne ein weiteres Wort zum Gehen wende. Mir entgeht nicht, dass er dieses Mal meinen Namen verwendet. „Ich werde persönlich dafür sorgen, dass dein Bild über der Arena leuchtet."
„Solange du direkt vor mir gezeigt wirst", sind meine letzten Worte, bevor ich in den Aufzug hinauf ins Quartier von Distrikt 5 steige. Ich kann Saylors verärgerten Blick beinah in meinem Hinterkopf spüren. Und in den kommenden Tagen verschlimmert sich die Missgunst der Karrieretribute spürbar, bis sie letztendlich in meiner Trainingsbewertung durch die Spielmacher gipfelt: Einer zehn.
