V. Kalter Krieg
Menschenfressermenschen fressen Menschen selten selber
Menschenfressermenschen haben ihre tausend Helfer
Menschenfressermenschen dürfen niemals ruh'n
Menschenfressermenschen haben schrecklich viel zu tun
London, der 06.08.1998
Der Tagesprophet
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Gestern wurde in einer über sechs Stunden dauernden Sitzung die Neuregelung des Geheimhaltungsgesetzes (kurz: GeheimG) beschlossen. Mit einer Stimmmehrheit von 265 zu 134 nahm der erweiterte Zaubergamot den Gesetzesvorschlag, der eigens vom Minister in die Lesung eingebracht wurde, an. Die von Muggelaktivisten stark angegriffene Neufassung des aus dem 19. Jahrhundert stammenden Gesetzes ist somit unabwendbar. Es bleibt die genaue Ausgestaltung, die in Kürze in einem Ministeriumserlass geregelt werden sollen, abzuwarten.
Harry knallte die Zeitung auf dem Tisch und erschreckte die Fliege, die sich gerade über die Butter hermachte. Sie surrte ängstlich und flog unter der Zeitung hin und her, fand aber keinen Ausweg. Stoisch beobachtete er ihre verzweifelten Fluchtversuche.
„Harry!", rief Hermine aufgebracht, die sich ausgerechnet diesen Tag ausgesucht hatte, um mit ihm und Ginny im Grimmauldplatz 12 zu frühstücken. Sie stocherte lustlos in ihren Bohnen. Der Artikel im Tagespropheten hatte all ihre Aufmerksamkeit auf sich gezogen. „Lies weiter!", drängte sie.
Das Gesülze und die schlechten Nachrichten wollte er nicht sehen. Lieber wollte er weiter in seiner kleinen, heilen Welt leben. Doch dieses hochempfindliche Biosystem wurde bereits jeden Morgen gestört, wenn er auf die Arbeit ging und Verbrechner nachjagte, die eigentlich schon längst in Askaban sitzen müssten.
Hermine wusste, was sie wollte und Harry wusste, dass er ihr seinen Unwillen schlecht erklären konnte. Dafür müsste er ausholen und es würde seine Laune noch weiter in den Keller ziehen. Mürrisch rutschte er nach vorn auf die Stuhlkante und las weiter.
Das kommende Modell zu Kontaktregelung und Geheimhaltung der Magie vor Muggeln ist keineswegs neu. Historiker und Magisoziologen haben seit jeher den Globus in drei Sphären mit eigenen Modellen gliedern können. Das ehemalige, sogenannte „englische" System lässt Kontakte zu den Familienangehörigen von Muggelstämmigen in gerader wie Seitenlinie zu. Dieses wird nun von dem härteren, sog. „amerikanischen" Modell abgelöst werden. Hier, nach dem Rappaport'schen Gesetz, beschränkt sich die Kontakterlaubnis auf die in gerader Linie mit Muggelstämmigen verwandten Personen; zudem ist eine Mischehe zwischen Magier und Muggel verboten. Das Heiratsverbot stellt sich als logische Folge des restriktiven Kontaktverbots dar. Detailfragen, zum Beispiel, ob ein Magier ein Elternteil eines Muggelgeborenen in zweiter Ehe heiraten dürfte, klärt eine rund fünftausendfünfhundert Seiten lange Durchführungsverordnung.
Langsam begann Harry der Kopf zu schwirren. Was für Sätze verstecken sich da auf den grauen Seiten? Sie waren so unscheinbar und doch entfalteten sie eine teuflische Wirkung.
„Ich will nicht", sagte er schließlich und schob die Zeitung von sich weg. Die Fliege ließ ein hoffnungsvolles Surren verlauten. Er konnte betrachten, wie sie sich von der einen Gazettenseite zur anderen mogelte. Dann traf sie auf die weiche Butter, die allmählich das Papier befeuchtete und die Geräusche verstummten. In Zeitlupe hob er die Hand. Sie warf keinen Schatten auf das Blatt.
„Wie?", fragte Hermine tonlos.
Harry würdigte sie keines Blickes. Seine Augen waren auf die Zeitung gerichtet, dort wo unter der Seite die Butter und die Fliege gerade ein schönes Stelldichein hatten.
„Was willst du nicht?", stocherte Hermine weiter. „Lesen? Oder essen? Du machst gar nichts von beidem … – Und du guckst so komisch ..."
Er holte aus. Seine Hand rauschte hinunter und schlug die Butter breit. In seiner Handinnenfläche spürte er, wie sich ein winzig kleiner Körper gegen seine Haut drückte. Dann bewegte sich nichts mehr, nur Hermines Augenbrauen wanderten skeptisch in die Höhe.
Harry seufzte.
Eigentlich war ihm der Appetit längst vergangen. Lieber wäre er ins Bad marschiert und hätte sich über die Kloschüssel gebeugt. Seine Freundin aber ließ ihm keine andere Wahl. Mit aufgeblasenen Backen und einem rumorenden Magen beugte er sich über die Zeitung und stierte den Hügel an, der die Fliegenleiche in der gefächerten Butter bedeckte.
Das dritte Modell wird momentan in Russland praktiziert, hängt den beiden anderen jedoch in seiner Fortschrittlichkeit nach. So sollen die Regelungen aus mittelalterlichen Dekreten entstammen. Dort wird eine immerwährende Annäherung der Magier an die Muggel gelebt. Zauberschüler werden daher in ihrer Ausbildung auch mit der Muggeltechnik vertraut gemacht. Muggelkunde ist das wichtigste und in allen Schuljahren am präsenteste Fach der russischen Zauberschule. Ebenso wurden in der Stalin'schen Ära als Maßnahme der Bevölkerungskontrolle magische Dörfer aufgelöst und zaubernde Anwohner umgesiedelt. Die Folge ist eine angepasste, kaum vorhandene magische Kultur, die dem Diktat der Muggelwelt unterworfen ist. Um die Muggel an den Gedanken einer zaubernden Parallelwelt zu gewöhnen und um bei ihnen Gedanken an freundlichen Hexen und Zauberer hervorzurufen, ist das industrielle Schwellenland in den letzten Jahrzehnten dazu übergegangen, Kinderbücher mit Freundschaftsgeschichten zwischen Magier und Muggel zu publizieren. Ein Trostpreis für die gebeutelten Hexen und Zauberer.
Er faltete die Zeitung zusammen und schnipste die Fliege vom Tisch.
„Und was denkst du?", ereiferte sich Hermine. Sie blinzelte mehrmals in einem Sekundenbruchteil. „Das schreit doch gerade so nach Demonstrationen!"
Harry schluckte. Irgendwo hatte sie recht. Die Neuregelung des Geheimhaltungsgesetzes war wohl nicht unrecht, doch sie erschien ihm nicht als politisch klug. Denn … – machte man nicht das, was die Reinblüter wollten? Diese strikte Trennung zwischen Magier und Muggel war doch ihr feuchter Traum gewesen? Andererseits … – wenn der Gamot es beschloss, war es doch eine demokratische Entscheidung? Es gab Verbrecher zu fangen, die sich auf jeden Fall außerhalb des Gesetzes aufhielten.
„Es ist ein Rückschritt!", brummte Hermine. „Wir haben nicht einen Krieg gewonnen, um nun die Reinblutideologie durch die Hintertür umzusetzen."
Hilflos zuckte Harry mit den Achseln. Sie funkelte böse, als sie die Geste sah.
„Warum machen sie das?", fragte er und wusste nicht, ob er wirklich eine Antwort wollte. „Ich kann mir keinen Grund vorstellen. Hat es wirtschaftliche Gründe, nein, nicht? Lobbyismus? … Aber die Malfoys stehen doch bald vor Gericht, die können es nicht sein."
Hermine legte die Finger an die Lippen und kniff die Augen zusammen. „Du musst größer denken, Harry."
Schon belehrte sie ihn wieder und er fühlte sich nach Hogwarts zurückversetzt. „Größer?"
„Die Neuregelung wird gefasst, um sich Amerika anzunähern", erklärte sie. „Das mag im Artikel nicht so drinstehen, doch das ist der wahre Grund. Durch den Krieg gegen Voldemort und die desaströsen Zustände hat sich das Vereinigte Königreich isoliert, wir haben keine außenpolitischen Verbündeten. Kingsley will nun wieder eine Brücke zu unseren amerikanischen Brüdern und Schwestern schlagen, indem er ihren Lösungsansatz übernimmt."
Es reichte. Er musste sofort ins Bad. Die Stuhlbeine kratzten über den Dielenboden, als er den Stuhl wegschob. Seine Füße waren eingeschlafen und kribbelten, als er die ersten Schritte ging. Er taumelte und das Kribbeln verwandelte sich in einen stechenden Schmerz. Um nicht umzufallen, hielt Harry sich am Küchenschrank wie ein Betrunkener fest.
„Harry ...", flüsterte Hermine. „Du hättest doch etwas sagen können?"
Er lachte abgestumpft. „Glaubst du, ein Buch mit unserer Geschichte würde sich verkaufen?", wechselte er das Thema.
Hermine grinste unschuldig und zuckte mit den Achseln. „Ich denke nicht, dass das jemand lesen wollen würde."
