Diego hatte es sich in der Bibliothek gemütlich gemacht. Leicht lümmelnd hatte er sich den bequemen Sessel herausgesucht, den er bereits vor einigen Wochen aus dem Salon in diesen Raum verfrachtet hatte. Seine beiden Beine ruhten entspannt auf einem Fußschemel, während er in einem dicken Buch las.
Alejandro sah auf den Einband: „Robinson Crusoe". Erstaunlich, dass sich sein Sohn für Abenteuerliteratur interessierte, da er doch sonst ein ruhiges Leben bevorzugte.
„Diego! Liest du schon wieder?!"
„Oh, Vater!" Der junge Mann schaute kurz auf und legte das Buch in seinen Schoß, blieb aber sonst relativ regungslos im Sessel sitzen. „Man sagte mir, dass du ins Pueblo geritten bist. Du bist schon zurück?"
Don Alejandro seufzte vernehmlich. „Ja. Ich muss etwas herausfinden. Erstaunlich, dass du schon aufgestanden bist und nicht wieder den halben Tag verschläfst."
„Ich hatte befürchtet, dass du mich aus dem Bett werfen wirst und bin deshalb schon aufgestanden", gab Diego zu. „Allerdings geht es mir nicht allzu gut und ich fürchte, dass ich mich bald wieder hinlegen muss."*
Sein Vater betrachtete seinen Sohn nachdenklich. Diego wirkte erschöpft und sah auch etwas blass aus, auch wenn er offensichtlich vermied, dass man es gleich bemerkte. Ob er sich etwas eingefangen hatte?
Früher war Diego selten krank und sehr robust gewesen. Leider hatte sich das geändert, seit der junge Mann aus Spanien zurückgekommen war.
Alejandro verzichtete deshalb darauf, Diego weiter mit Vorwürfen zu überschütten, und fuhr deshalb mit milderem Ton fort: „Wie schlecht fühlst du dich?"
„Mach dir keine Sorgen", kam die ausweichende Antwort. „Ich denke, wenn ich mich schone, bin ich bald wieder fit."
Alejandro nickte. Er würde sich ein anderes Mal darüber unterhalten, was er heute herausgefunden hatte. Es war wichtiger, dass der junge Vega bald gesund wurde. Er wirkte doch recht mitgenommen, wenn man ihn genau betrachtete.
„Du solltest dich für ein paar Stunden hinlegen, mein Sohn. Das kann Wunder wirken. Ich wollte mich eigentlich mit dir über etwas unterhalten, doch das kann warten."
„Ja, ein guter Ratschlag", bestätigte der Andere – machte jedoch trotzdem keine Anstalten, sich zu erheben.
„Was ist los, Diego?"
Der junge Mann winkte ab. „Nur ein wenig Kreislaufprobleme, nichts Ernstes. Mach dir keine Sorgen. Ich denke es ist am besten, du schickst Felipe hierher, damit er mir zu Hand gehen kann."
Don Alejandro schüttelte unwillig den Kopf. „Felipe hilft gerade bei den Pferden aus. Hälst du mich so schwach, dass ich dich nicht stützen kann? Du gehörst jetzt erst mal ins Bett."
Resolut trat Alejandro nach vorne und blickte seinem Sohn aufmunternd ins Gesicht. „Na komm schon."
„Aber Vater, Felipe kann…"
„Nein, keine Widerrede. Dein Sohn arbeitet gerne mit den Tieren und du kannst nicht ständig mit ihm zusammenhängen. Die Arbeit mit den anderen Männern tut ihm gut. Oder willst du mich beleidigen, indem du mir nicht zutraust, dir zu helfen?
„Nein, natürlich nicht." Diego zögerte kurz, ehe er sich erhob. Für einen kurzen Moment glaubte Alejandro, dass sich die Gesichtszüge des jungen Mannes verzogen, als hätte er Schmerzen – dies war jedoch so rasch wieder vorüber, dass er sich das wohl eingebildet oder einfach missinterpretiert hatte.
Trotzdem hievte sich Diego so langsam und umständlich aus dem Sessel, dass sich Alejandro nicht mehr sicher war, ob es wirklich ein kluger Ratschlag gewesen war, seinen Sohn dazu zu drängen, aufzustehen.
Andererseits war es keine Dauerlösung, hier in der Bibliothek herumzusitzen. Wer krank war, gehörte nun mal ins Bett.
Seltsam nur, dass sein Sohn die Hilfe Felipes vorzog. Vielleicht wäre es ja klug gewesen, wenn sie beide – also Alejandro und Felipe - Diego gemeinsam geholfen hätten?
Wie dem auch sei. Er war festentschlossen, seinen Sohn zu unterstützen. Eigentlich wollte er den Arm um Diegos Hüfte legen, doch dieser wehrte ab.
„Es geht schon, Vater. Es reicht, wenn du meinen Arm stützt, sollte es mir schwarz vor Augen werden."
Alejandro hatte keine Lust, in dieser Situation zu streiten. Deshalb gab er widerwillig nach und begleitete seinen Sohn in dessen Zimmer.
Und auch wenn dies wirklich nicht weit war, so wurde der alte Mann auf dem Weg dorthin immer nachdenklicher.
Sein Dienst in der Armee hatte ihm manches gelehrt. Unter anderem hatte Alejandro auch gelernt, mit großen und kleinen Wunden umzugehen und sie notdürftig zu verarzten.
Es hatte immer wieder Kameraden gegeben, die nicht zugeben wollten, wenn sie doch schwerer verletzt worden waren oder sich keine Blöße geben wollten. Oft war es auch notwendig gewesen, verletzt noch einige Meilen weiterzuziehen, bis man sich erlauben konnte, eine Pause zu machen oder ein notdürftiges Lager aufzuschlagen.
Diese Erfahrungen erlaubte es ihm auch, zu erkennen, dass Diegos Probleme nicht der Kreislauf war – zumindest nicht alleine.
Denn Alejandro erkannte körperliche Schonhaltung, wenn er sie sah ….
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A/N:
*Erklärung zu Diegos Verhalten:
Seine Verletzung schmerzt, ist aber nicht so ernst, dass er gar nicht aufstehen darf. Natürlich wäre Ausruhen im Bett für die schnelle Erholung besser. Diego möchte verhindern, dass Alejandro seine Verletzung bemerkt und die richtigen Schlüsse zieht. Daher sein Plan, erst aufzustehen und dann nach kurzer Zeit aufgrund seines „Unwohlseins" sein Bett aufzusuchen und sich auskurieren zu können. Er hofft, dass er von Alejandro so mehr in Ruhe gelassen zu werden, als wenn er von Anfang an in seinem Bett liegen bliebt.
