Kapitel 6
Etwas, das vorher nicht da war
Hermione stand vor dem mannshohen Spiegel und beäugte kritisch das blaue Sommerkleid, das sie trug. Es war ärmellos mit hoher Taille und weitem Rock, die beide mit Spitzeneinsätzen geschmückt waren. Als sie sich seitlich drehte, bemerkte sie, dass der tiefe V-Ausschnitt ihr Dekolleté vorzüglich zur Geltung brachte. Sie wirbelte herum, sodass der weite Rock um ihre Waden schwang, und nickte. Es war beinahe perfekt – aber nicht ganz.
Unzufrieden mit dem Blauton nahm Hermione ihren Zauberstab, und mit einem Schwung und einem Schnipsen veränderte sie die Farbe von mittelblau zu blassblau. Ihre Nase zog sich kraus; jetzt sah ihre helle Haut völlig bleich aus. Seufzend schwang sie den Zauberstab wieder ... und wieder. Vielleicht war blau heute nicht ihre Farbe. Als sie einen Moment nachdachte, erinnerte sie sich an eine Bluse, die sie beinahe gekauft hätte, weil die Farbe ihr einfach so gut gestanden hatte. Es war ein heller Grünton gewesen, der sich Lemongras nannte, und obwohl die Bluse ihr nicht gut gepasst hatte, war ihre Farbe perfekt gewesen. Noch ein Schwung mit dem Zauberstab, und das blaue Sommerkleid war jetzt lemongrasgrün.
Zufrieden mit ihrer Zauberkunstarbeit richtete Hermione ihre Aufmerksamkeit auf ihr Haar. Es war ziemlich lang und reichte ihr fast bis zur Taille, und es war völlig unzähmbar. Ihre Vorfahren und deren wuschelhaarige Gene verfluchend begann sie, ihr Haar in den üblichen Pferdeschwanz zurückzufrisieren, dann überlegte sie es sich anders. Stattdessen gestattete sie ihren ungebärdigen Locken, frei ihren Rücken hinunterzufallen, kämmte die Seiten aus dem Gesicht und steckte die Locken mit einigen Klämmerchen fest. Es sah anders aus, aber auf gute Art.
Sie beschloss, dass ein bisschen Make-up hübsch wäre – ein wenig Lidschatten, ein Hauch Mascara, ein wenig Rouge. Als Hermione sorgfältig ihr Lipgloss auftrug, hielt sie plötzlich inne. Weshalb machte sie sich so viele Gedanken um ihre Kleidung, ihr Haar und ihr Make-up? „Es ist ja keine Verabredung oder so etwas", murmelte sie vor sich hin. Der Stich von Enttäuschung, den sie empfand, überraschte sie. Wollte sie, dass dies eine Verabredung war? Ein Date mit Severus? Dies war absurd – oder?
Hermione hörte, wie sich die Eingangstür schloss und wusste, dass er angekommen sein musste. Sie nahm die kleine Handtasche vom Bett und schlüpfte schnell in ihre braunen Lieblings-Ledersandalen. Noch ein Blick in den Spiegel – und ein Selbstvorwurf, dass sie es tat – und sie ging aus dem Zimmer, um unten ihren Freund zu treffen.
Sie war schon halb die Treppen hinunter, als sie aufblickte und ihn sah. Merlin auf dem Mo-ped, dachte sie verwirrt, nicht in der Lage, sich weiterzubewegen.
Auf dem Treppenabsatz stand Severus Snape, ein Mann, den sie die meiste Zeit ihres Lebens gekannt hatte, und dennoch ein Mann, den sie offensichtlich nie zuvor gesehen hatte. Natürlich trug er Muggelkleidung, aber es war nicht nur die Kleidung, die Hermione bemerkte – es war er. Das frische, weiße Leinenhemd saß, als sei es maßgeschneidert – was es wahrscheinlich war –, die Manschetten waren an den Handgelenken mit einem Paar silberner Manschettenknöpfe geschlossen. Sein Hemd steckte in einer dunkelgrauen Hose, die an all den richtigen Stellen perfekt zu sitzen schien. Ihr Blick blieb an der Breite seiner Schultern und seiner Brust hängen, dann bewegte er sich langsam abwärts, nahm seine schmalen Hüften wahr und bewunderte die Länge seiner Beine. Wer hätte geahnt, dass er einen solchen Körper unter diesen voluminösen Roben verbarg?
Am meisten überraschte Hermione jedoch, dass sein Haar aus dem Gesicht gekämmt war und von einer Art Gummi oder Band gehalten wurde. Die Frisur betonte seine habichtsartigen Züge, aber Hermione hatte größeres Interesse an seinen Augen. Oft verbarg er seinen Blick hinter seinem Haarvorhang, jetzt hatte sie jedoch einen ungehinderten Blick auf das, was ganz sicher das Beste in seinem Gesicht war. Seine Augen waren dunkel, fast schwarz mit dicken Wimpern – und in diesem Moment waren sie fest auf sie gerichtet.
Hermione errötete vor Verlegenheit, dass sie dabei ertappt worden war, den armen Mann anzugaffen. Mit flammend roten Wangen sah sie schnell weg, und ihre Zähne nagten an ihrer Unterlippe. „Es tut mir so leid! Ich habe nur – ich habe noch nie – Oh!"
„Ich verstehe", gab Severus zurück, und seine Lippen zuckten, da er darum focht, nicht über ihre Bestürzung zu lachen; höchstwahrscheinlich hatte er sie niemals sprachlos erlebt. „Ich glaube nicht, dass Sie mich schon einmal in Muggelkleidung gesehen haben. Es ist mir bewusst, dass ich etwas anders aussehe." Er ließ ein langes, leidvolles Seufzen hören, streckte die Arme seitlich aus und drehte sich langsam im Kreis. „Dann sehen Sie sich satt."
Statt zu schauen, schloss Hermione jedoch in völlig gedemütigt die Augen. Als sie sie öffnete, hatte er seine Drehung beendet und sah sie an; ein Ausdruck selbstgefälliger Genugtuung lag auf seinem Gesicht. Ihre Augen verengten sich, und sie hob das Kinn. Heute würde er sie nicht überrumpeln. Ihre Lippen verzogen sich zu einem leichten Grinsen, und mit einem kleinen Extraschwung ihrer Hüften setzte sie den Abstieg der Treppen wieder fort.
Severus' Augen weiteten sich bei der Veränderung von Hermiones Haltung, und die verlegene junge Frau wandelte sich zu einer verführerischen Sirene. Während sie die Treppen hinabschritt, nahm er ihre Erscheinung in sich auf. Sie war hübsch, ja, und er war angenehm überrascht, dass sie sich für ihren Ausflug offensichtlich mit besonderer Sorgfalt angekleidet hatte; der Anblick ihrer Beine faszinierte ihn jedoch – liebe Götter, sie trug keine Strümpfe. Sofort überkam ihn das Verlangen, seine Hände über ihre nackten Unterschenkel hinauf zu ihren zweifellos seidigen Schenkeln und dann weiter nach oben zu streichen, um ihren köstlichen Hintern anzufassen. Er schluckte – heftig –, um denr den Impuls niederzukämpfen. Die Tatsache, dass sie ihr Haar offen trug, machte die Dinge nicht im Geringsten besser. Er war daran gewöhnt, es zurückgekämmt zu sehen, aber jetzt war es natürlich und wild, und er wollte seine Hände darin begraben, um …
„Haben Sie sich dann sattgesehen?", fragte sie, und in ihrer Stimme lagen Humor und ein Hauch von Triumph.
Also spielte sie sein Spiel, oder? Touché, meine Liebe. Er trat zu ihr, dann beugte er sich vor und drückte ihr einen Kuss auf die Wange.
„Sie sehen reizend aus, Hermione", murmelte er und ließ in samtweichem Tonfall seine Stimme absichtlich tiefer klingen.
Er trat zurück und nahm mit nicht wenig Genugtung ihre offensichtliche Nervosität wahr. Er begann definitiv, ihr unter die Haut zu gehen.
Severus bot ihr seinen Arm. „Wollen wir los?" Nicktend legte sie ihre Hand auf seinen Arm, und gemeinsam verließen sie den Grimmauld Place Nr. 12.
Mit einem lauten Knall kamen Severus und Hermione am vom Ministerium vorgesehenen Apparationspunkt in der Nähe der Houses of Parliament an, das Geräusch wurde vom Stadtlärm übertönt. Es war ein Stück zu Fuß bis Tate Britain, aber es war ein schöner Tag, und daher gingen sie in Richtung der Galerie los und sprachen unterwegs über Hermiones bevorstehende Prüfungen.
Wie immer kam das Paar leicht ins Gespräch, und es dauerte nicht lage, bis sie ihr Ziel erreicht hatten. Als sie die Stufen zur Eingangshalle hinaufstiegen, informierte Hermione ihn, dass bei der Eröffnung mehrere Architekten das Gebäudes eine künstlerische Enttäuschung genannt hatten, aber Severus fand die korinthischen Säulen und die dramatische Mittelkuppel beeindruckend. Am oberen Ende der Treppen traten sie durch eines der Hauptportale ein.
Sie durchquerten die kleine Eingangshalle und gingen in die Mitte davon, wo Severus den drei Stockwerke hohen, runden Raum mit seinem blassen Mauerwerk und den polierten Steinböden bewunderte. Durch eine Glaskuppel flutete Sonnenschein die Halle, und trotz all des Mauerwerks war dessen Atmosphäre leicht und luftig. Severus sah zu, als Hermione etliche Pfund in die Spendenbox legte; sie bedeutete ihm, ihr zu folgen, und führte ihn in ein Tonnengewölbe, in dessen Zentrum sich ein achteckiger Bereich befand. Gemächlich schlenderten sie über den Steinboden und nahmen schweigend die Atmosphäre in sich auf, dann blieben sie innerhalb des Achtecks stehen.
„Dies ist die Duveen-Galerie", sagte Hermione leise, „aber die meisten Leute nennen sie das Oktagon."
In dem Wissen, dass sein Gesichtsausdruck eventuell etwas offener war, als sie es gewohnt war, drehte Severus sich zu ihr. Er hatte diese spezielle Galerie schon seit einiger Zeit besuchen wollen. Dass er das Erlebnis mit Hermione teilte, ließ ihn sich beinahe so aufgedreht fühlen wie ein Drittklässler bei seinem ersten Besuch im Honigtopf. Beinahe.
„Wo sollen wir anfangen?", fragte Hermione mit offensichtlichem Enthusiasmus in der Stimme, als sie sich in Richtung einer der Galerien wandte.
Severus beobachtete, wie ihr Lächeln verflog und Schmerz ihr Gesicht erfüllte, als ihr Blick sich auf einen Punkt direkt hinter ihm richtete. Besorgt folgte er ihrer Blickrichtung. Verständnis durchflutete ihn, als er die kleine Familie erblickte – ein Mann und eine Frau hielten ein enthusiastisches kleines Mädchen an den Händen –, die das Oktagon gemeinsam betrat.
„Hermione", begann er in dem Wunsch, ihr etwas Trost zu spenden, aber sie schüttelte den Kopf.
„Mir geht es gut. Bitte entschuldigen Sie mich. Wir treffen uns gleich da drüben", sagte sie zittrig und deutete auf einen Bereich am anderen Ende der Halle.
Severus konnte nichts tun außer zuzusehen, wie sie praktisch los- und die Treppen zu den Waschräumen hinunterrannte, zweifellos, um ihre Fassung wiederzuerlangen.
Hermione hatte gewusst, dass Tate Britain zu besuchen, für sie ein emotionales Erlebnis sein würde; das letzte Mal war sie mit ihren Eltern hier gewesen. Sie vermisste sie schrecklich, und manchmal hatte sie Mühe, die Schuldgefühle ihres Todes wegen zu überwinden. Wäre sie nicht als Hexe zur Welt gekommen, wären sie schließlich noch am Leben.
Sie schüttelte das Gefühl ab, ging zu den Waschbecken und drehte den Wasserhahn auf. Nach einigen Spritzern kalten Wassers ins Gesicht und ein paar Minuten, in denen sie ihr Spiegelbild anstarrte, hatte Hermione das Gefühl, ihre Emotionen genügend unter Kontrolle zu haben, um einigermaßen normal zu wirken. Schnell brachte sie ihr Make-up in Ordnung, und mit einem tiefen Atemzug öffnete sie die schwere Tür und ging aus dem Waschraum hinaus.
Hermione war in der Lage gewesen, Severus' wachsende Aufregung zu spüren, und sie fand sie besonders einnehmend. Sie war begierig, ihm die Galerie zu zeigen. Mit ihren Eltern hierher zu kommen, hatte sie als Kind geliebt, und es gab viele Lieblingsstücke, die sie ihm zeigen wollte. Im Bestreben, genau dies zu tun, beschleunigte Hermione ihren Schritt.
Sie hatte Severus in dem Bereich der Galerie zurückgelassen, in dem sich historische britische Kunst befand, daher ging sie am Laden vorbei zu den Treppen in der Nähe des Spezialausstellungsraums. Oben angelangt wandte sie sich um und betrat einen kleinen, schmalen Raum, der mit mittelalterlichen Alabasterschnitzereien gefüllt war. Da sie ihren Begleiter finden wollte, widmete sie den Kunstgegenständen wenig Aufmerksamkeit und wandte sich nach links, schritt durch den massiven, marmorumkleideten Durchgang, und ihre Schuhe mit den weichen Sohlen verursachten wenig Geräusch auf dem Holzboden des Raumes. Hermione war versucht zu bleiben und die Portraits der Tudors und Stuarts zu betrachten, ging aber weiter, als sie Severus in einem der angrenzenden Räume erblickte.
Obwohl er in seiner Muggelkleidung anders aussah, würde sie ihn überall wiedererkennen. Severus stand mit vor sich verschränkten Händen da, ein Knie leicht angewinkelt, während er das Portrait vor sich mit derselbem Maß an Konzentration betrachtete, die sie ihn viele Male seiner Zaubertränkearbeit schenken gesehen hatte. Sein Rücken war ihr zugewandt und gab ihr die Gelegenheit, ihn unbeobachtet zu betrachten. Als gäbe sie sich einem heimlichen Vergnügen hin, schaute Hermione ihn von Kopf bis Fuß genau an, und ihr Blick blieb von alleine an seinem Hintern haften, einem Teil seiner Anatomie, den zu sehen sie vor dem heutigen Tag nie das Vergnügen gehabt hatte. Müßig fragte sie sich, wie es sich anfühlen mochte, mit ihren Händen über das muskulöse Fleisch seines Pos zu streichen.
Sie zuckte zusammen, als sie realisierte, dass sie ihn wieder betrachtete. Von ihrem anscheinend plötzlichen Interesse an ihm in dieser Weise fühlte Hermione sich ein wenig überwältigt und schüttelte den Kopf, um ihre Gedanken zu klären. Resolut ignorierte sie das Pochen, das sie bei dem Gedanken gespürt hatte, ihre Hände über seine Haut gleiten zu lassen.
Severus schien von dem Portrait einer hübschen jungen Frau fasziniert zu sein, deren dickes braunes Haar auf dem Kopf aufgetürmt war. Ihre makellose Haut leuchtete, und auf ihren Wangen schien eine leichte Röte zu liegen. Ihr voller Mund war üppig und rot, die Lippen leicht geöffnet, und das tiefe Dekolleté ihres hauchdünnen, cremefarbenen Kleides stellte eine Menge makellosen Fleisches zur Schau. Hermione schien es, als seien ihre großen, dunklen Augen voll verborgenen Wissens. Lady Hamilton als Circe. Wie passend angesichts der Tatsache, dass Circe für ihr Wissen Kräuter betreffend bekannt war. Glücklicherweise wusste Hermione etwas über das Gemälde oder zumindest über das Model, und in dem Versuch, alle unangemessenen Seiten über ihren Freund und Arbeitgeber beiseite zu schieben, wechselte sie sofort in vollen Doziermodus.
„Hier sind Sie", sagte sie, als sie sich ihm näherte, und krümmte sich innerlich ob ihres übermäßig fröhlichen Tons. Aus dem Augenwinkel bemerkte Hermione, dass er ihr einen Moment lang einen Blick zuwarf, aber sie hielt ihre eigenen Augen fest auf das Portrait fokussiert. Erst als Severus wieder Lady Hamilton als Circe ansah, begann sie zu sprechen. Leider sprudelten Hermiones Worte einen Strom trivialer Information hervor, während sie alles hervorkramte, woran sie sich erinnern konnte betreffend Lady Hamilton, ihr Leben, ihren Ehemann und Lord Nelson, auch wenn sie ein wenig stotterte, nachdem sie den Begriff Ménage à trois geäußert hatte. Sie konnte die Hitze des Errötens auf ihren Wangen spüren, verstummte schnell und biss sich auf die Unterlippe, um ihr geistloses Geschwätz zu unterbinden.
Severus drehte den Kopf, um sie anzusehen – Hermione konnte fühlen, wie sich seine Augen in ihren Kopf bohrten. Aus dem Augenwinkel konnte sie ihn ernsthaft nicken sehen, dann wandte er sich wieder dem Portrait zu, betrachtete es noch ein Weilchen länger und drehte sich dann ganz zu ihr um und murmelte, „Ja, sie ist reizend." Langsam bewegte er sich und schritt hinter ihr in Richtung des nächsten Raumes, und sein warmer, maskuliner Duft umhüllte sie erneut. Sein Körper streifte ihren, dann blieb er stehen und senkte den Kopf, um ihr ins Ohr zu flüstern, „Sie erinnert mich an Sie."
Schockiert hob Hermione schließlich die Augen zu seinen. Darin war Humor zu erkennen, ja, aber auch noch etwas anderes – etwas, das Hermione nie zuvor gesehen hatte. Kein Mann hatte sie jemals so angesehen. Sie ertappte sich dabei, wie sie darum kämpfte, das Atmen nicht zu vergessen, da seine pure Männlichkeit ihre Sinne überwältigte. Abermals röteten sich ihre Wangen, und sie riss ihren Blick von ihm los.
Verwirrt machte sie Anstalten, an ihm vorbei in den nächsten Raum zu gehen. Da sie ihn nun nicht länger ansah, raffte Hermione ihren Mut zusammen und sagte, „Ich hoffe, sie meinen damit nicht ihr Liebesleben, Severus."
Ihre Witzelei wurde mit einem tiefen Lachen belohnt – nie zuvor hatte sie ihn lachen gehört. Der samtige Klang, der sie in Wellen überspülte, ließ sie vor Behagen schaudern. Noch immer leise lachend ergriff Severus sanft ihren Ellenbogen, um sie in den Raum zu geleiten. Das Gefühl seiner Finger auf ihrer Haut sandte ihr erneut ein Prickeln den Rücken hinunter. Lieber Merlin, dachte sie, was geschieht mit mir?
Severus führte Hermione in einen Raum, der mit Bildern britischer Landschaften gefüllt war, und betete, dass sie seinen ziemlich steifen Gang nicht bemerkte. Bei den Göttern, er hätte niemals so dicht bei ihr stehen sollen. Als er ihr ins Ohr geflüstert hatte, war sein größter Wunsch gewesen, seine Nase in ihren wilden, durftenden Locken zu begraben und seinen Mund auf die zarte Haut hinter ihrem Ohr zu drücken.
Er ließ Hermiones Ellenbogen los und erlaubte ihr wieder vorzugehen. Während sie jedes Bild anschaute, betrachtete er sie. Er würde es nie müde werden, sie in der gleichen Weise genau anzuschauen, wie sie gerade die Landschaft vor sich ansah. Sie war ein lebendiges Kunstwerk, und er war hingerissen von der graziösen Art, in der sie sich bewegte, von ihrem feinfühligen Benehmen und von den unterschiedlichen Ausdrücken auf ihrem Gesicht. Hermione Granger war dabei, langsam sein Gemüt zu verzaubern und seine Sinne zu umgarnen. Die Prophezeiung hatte gesagt, er würde ihr Herz hinreißen, aber in diesem Augenblick fragte er sich, ob nicht sie diejenige war, die ihn hinriss. Lieber Merlin, dachte er, was geschieht mit mir?
Hermione und Severus verbrachten den Rest des Nachmittags damit, Tate Britain zu erkunden. Nur gelegentlich begegneten sie anderen Besuchern, da sich die meisten Leute an dem sonnigen Nachmittag draußen aufhielten. Ihnen beiden gefiel der Raum, der Viktorianisches Spektakel genannt wurde, genau wie die Gemälde aus der Romantik. Keinem von beiden sagte die eher moderne Kunst besonders zu, aber beide waren voll und ganz von den prä-raphaelischen Werken fasziniert. Besonders mochte Hermione Millais' Ophelia. Einst hatte ihre Mutter ihr eine interessante Information zu dem Gemälde gegeben, und Hermione beschloss, sie mit Severus zu teilen.
„Wussten Sie", begann sie, „dass das Model für dieses Gemälde mehrere Wochen damit zugebracht hat, in einer Wanne voll Wasser zu liegen, und ziemlich krank wurde?" Er wandte sich zu ihr, um sie anzusehen, und hob in schweigender Frage eine Augenbraue. Hermione nickte ernsthaft. „Es stimmt! Anscheinend erloschen die Lampen, die man unter die Wanne gestellt hatte, um das Wasser warm zu halten, und Millais bemerkte es nicht. Das Model verbrachte einige Zeit im kalten Badewasser – das arme Ding wollte die Pose nicht stören."
Severus brummte als Antwort, dann fragte er, „Dies zeigt doch die Szene aus Hamlet?" Als Hermione zustimmend nickte, hob er die Hand und deutete auf die zahlreichen Blumen. „Schauen Sie auf die Blumen, die Millais für ihre Umgebung ausgewählt hat. Einige davon werden im Schauspiel erwähnt, während andere recht symbolisch sind und zur Szene passen. Sehen Sie hier", sagte er und deutete auf die Blüten, die nahe der jungen Frau schwebten, „sind Gänseblümchen, die für Unschuld stehen und im Stück erwähnt werden. Und sehen Sie die Trauerweide, die sich über ihrem Kopf erstreckt? Sie ist ein Symbol für verlorene Liebe."
Hermione war entzückt – nie zuvor hatte sie der Symbolik von Blumen Aufmerksamkeit geschenkt, aber da sie ihr nun bewusst wurde, begann sie, nach weiteren Beispielen zu suchen. „Oh! Sie haben recht! Und schauen Sie hier, die Butterblumen bedeuten Kindlichkeit … und, oh! Der Mohn – er ist ein Anzeichen für den Tod! Das habe ich bisher nie wahrgenommen."
Die nächsten paar Minuten verbrachten sie damit, Millais' Gebrauch von Symbolen mit Blumen und Blättern bei diesem Werk zu analysieren, dann sah Hermione, dass Severus weiterging, weil das Portrait eines kleinen Kindes seine Aufmerksamkeit erregt hatte.
Als Severus sich dem Gemälde des schlafenden Kindes näherte, las er den Titel Studie eines toten Kindes. Unvermittelt wurde ihm klar, dass das Baby nicht schlief, sondern posthum gemalt worden war.
„Traurig, nicht wahr?", hörte er Hermione hinter sich flüstern. „Er war der Sohn des Künstlers."
Von dem Bild wie gebannt stand Severus da, und ein seltsames Gefühl überkam ihn, als er über die tiefe Trauer nachdachte, in der es gemalt worden sein musste, jeder Pinselstich ein liebevolles Gedenken. Bei allem Kummer, den Severus in seinem Leben erfahren hatte, vermutete er, dass nichts mit dem Verlust eines geliebten Kindes vergleichbar war.
Einen Moment lang erschütterten ihn seine melancholischen Gedanken, dann spürte er, wie Hermione ihre Hand in seine Ellenbogenbeuge legte. Miteinander betrauerten sie schweigend das Kind, dessen Vater es so offensichtlich geliebt hatte.
Nachdem sie eine weitere Stunde lang die gewaltige Kunstsammlung betrachtet hatten, verließen sie die Galerie. Sie schritten die Treppe zum Eingang hinab auf den Gehweg, der die Millbank entlangführte. Es war ein großartiger Spätnachmittag; um diese Jahreszeit war die Themse wunderschön, und mehrere Familien gingen spazieren. Plötzlich hüpfte Hermione vor Entzücken fast in die Luft und erschreckte Severus so sehr, dass er stolperte. Sie ergriff seinen Arm und quietschte nahezu vor Aufregung.
„Oh, Severus, schauen Sie!", rief sie freudestrahlend aus und deutete mit dem Finger in Richtung eines weiß-blauen Lieferwagens mit Bildern und Textaufdruck auf der Seite. Daneben standen mehrere Personen, hauptsächlich Kinder, als warteten sie auf etwas.
„Was ist das?", fragte er zögernd, als sei er nicht sicher, ob er die Antwort wirklich wissen wollte.
„Es ist der Eiswagen! Oh, ich erinnere mich daran, dass meine Eltern mich hierher brachten, und anschließend kauften sie mir ein Eis. Es war immer so wundervoll", erklärte sie, und ihre Stimme wurde zu einem Flüstern, während ihre Augen sich bei der Erinnerung verschleierten.
„Dann ist es eine Tradition?", fragte Severus und verdrehte die Augen, als sie mit beiden Händen an seinem Arm hing, die braunen Augen voll hoffnungsfreudiger Erwartung. Er bewegte sich auf den Lieferwagen zu. „In Ordnung, fein", fügte er sich und schüttelte den Kopf, als sie ihn sofort in Richtung der Schlange zog.
Während sie warteten, um Hermiones Eis zu kaufen, schwirrte ihr der Kopf vor Fragen. Sie hatte ihren Tag mit Severus gründlich genossen und musste zugeben, dass sie dies sehr gerne irgendwann in naher Zukunft wiederholen würde. Die neu entdeckte Anziehungskraft bereitete ihr ein wenig Sorge, obgleich ihre verräterischen Gedanken sie daran erinnerten, dass sie sich schon seit einer ganzen Weile zu ihm hingezogen fühlte – sie war einfach nicht in der Position gewesen, irgendetwas dafür zu tun ehe …
Inzwischen wünschte sich Severus, dass der Tag niemals enden möge. Zuvor war er bei Gringotts gewesen, um einige Galleonen in Muggelwährung zu wechseln in der Absicht, sie zum Abendessen einzuladen. Jetzt fragte er sich, ob dies zu bald sein mochte – schließlich hatten sie den ganzen Nachmittag miteinander verbracht –, oder ob Hermione lieber nach Hause wollte. Er rang noch immer mit sich selbst, als sie in der Reihe vorn ankamen. Hermione bestellte sich ihre Leckerei, und Severus beeilte sich, den Jungen Mann zu bezahlen, ehe sie ihre Handtasche öffnen konnte, und zog wahllos einen Geldschein aus der Tasche.
Offensichtlich war dies ein Fehler. Der Mann im Lieferwagen sah ihn neugierig an, und Severus schaute auf die Banknote. Fünfzig Pfund? Dämliche Kobolde! Der Mann drinnen insistierte, dass er kein Wechselgeld für solch einen großen Betrag habe. In einem schnellen Entschluss schaute Severus auf die Warteschlange hinter sich und sagte, „Behalten Sie es. Es sollte reichen, um für den Rest der Kinder, die anstehen, zu bezahlen, oder?" Der Mann bejahte dies, und Severus nickte und führte Hermione vom Lieferwagen weg. Er sah den amüsierten Blick, den Hermione ihm zuwarf, und mit einem leicht spöttischen Lächeln informierte er sie, „Das war nur, um das ununterbrochene Gequake all dieser Kinder zu stoppen."
Sie schien davon nicht überzeugt zu sein.
Seite an Seite gingen sie weiter in Richtung des Apparationpunkts in der Nähe der Houses of Parliament. Hermione schleckte ihr Eis und dachte dabei über ihre Gefühle für Severus nach. Wollte sie gerne eine Beziehung mit ihm eingehen? Was, wenn dies ihre Freundschaft ruinierte? War es das Risiko wert? Ihr schnell schmelzendes Eis tropfte auf ihre Hand, und ohne nachzudenken leckte sie es ab, völlig in Gedanken versunken.
Severus stöhnte beinahe laut auf, als er einen verstohlenen Blick auf Hermione warf, nur um zu sehen, wie ihre kleine rosa Zunge zwischen ihren rosenfarbenen Lippen erschien, um einen Tropfen der schmelzenden Süßigkeit von ihrem Handrücken abzulecken. Gute Götter, sie würde ihn noch ins Grab bringen.
„War dies ein Date, Severus?", fragte Hermione plötzlich zu ihrer beider Überraschung. Einen Moment lang sah er sie an, aber ihre Augen blieben unerschütterlich auf das Eis gerichtet, das sie in der Hand hielt. Er hatte keine Ahnung, was er ihr antworten sollte. Was wollte sie hören?
„Wenn Sie möchten", antwortete er schließlich und weigerte sich, in ihre Richtung zu schauen.
Hermione war still, während sie weitergingen. Plötzlich fühlte er, wie ihre schmale Hand in seine glitt, und sie sagte, „Ich glaube ja – ich meine, ich möchte es."
Da sah er sie tatsächlich an; ein kleines Lächeln bog ihre Lippen, während sie ihre Eiscreme weiteraß. Severus' Blick fiel auf ihre ineinandergelegten Hände. Er verflocht ihre Finger und drückte sie leicht. „Genau wie ich."
Hand in Hand schritten sie in einvernehmlichem Schweigen an der Themse entlang, während Hermione weiter an ihrem Eis leckte, und sie genossen es einfach, beieinander zu sein.
