Letzte Stunden
Der letzte Tag im Kapitol ist für mich ein Höhenflug. Natürlich bin ich noch immer ein wenig frustriert, im Training nicht die höchste Bewertung erhalten zu haben, doch ich bin gleichzeitig stolz auf mein Interview. Stolz, die Fassung gewahrt zu haben – sowohl gegenüber Cassia mit ihrer elf, Saylor mit seinem starken Versuch, die Sponsoren für sich zu gewinnen, als auch gegenüber ganz Panem, als das Kapitol den Film vom Tod meiner Mutter zeigte. Ich weiß, dass ich alles gegeben habe. Als nächstes kommt nur noch die Arena und dann kann ich nach Hause gehen. In Ruhe.
Doch so gut ich mich auch fühle, um mich herum hat das Strahlen des Kapitols ein wenig abgenommen. Die Spiele wirken nun weniger wie mein Weg in eine Zukunft ohne Schatten darüber, sondern eher wie die Notwendigkeit, mich zu beweisen. Nach Mirabella Brunels Tod in den 50. Hungerspielen erfuhr Distrikt 5 etwas wie ein allgemeines Aufbrausen. Dass eine Schwangere in der Arena getötet wurde, empörte die Menschen. Und am meisten empörte es meine Großeltern. Als sich der Aufruhr im Distrikt legte, behielten May und Edison Brunel ihre harten Gefühle bei und gaben sie an mich weiter. Da war keine Wut, nein, es war Skepsis, allgemeines Misstrauen gegenüber dem Kapitol. Was konnten das für Menschen sein, die hinter einem solch schrecklichen Mord standen? Doch als meine Fähigkeiten mit den Jahren wuchsen und ich mit Hilfe meiner Großeltern die Alys Brunel schuf, die die Hungerspiele gewinnen kann, schwand all dieses Misstrauen. Ich konzentrierte mich auf mich selbst. Als ich vergangene Woche das Kapitol betrat ließ ich mich sogar von dessen Schönheit einlullen, obwohl ich wusste, was mir bevorstand.
Nun ist all das verschwunden. Die schönen Zimmer wirken kahler, die Dekoration weniger filigran, die Kleidung der Menschen hier weniger bunt. Denn nun habe ich die Grausamkeiten, derer meine Großeltern sich so sicher waren, am eigenen Leib erfahren. Habe mich wirklich als das Unterhaltungsinstrument gesehen, zu dem das Kapitol die Tribute macht.
„Du bist eine Botschaft. Nichts als eine Botschaft!", hallen die Worte meiner Großmutter in meinem Kopf wider. Jetzt verstehe ich sie wirklich.
Und die Realisierung erfüllt mich mit mehr Selbstbewusstsein und Wille, die Spiele zu schlagen, als all mein Training der vergangenen Jahre es getan hat.
Ich erzähle Porter und Spudnell nichts von meinen Gedanken. Seit ich Spud angeherrscht habe, dass er sich nicht nur um mich kümmern soll, ist er tatsächlich mit Tic beschäftigt. Wie ehrlich, das kann ich nicht beurteilen. Vermutlich hofft er eher, dass ich ihn durch geheuchelten Aufwand in einem besseren Licht sehe. Dennoch ist das letzte, was ich will, kurz vor Beginn der Hungerspiele Kritik am System äußern und damit meine Beziehung zu den beiden Mentoren vollständig zerstören. Momentan steht einfach fest, dass sie mich genauso wenig mögen wie ich sie, wir einander jedoch tolerieren. Einander brauchen.
Was ihnen jedoch auffällt, ist dass ich durch meinen Siegesdurst beflügelt noch besser gelaunt durch die Gänge schlendere als in den vorherigen Tagen. Als ich gerade in Gedanken meine Siegesrede schreibe, nimmt Porter mich beiseite.
„He – was?", entfährt es mir überrascht.
„Leg diese Einstellung ab."
Ich sehe sie stirnrunzelnd an. Sie spiegelt meine Überraschung jedoch überhaupt nicht wider, viel eher wirkt sie wutentbrannt – diese gefährliche Art von Wut, die nur im Inneren brennt. Ich weiche nicht zurück, sondern lehne mich ihr entgegen, als sie näherkommt. Porter verzieht keine Miene, als sie spricht.
„Ich habe dir jetzt lang genug dabei zugesehen, wie du durch das Kapitol stolzierst. Aber bis zu den Spielen bleiben dir jetzt nur noch", sie sieht auf die Uhr, „zwei Stunden. Du solltest den Ernst der Lage langsam begreifen."
„Ich habe ihn begriffen!", sage ich mit fester Stimme.
„Du bist zu überheblich!", zischt Porter.
„Spud sagt, mit der Masche fahre ich bisher ganz gut", erwidere ich kühl und verschränke die Arme vor der Brust.
Porter zieht die Augenbrauen hoch. „Vielleicht in den Augen der Sponsoren. Aber auf mich wirkt es, als wäre dir dein Gehabe bereits zu Kopf gestiegen. Und wenn ich eines weiß, dann dass dir das in der Arena genauso leicht das Genick brechen kann wie eine Schwangerschaft!"
Mit diesen Worten wollte sie mich treffen und ich reagiere genau so, wie sie es erwartet hat. Ich stampfe mit dem Fuß auf und hebe drohend den Finger in ihre Richtung. „Wag es nicht –"
„Was? Dich wütend zu machen?" Porter macht einen steifen Schritt rückwärts, doch es sieht nicht nach einem Rückzug aus. Eher verspottet sie damit meinen laschen Angriff. „Die anderen Tribute werden es ebenfalls tun. Wenn du dich von Gefühlen leiten lässt, leidet deine Aufmerksamkeit. Du wirst sterben, Alys."
„Ich werde gewinnen!", widerspreche ich, lasse jedoch die Hand sinken. „Gewinnen, hörst du?"
„Möglich. Aber dafür musst du aufhören, dich aufzuführen, als wärst du etwas Besseres als die anderen Tribute. Das bist du nicht. Du bist lediglich am erprobtesten, was dein Auftreten angeht. Kämpferisch hast du noch nichts bewiesen!"
„Ich habe trainiert."
„Ja. Und du bist gut. Tic hat mir vom Training erzählt" Für einen Moment zögert sie, dann verengen sich ihre Augen wieder und ihre Stimme wird noch eindringlicher: „Aber unter den anderen gibt es ebenfalls Killer. Du hast in der Arena dreiundzwanzig Gegner – ja, dreiundzwanzig, auch Tic ist dein Gegner, auch wenn du gerne verdrängst, dass er dir zwangsläufig im Weg steht! – und keiner dieser dreiundzwanzig Gegner wird sich von ein paar flotten Sprüchen gegenüber Caesar Flickerman aufhalten lassen! Die wollen dich umbringen, vor allem die aus den Karrieredistrikten. Diese Cassia hat eine elf, Saylor haben die Spielmacher mit einer zehn bewertet. Beide werden ihnen Kampftechniken gezeigt haben, also kann man sie mit deinem Einzeltraining eigentlich überhaupt nicht vergleichen. Soweit ich weiß, haben die hohe Zahlen und du wurdest im Kämpfen gar nicht bewertet. Unterschätze sie ja nicht!"
„Tu ich nicht!", sage ich bockig. „Sie sind so viele, da –"
„Falsch!", ruft Porter. „Ja, sie sind viele, aber sie sind auch einzeln gefährlich! Versteh das endlich!"
„Du bist wie Spud gegenüber Tic!", fahre ich sie an, auch wenn mich ihre Worte verletzen – gerade, weil mich ihre Worte verletzen. „Du glaubst nicht an mich. Du glaubst nicht, dass ich in ein paar Wochen noch am Leben sein werde."
„Ich weiß, dass du in ein paar Wochen nicht mehr am Leben sein wirst, wenn du siegessicher und unaufmerksam Tributen wie diesem Saylor oder dieser Cassia begegnest!" Inzwischen schreit Porter und in ihrer sonst immer so nüchternen Stimme lodert der Zorn. „Es geht um Leben und Tod, und zwar dein Leben und deinen Tod! Hier geht es nicht um deine Mutter, hier geht es auch nicht um das, was deine Familie dir indoktriniert hat!" Für einen Moment sieht sie aus, als wolle sie mich schlagen, doch dann fährt sie sich mit der Hand lediglich an ihre Stütze am Hals. „In der Arena geht es um dich. Du magst es als Spiel sehen, aber du hast da drin nur einen einzigen Versuch. Ein Fehltritt und du bist erledigt. Du musst aufpassen, Alys, verstehst du mich? Du hast die ganze Woche alle Coachings mit mir übersprungen, aber hör wenigstens dieses eine Mal auf mich!"
Als ihr die Stimme versagt, erkenne ich, dass sie mit ihrer Wut nur Angst zu verschleiern versucht. Angst um mich? Oder teilt sie doch eher Spuds Interesse?
„Du kannst mich mal", sage ich leise. Ich würde ihr schon zeigen, was ich kann. Sie mag Recht haben, dass ich die Karrieretribute nicht unterschätzen soll, aber meine Siegesgewissheit werde ich nicht ablegen. Nicht jetzt. Nicht so kurz vor der Arena.
Und trotzdem spreche ich kein Wort mehr, nachdem ich mich von ihr losgerissen habe. Ich verbringe mein Frühstück in der Runde meines Teams still. Ich lasse mich still vom Vorbereitungsteam waschen und mir die Haare kämmen. Ich lasse still zu, dass Obethia überwacht, wie ich in einen hellbraunen Overall gezwängt werde. Und ebenso still stelle ich mich auf die Plattform in den Katakomben unter der Arena und warte, bis sich die Glasröhre um mich schließt.
