VII. Einzeltatnachweis

Menschenfressermenschen können auch Tennis spielen und reiten
Menschenfressermenschen gibt's auf allen Seiten
Menschenfressermenschen kriegen Menschenfresserrenten
Menschenfressermenschen bringen's bis zum Präsidenten

London, der 21.10.1999

Der Tagesprophet

Freispruch für Greifer

Das Urteil des Zaubergamots in der Strafsache Scabior lautet auf Freispruch. Die Voraussetzungen für eine Beihilfe wurden als nicht gegeben angesehen, insbesondere sah das Gericht es nicht als erwiesen an, dass Scabiors Tätigkeit als Wachmann einen konkreten Tatbeitrag zu einer konkreten Tötungsaktion geleistet hat.

Zu einer konkreten Tötungsaktion …

nicht als erwiesen …

Konkrete Tötungsaktion …

Harry schnaufte verärgert beim Gedanken an das unbefriedigende Urteil. Man hatte Seth Scabior tatsächlich freigesprochen! Das Gericht hatte schlussendlich in einer Abstimmung von 29 zu 21 es als nicht erwiesen angesehen, dass Scabiors Dienst … – äh … ja … – was hatte das Gericht eigentlich sehen wollen?

Er war sich da nicht so sicher. Dabei hatte er den Artikel aufmerksam gelesen und auch das Urteil überflogen. Gleich, wie oft er es wiederholte, er wurde nicht schlau daraus. Wollte er es nicht verstehen? Manchmal zweifelte er an seinem eigenen Verstand.

Diesmal war Hermine auch keine Hilfe gewesen, weil sie es selbst nicht richtig einordnen konnte. Mit ihrem Hochleistungsgehirn hatte sie wahrscheinlich mehr begriffen als er, doch sie weigerte sich seitdem mit Harry darüber zu sprechen. Immer, wenn er das Thema auf den Tisch brachte, hatte sie noch etwas Dringendes woanders zu erledigen. Selten sah man, wie Hermine resignierte, doch Harry glaubte, einen solchen Moment nun erlebt zu haben. Sie nahm sich mindestens eine Auszeit.

Daher hatten sie sich an diesem Tag zu einem Essen bei den Weasleys eingeladen. Ron würde dort sein – und so auch Gawain Weasley.

Warum – und warum ausgerechnet nun – der Großonkel entschieden hatte, dem Fuchsbau einen Besuch abzustatten, wusste Harry nicht. Er vermutete, dass Molly ihm hartnäckig eine Einladung nach der anderen geschickt hatte, sodass er nicht mehr ‚Nein' sagen konnte. Vielleicht hatte sie zwischen den Zeilen fallen gelassen, dass Harry Potter auch anwesend sein würde – denn: wer konnte ihm schon widerstehen? Vielleicht hatte Gawain Weasley auch einfach gemerkt, dass er auf seine alten Tage ein Familienmensch geworden war.

Molly stand am Herd und kochte ein Festessen. „Herein, herein, wenn's kein Schneider ist!", rief sie zur Begrüßung.

Sie verdrehten in einen unbeobachteten Moment die Augen, aber traten über die Schwelle. Mit einer Umarmung begrüßten sie Mutter Weasley und schlichen sich dann ins Wohnzimmer, um nach anderen Gästen Ausschau zu halten.

„Ja, ja, geht mal gucken", rief Molly ihnen hinterher. „Ron und Gawain müssten dort sein. Sie lernen Skat, Hermine, am besten erklärst du ihnen noch einmal die Regeln. Ich denke, Ron hat beim letzten Mal nicht alles verstanden, aber war zu fein, es zuzugeben."

„Ach, wirklich?", lachte Hermine. Das war nichts sonderlich Neues.

„Außer man muss sich wirklich ein Kleidungsstück ausziehen, wenn man eine Runde verloren hat?" Molly schnitt eine dümmliche Grimasse.

„Ach herrje ..." Hermine beeilte sich, ins Wohnzimmer zu kommen, in der Hoffnung, weder ihren Freund noch den Herrn Staatsanwalt in Unterwäsche anzutreffen.

„Da hat Ron aber einiges durcheinandergeworfen", murmelte Harry und folgte ihr.

Als sie eintraten, hatten Ron und der Staatsanwalt ihre Schuhe ausgezogen und neben die Couch gestellt. Rons marineblaue Uhr, die er zu seinem siebzehnten Geburtstag bekommen hatte, lag auf dem Tisch. Die dritte Person von der Partie war Fleur. Sie trug Schuhe, aber ihre Strickjacke hing über den Stuhl. Bei einer solchen Aufstellung war es schwer zu sagen, ob sie nun eine Variante a la Strip-Skat spielten oder nicht. Mit einem kurzen Blick entschieden Harry und Hermine, dass sie nichts dergleichen fragen oder aussagen würden. Solange sie nicht wussten, wie viel Humor der Staatsanwalt hatte, wollten sie nichts riskieren, auch wenn alles darauf hindeutete, dass Gawain Weasley ein lustiger Mann war.

Es war eine peinlich berührte Stille entstanden. „Äh … - Hermine Granger", durchbrach sie sie als erster.

„Harry Potter", hing er dran, auch wenn es unnötig war. Gar nichts zu sagen, war unfreundlicher. „Sehr erfreut."

Ihr Gegenüber nickte. „Gawain Weasley, aber Sie können mich gern Gawain nennen. Das hatten wir auch so auf der Hochzeit besprochen, aber ich verzeihe Ihnen, wenn Sie sich daran nicht erinnern."

Sie fielen beide in ein blasiertes Lachen. Ron grinste ein wenig schelmisch, während Fleur ihre Karten begutachtete, als müsste sie eine Bombe entschärfen. „Dann sind wir für Sie – dich Harry und Hermine", sagte Hermine schließlich.

Er ließ sich auf das Sofa fallen, während Hermine den Klavierhocker wählte und zunächst dreimal um die eigene Achse rotierte, um die richtige Höhe einzustellen.

„Nun, habt ihr Fragen zum Verfahren?", leitete Gawain selbstständig das Thema ein, dass Harry am meisten interessierte. Leidenschaftlich nickte er und aus den Augenwinkeln sah er, dass alle dasselbe taten. Gawain lächelte großväterlich, dann seufzte er. „Ihr sitzt da wie Bluthunde, ihr habt doch Fragen auf der Zunge, nicht?"

Erstaunt nickte Harry. Er hatte nicht erwartet, dass er so leicht zu lesen war. „Äh … – eigentlich nur eine: Wieso hat das Ministerium Scabior freigesprochen? Es wurde doch nachgewiesen, dass er den Greifern angehört hatte."

Gawains Mundwinkel zuckten. „Das ist zwar eine Frage, aber die hat es in sich."

„Es tut mir leid", murmelte Harry.

„Muss es nicht, Junge."

„Dann habe ich noch eine", fügte er an. „Wie kannst du so gut damit umgehen? Wo kommt deine gute Laune her?"

Gawain zuckte mit den Achseln. „Man darf es nicht an sich herankommen lassen. Es ärgert mich, auf jeden Fall, doch ich will mir davon nicht meine Tage versäuern lassen." Er griff nach einer Flasche Feuerwhiskey und füllte sich die braune Flüssigkeit in ein Glas. „Wollt ihr auch?"

Ein Blick auf die Uhr ließen Harry den Kopf schütteln. Es war gerade mal drei Uhr nachmittags. Die anderen taten es ihm gleich.

„Dann nicht. Cheers!"

Der Mann war Alkoholiker. Deswegen war er so fröhlich. Wahrscheinlich hatte er bereits etwas intus und war angetrunken.

„Wie kam nun die Entscheidung des Gamots zustande?", hakte Hermine nach.

Gawain setzte das Glas ab. „Sie haben versucht, die Auswirkungen einer solchen Entscheidung abzustecken. Wäre Scabior aufgrund seiner Zugehörigkeit zu den Greifern wegen Beihilfe zum Mord verurteilt worden, obwohl er niemanden eigenhändig umgebracht hätte, hätten sie noch sehr viel mehr Leute verurteilen müssen."

„Aber …", protestierte Harry, „das ist doch der Sinn."

„Es würde zu einer Überlastung führen", hielt Gawain dagegen. „Einen Moment, warte, ich habe geahnt, dass es heute zu diesem Thema kommt und daher habe ich etwas mitgebracht." Er stand auf und ging zu seiner Tasche, die er in den Flur abgestellt hatte. Als er zurückkam, hielt er eine Pergamentrolle in den Händen. „Eine Abschrift des Urteils. Hört mal: ‚Dies würde dazu führen, dass jeder, der in das Programm eingegliedert war und dort irgendwie anlässlich dieses Programms tätig wurde, sich objektiv an den Morden beteiligt hat und für alles Geschehene verantwortlich ist'." Er übersprang ein paar Zeilen. „ ‚Würde bedeuten, dass auch ein Handeln, dass' – oh, ein Rechtschreibfehler – ‚die Haupttat in keiner Weise konkret fördert, bestraft werden müsste. Folgerichtig wäre auch der Arzt, der zur Betreuung der Wachmannschaft bestellt war und sich streng auf diese Aufgabe beschränkt hat, der Beihilfe zum Mord schuldig. Dasselbe gälte sogar für einen Arzt, der im Lager Häftlingskranke behandelt und sie gerettet hat. Nicht einmal wer an seiner Stelle dem Mordprogramm kleine Hindernisse, wenn auch in untergeordneter Weise und ohne Erfolg, bereitet hätte, wäre straffrei.' "

Harry kratzte sich am Kopf. Das klang natürlich nach einem guten Argument, er wollte nicht, dass solche Menschen bestraft werden, doch irgendwie fühlte es sich trotzdem nicht richtig an. „Aber deswegen kann man doch Scabior nicht freisprechen ..." Es war ein schwacher Widerspruch. „Er hat das ja nicht getan, er war kein Arzt, sondern Wachmann und Hindernisse hat er auch nicht gestellt."

„Das stimmt, aber darauf kommt es dem Gamot nicht an", stellte Gawain klar.

„Es geht um das Prinzip", warf Hermine ein. „Wenn sie Scabior nur aufgrund seiner Zugehörigkeit verurteilen müssten, dann müssten sie es mit Menschen, die dazugehören, sich aber innerlich quergestellt haben, auch. Daher wollen sie dann mehr Nachweis haben als die bloße Angehörigkeit."

Gawain nickte. „So ist es."

„Kann man da nicht eine Ausnahme einbauen?", fragte Harry. „Also sagen, grundsätzlich sind alle zu verurteilen, außer sie haben sich auf ihre nicht tödliche Aufgabe beschränkt oder kleine Hindernisse gestellt?"

„Wie soll das gehen?", fragte Gawain zurück. „Man kann nicht in die Köpfe schauen und dann ist die Frage, wo man die Grenze zieht. Soll man die Wachmannschaften wegen ihrer bloßen Tätigkeit, dem Überwachen, verurteilen, die Ärzte aber freisprechen, obwohl sich alle gleichermaßen ausschließlich in den Grenzen ihrer Tätigkeit bewegt haben?"

„Wenn die Wachleute also nur bewacht haben, sollten sie auch nicht verurteilt werden?" Harry verschränkte die Arme. „Aber ihr Bewachen hat doch schließlich zum Tode der Opfer geführt. Hätte sie sie nicht bewacht, hätte man sie nicht ermorden können. Das ist etwas anderes, als das, was die Ärzte gemacht haben, die nur zur Behandlung der Wachen und Gefangenen da waren."

Gawain schenkte sich nochmal ein. „Auch du siehst nicht das Offensichtliche, Harry."

„Was?" Er blickte zu Hermine und auch sie sah verwirrt aus. Ihre Augenbrauen waren so dicht zusammengezogen, dass sie zu einer wurden. Auf ihrer Stirn gruben sich tiefe Furchen ihren Weg. Doch ihr Gegenüber sah sie nur abwartend an. „Gawain!"

„Nun, gut", sagte er schließlich. „Habt ihr euch schon einmal gefragt, ob es diese Ärzte, von denen der Gamot sprach, überhaupt wirklich gab?"

„Hä?", machte Harry ungeniert. „Die haben die Ärzte einfach erfunden?"

„Nein, das natürlich nicht. In den Lagern gab es Ärzte, aber keiner von diesen war nur mit der Behandlung der Greifer betraut. Jeder, der sich dort aufhielt, musste auch die Eingesperrten bewachen und die Überstellung an das Ministerium unterstützen. Sie haben sich alle mitschuldig gemacht. Wenn ein Häftling gestorben ist, war es ihre Aufgabe, Totenscheine auszustellen und verharmlosende Todesursachen anzugeben."

„Und gab es Ärzte oder andere Personen, die solche kleinen Hindernisse gestellt haben?", fragte Hermine.

Gawain zuckte hilflos mit den Schultern. „Gegenfrage: Ändert das etwas daran, dass ihre Dienstausübung dazu beigetragen hat, das Gefangenenlagersystem am Laufen zu halten?"

Sie überlegte, doch sagte dann unbeirrt: „Nein."

Harry strich sich über das Kinn: „Ist das denn nicht Rechtsbeugung, was der Gamot getan hat?"

„Das ist doch auch ein Straftatbestand", fügte Hermine an. „§ 339 MStGB! – … Ich habe da heute beim Frühstück drüber nachgedacht ..."

Ron, der mit Fleur ein wenig abseits saß und Mau Mau spielte, murmelte in seinen Drei-Tage-Bart: „Natürlich hast du das …"

„Das ist es nicht. Die Normen im StGB sind nun einmal auf den Einzeltäter ausgelegt und sobald es zu einer Tatbegehung mit zwei oder mehr Personen kommt, ist die Formulierung des Gesetzes nicht mehr so klar. Dann haben wir bei Scabior und den Gefangenenlagern noch das Problem, dass hier nicht zwei, drei oder zehn Personen zusammenwirken, sondern um die hundert. Um das zu schaffen, haben sie ihre Aufgabenbereiche klar voneinander abgetrennt und sich arbeitsteilig organisiert. Daher konnten sie ja so vielen Menschen erst Unrecht tun. Dieser übergeordnete Zusammenhang wird im Urteil des Gamots nicht ausreichend Rechnung getragen. Lieber versteifen sie sich auf das kleinste Detail und wollen einen Nachweis für den konkreten Tötungsbeitrag."

„Aber das ist doch gerade das Charakteristische an dem Lager!", warf Hermine ein.

„Schon, aber für sich genommen mag das Argument des Gamots Sinn machen. Dass die Richter die systematische Konsistenz gegenüber materiellen Gerechtigkeitserwägungen den Vorzug geben, ist schwerlich Rechtsbeugung. Abgesehen davon, dass die Rechtsprechung bei Rechtsbeugung eine lächerlich hohe Hürde für den Nachweis des Vorsatzes stellt."

Harry horchte auf. „Also haben die Richter nichts zu fürchten?" Sofort sprangen seine Gedanken zu der einzigen Gerichtsprozess des Voldemortsregimes, die er selbst mitbekommen hatte. Getarnt durch Vielsafttrank hatten sie sich in die Verhandlung geschlichen, um den Medaillon-Horkrux von Umbridge zu stehlen. Die giftige, pinke Hexe hatte damals den Vorsitz gehabt. „Umbridge wird davonkommen?"

„Wir sind noch in der Vorbereitung. Ich hoffe, dass wir eine Verurteilung erreichen können, aber sie wird natürlich alles tun, um das zu verhindern."

„Wahrscheinlich wird sie behaupten, dass sie einfach die Gesetze angewandt hat", sagte Hermine finster.

Gawain seufzte. „Nach jetzigen Ermittlungsstand können wir ihr auch nichts anderes nachweisen. Es gab die Gesetze, die ihr erlaubt haben, Muggelstämmige zu verdammen und sie hat es nach Maßgabe der Gesetze getan."

Hermine biss sich auf die Lippen. „Das muss man doch etwas gegen tun können! Wenn sie schon Scabior nicht nach Askaban schicken, dann doch wenigstens Umbridge."

Sie überlegten, doch sie kamen zu keiner Lösung. Den ganzen Nachmittag spielten sie Rommé. Die Stimmung war trotz allem ausgelassen, denn die angetrunkene Fröhlichkeit Gawains war ansteckend. Vielleicht lag es auch daran, dass sie alle ein paar Stunden später ebenfalls zum Glas griffen. Sie lachten und Ron gewann die allermeisten Runden. Harry selbst hatte meist nicht so gute Karten und er grübelte, ob sein Freund nicht irgendwie betrug. Er fand nichts, doch jedes Mal, wenn Harry zu Hermine schaute, sah er, wie es hinter ihrer Stirn brodelte.


- aus dem Urteil im Frankfurter Auschwitzprozess, BGH, Urt. v. 20.02.1969 – 2 StR 280/67 = Justiz und NS-Verbrechen, Nr. 595 b, Bd. XXI, 838 (882, Hervorhebungen im Original).

Links:

Brüning, ZJS 2018, 640: /dat/artikel/2018_6_

Burghardt, ZIS 1/2019, 21: /dat/artikel/2019_1_

Persönlich finde ich den Aufsatz von Burghardt vom Sprachlichen her leichter zu lesen.