Coming Out

Teil 5 - Fremd im eigenen Haus

Unsicherheit.

Es fing schon an dunkel zu werden als ich vor unserem Haus stand.

Der Nachmittag mit Jenny war verflogen wie nichts und die Freude und Erleichterung, die den ersten Part ausmachten, wich letztendlich erneuter Aufregung. Küssen, lachen und rumalbern verwandelten sich in reden und mutmaßen und letztendlich in stilles beieinander sein und Musik hören. Unsere Musik. Es würde schon alles gut gehen. Es war doch bisher alles gut gegangen.

Unser kleines, unbesonderes, in nicht dem schönsten Viertel von Köln stehendes Haus mit der schon langsam gräulich aussehenden Fassade kam mir fremd vor als ich so davor stand. Etwas ganz Entferntes. Ich bildete mir ein, ich könnte einen Schritt darauf hinzu machen und der Weg dahin würde sich mysteriöserweise trotzdem nicht verkürzen. Fremd und distanziert, so kam ich mir öfters vor in diesem Haus und das war wohl was dieser Weg vor mir mir nun verbildlichen wollte.

Ich liebte meine Familie unendlich und genauso liebten sie mich. Das war so und so würde es auch immer sein. Und trotzdem fühlte ich mich isoliert und entfremdet. Aber ich war es ja auch selber schuld. Wer war es denn, die immer alles für sich behielt? Die Angst hatte Dinge von sich preis zu geben in Furcht was die anderen damit machen würden? Das war doch ich. Und da war es doch kein Wunder, wenn es sich manchmal anfühlte, als würde man nur nebeneinander her leben. Und dass die Beziehung, die man zu seiner Familie hatte, auf einmal sehr oberflächlich schien.

Über mein Verhalten nachdenkend, fand ich es in dem Moment schon fast ein Wunder, dass sie wussten, dass ich herausgefunden hatte wie gerne ich singe. Aber das kam auch wiederum nur durch STAG. Gäbe es STAG und das Plappermaul Hotte nicht, dann hätte ich ihnen vielleicht auch davon nicht erzählt. Warum auch? War doch eh nur peinlich, nicht? Nein, war es eben nicht. Singen war ein Teil von mir, ein viel größerer, als ich vorher gedacht hatte, und so war nun auch Jenny ein Teil von mir. Ein Teil von dem sie keine Ahnung hatten und von dem ich keine Ahnung hatte wie sie darauf reagieren würden. Aber das würde sich nun ändern.

Ich holte noch einmal tief Luft und tat dann den ersten Schritt auf unser kleines, unbesonderes Haus, in nicht dem schönsten Viertel von Köln zu und wundersamerweise verlängerte sich der Weg nicht, sondern er verkürzte sich. Schon bald stand ich an der Tür, nachdem ich die paar Treppenstufen vor ihr langsam hochgegangen war, und drehte den Schlüssel im Schloss um.

Als ich die Tür aufstieß hörte ich den Sound von E-Gitarren von oben durch das Haus dringen. „Uh-huh, uh-huh, life's like this," ertönte Avril Lavigne's Stimme und ich wusste, dass, jep, meine Schwester definitiv Zuhause war und sie hörte ihr altes, wohl erstes selbstgekauftes Album, was mich sofort wissen ließ, dass heute nicht mit ihr zu spaßen war, da sie wohl mal wieder in alten Jugenderinnerungen gefangen war. Also anstatt hoch zu gehen, zog ich meine Sneakers und Jeansjacke aus und ging stattdessen durch die Wohnzimmertür. Ob mein Vater wohl schon Zuhause sein würde?

Ich lukte durch die Tür und erblickte meinen kleinen Bruder am Esstisch vor ein paar Heften sitzen und tatsächlich neben ihm saß mein Vater. Das Bild war selten - Hausaufgaben mit Papa. Er lehnte auf seinem Ellenbogen neben Nik, seine Hand vergraben in seinem dunkelblonden Haar, während er mit der anderen Hand auf etwas in Niks Heft deutete.

Ich machte die Tür ein wenig weiter auf, um auf die große, dunkle, hölzerne Standuhr an der Wand sehen zu können. 19:47. Eigentlich wäre es bereits Zeit für Nik oben nörgelnd im Badezimmer zu stehen um sich nach dem Essen Bett fertig zu machen, was nicht hieße, dass er danach ins Bett gehen würde. Für mindestens noch eine, wenn nicht drei Stunden würde er einem oder jedem noch mächtig auf den Senkel gehen bevor er eventuell auf der Couch in Papas Schoß, während der letzten Nachrichten, einschlafen würde. So etwas hätte es bei uns früher sicher nicht gegeben.

Als ich noch einen Moment länger unbemerkt da stand und die beiden verwundert ansah, fiel mir auch auf, dass der Tisch neben ihnen noch gedeckt war und die Teller unangerührt und sauber schienen. „Emma, da bist du ja," hörte ich meine Mutter sagen, die rechts aus der Küche getreten kam. Ihre Stimme war nicht unfreundlich und trotzdem hörte ich eine gewisse Spannung in ihr liegen, die mich stutzig machte. Mein kleiner Bruder schaute von seinen Heften auf und murrte als er mich erblickte, „Oah, na endlich."

Unsere Mutter schoss ihm einen warnenden Blick zu, bevor sie nebenläufig, als wäre nichts gewesen, weiter sprach, „Dann können wir ja essen. Dein Vater meinte wir sollten auf dich warten, das gehörte sich ja wohl so."

Ich blickte hinüber zu meinem Vater, der mich nun anblickte und auf das gesagte meiner Mutter mir kurz, zusagend und aufmunternd zulächelte, auch wenn es ein wenig verkrampft aussah. Vielleicht war er ja genauso aufgeregt wie ich? Oh gott, was wenn er genauso aufgeregt war wie ich?

„Ich vermute, er wollte mir indirekt zu verstehen geben, dass er nicht mag wenn wir Abends manchmal nicht auf ihn warten. Aber da kann ich ja nichts für wenn er sich in seinem Laden verkriecht und 'In fünf Minuten' als 'In einer Stunde' versteht. Oder?"

Ich nickte nur und machte ein bejahendes „Hm", während sie an mir vorbei ins Treppenhaus schritt. Anscheinend hatten die beiden sich mal wieder ein wenig gezofft. Aber das tat der Ehe gut, sagte mein Vater dann immer mit einem schrägen Lächeln. Nur das passte ja mal gerade gar nicht. Schließlich sollte er doch als beruhigender Impuls wirken - seine typische unbeschwerte, zurückgelehnte Art, die manch Unwissender ihm vielleicht schon als Unbeteiligung ankreiden würde - und nicht als zusätzlicher Reibepunkt von ihr gesehen werden.

„Becka!" rief meine Mutter lautstark die Treppen hoch über das „And you fall, and you crawl, and you break, and you take, what you get, and you turn it into..." von Avril Lavigne's Gesang.

Complicated. Ja, das war das Ganze hier sicherlich. Ich hatte doch extra geplant, naja, nicht geplant, aber irgendwie unterbewusst herausgezögert, extra spät von Jenny los zu fahren, so dass ich das Abendessen eben gerade verpassen würde um direkt zum eigentlichen Punkt des heutigen Abends oder wenn man es so sehen will des Tages kommen zu können. So langsam konnte ich diese Dauerspannung in mir nicht mehr ertragen und wollte es doch eigentlich einfach nur noch hinter mich bringen. Es konnte doch gar nichts zu schlimmes mehr passieren, wenn Papa es doch gut akzeptierend aufgenommen hatte. Oder so hatte ich gedachte bis ich in die komische Atmosphäre hier Zuhause hineingeraten war. Hatte er vielleicht schon etwas gesagt? Mein Blick huschte zu meinem Vater, der leise irgendetwas zu Nik sagte.

„Naja, wo warst du eigentlich schon wieder?" sagte meine Mutter dann wieder mit normaler Lautstärke an mich gerichtet und schritt zurück an mir vorbei ins Wohnzimmer. Ich zögerte und wollte schon etwas von Luzi, Chulos oder STAG plappern, als ich den Blick von meinem Vater auf mir ruhen spürte.

Mensch, Emma, die Wahrheit. Darum ging es hier doch heute Abend und außerdem konnte er sich sicher denken wo ich war. Und wie würde es rüberkommen wenn ich jetzt darüber log? Nicht sehr selbstbewusst und stark. Und das hatte Jenny doch gesagt. Es geht nur darum wie man selbst auftritt. Aber es war wie eine automatische Reaktion - meine Paranoia, dass wenn ich sagen würde, dass ich Zeit mit Jenny verbracht hatte, gleich jeder einen riesigen Einblick in das tiefste innere meines Herzens kriegen würde. Schließlich pochte es ja jedesmal wie verrückt in Aufregung, wenn ich sagte, wo ich wirklich war und mit wem.

„Ich hatte ja eigentlich gedacht, wo Dennis weg ist, kriegen wir dich öfters anstatt seltener zu sehen," fuhr meine Mutter fort, als ich in meinem Gedankengewirr wohl den Augenblick verpasste in dem ich hätte Antworten können.

Sie ging zum Tisch und klappte die Hefte von Nik zu. „Komm, das könnt ihr auch morgen fertig machen," sagte sie und Nik schien damit nur mehr als einverstanden. Er zog schnell den zur Seite geschobenen Teller zu sich und setzte sich auf seine Knie auf den Stuhl, um einen guten Überblick über den Tisch und alles was darauf stand, zu bekommen. „Dann gibt es jetzt endlich was?"" fragte er und blickte hungrig auf das geschnittene Brot und den Aufstrich. Wie sie ihn dazu gebracht hatten, still Hausaufgaben zu machen, während in so nahem Umkreis etwas Essbares stand blieb mir ein Rätsel.

„Ja, wenn deine Schwestern sich dann jetzt auch mal zu uns gesellen," sagte meine Mutter und blickte mich an wie ich immer noch ein wenig verloren halb im Wohnzimmer und halb im Flur stand. „Dir geht es doch gut, Schatz, oder?" fragte sie dann, einen Moment innehaltend, als sie sich selber an den Tisch setzen wollte.

„Äh, ja," sagte ich, mich innerlich aus meiner Starre schüttelnd. Manchmal da fühlte es sich an als würde das Familienleben um mich herum rasen. Da kam ich einfach nicht mehr mit, weil ich irgendwo anders gefangen stehen geblieben war. Aber das Leben um mich herum ging weiter, rasend schnell, auch wenn man nicht da ist und plötzlich findet man sich dann an einer ganz anderen Stelle wie vorher wieder. Wie in Filmen, wenn der Protagonist einfach nur da steht in Slow-Motion, während der Rest der Welt sich an ihm vorbei bewegt ohne ihn zu berühren oder zu merken, dass er sich irgendwie in einer anderen Geschwindigkeit, in einer ganz anderen Welt bewegt.

„Ja, mir geht es gut," sagte ich und schritt nun ins Wohnzimmer, während ich hinter mir wahr nahm, dass die Musik verstummt war, und noch bevor ich an meinem Platz am Esstisch angekommen war, hörte ich lautes Getrappel die Treppe herunter kommen. In Sekunden hatte mich meine Schwester auf dem Weg zum Tisch überholt. „Ah, da haben wir ja 'die Kleine', hm?," sagte sie während sie an mir vorbei Schritt und ihren Stuhl zurück zog, und ich verstand, dass mit ihrer Betonung sie den Wortlaut von Papa nachmachte, der das des öfteren noch zu mir sagte, und es anscheinend auch heute Abend schon getan hatte. „Bist doch nicht verloren gegangen. Mama wollte schon die Polizei rufen, weil du dich den ganzen Tag nicht gemeldet hast."

„Ach, jetzt erzähl doch keinen Unsinn, Becka," sagte meine Mutter.

„Wieso?" fragte meine ältere Schwester und rückte mit ihrem Stuhl an den Tisch. Sie setzte sich aufrecht hin und blickte über das Angebot von Essen, so als würde sie nur ganz nebensächlich reden, während ihre Stimme doch recht spitz klang. „Ist doch süß wie ihr euch um sie immer noch Sorgen macht als wäre sie 10."

„Ist gut jetzt," sagte mein Vater bestimmend, so dass meine Schwester verstummte und mit einem „Tz" sich ein Stück Brot griff. Sie hatte mir keinen einzigen Blick gewürdigt. Hatte ich denn irgendetwas getan? Auf einmal fühlte ich mich richtig schlecht und unbehaglich in dieser Stimmung. Was war denn heute los gewesen während ich nicht da war? Hatte er vielleicht wirklich schon was gesagt?

„Emma." Ich blickte zu meinem Vater, dessen warme Augen mich beruhigend ansahen. Er musste wohl gesehen haben wie ich bleich angelaufen war, oder zumindest fühlte ich mich in dem Moment so. „Setz dich doch jetzt einfach."

„Was ist denn los?" fragte mein kleiner Bruder unbekümmert, während ich mich schwerfällig setzte und er auf seinem Nutella Brot herumkaute und seine Augen verwundert zwischen uns allen hin und her schweiften. Nutellabrot. Na klar. Sie hatten ausnahmsweise Nutella mit auf den Tisch gestellt für die Hausaufgaben.

„Gar nichts," sagte mein Vater. „Es scheint nur, dass einige heute einfach ein wenig gereizt sind. So ist das nun manchmal. Nichts worum man sich Sorgen machen müsste." Bei seinem letzten Satz schaute er zu mir.

„Ja, einige meinen ja auch, dass es nicht nötig ist mich über ihren Verbleib zu informieren," sagte meine Mutter und schaute dabei meinen Vater an.

Ich wollte mich schon kleinlaut entschuldigen, auch wenn es mich wunderte, dass mir vorgeworfen wurde mich den ganzen Tag nicht gemeldet zu haben, wo Papa doch eigentlich hätte wissen müssen, dass es mir gut ging, weil ich ja bei ihm gewesen war.

„Boah Leute, so langsam geht ihr mir echt auf den Senkel," sagte Becka und biss in ihr Brot. „Eure Probleme möchte ich gerne mal haben."

Bevor ich meinen Mund jedoch aufmachen konnte, um zu sagen, dass es mir leid tat, sagte mein Vater bereits, „Ich habe mich doch entschuldigt, oder? Können wir jetzt in Ruhe essen?"

Ich schaute verwundert zu meinem Vater und verstand nun gar nichts mehr. Er war weg gewesen? Die anderen entgegneten seiner Frage nichts. Es hatten wohl alle genug von dem Thema und so schien es, als ob sich die Sache damit erledigt hatte. Auch wenn bei mir nun eine Reihe von Fragezeichen im Kopf waren und mein vorheriges Vorhaben irgendwie ganz weit in den Hintergrund gerückt war.

So war es bisher immer gewesen, wenn mich denn mal ein Anflug von Wagemut überkommen hatte, es ihnen zu sagen. Sobald ich hier Zuhause war, war alles anders. Es fühlte sich wie eine ganz andere Welt an in der ich mich befand, ganz anders als die aus der ich gerade gekommen war. Egal ob von Jenny oder von STAG oder aus der Schule.

Zuhause war fremd.