Polizeirevier
Time After Time – Iron&Wine
Die Idee mit dem Reporter stellte sich als weiterer Reinfall heraus. Niemand wollte mir Informationen über die Tierangriffe liefern. Die ganze Stadt schien sich einig zu sein, wenn es darum ging, ihre Leichen im Keller zu behalten. Als Außenstehender war es unmöglich, die Mauer aus Verschwiegenheit zu durchbrechen.
Während ich eine weitere Nacht in meinem trostlosen Motelzimmer im Bett lag und grübelte, was mit meinem Vater passiert war, traf ich eine Entscheidung. Meine Hand tastete nach meinem Handy auf dem Nachttisch. Ich warf einen Blick auf das Display. Es war kurz nach Mitternacht. Zeit zu gehen. Nach einem kurzen Gespräch mit meiner Freundin Lucia, um sie wissen zu lassen, dass es mir gut ging, schälte ich mich aus den Laken, warf mir meinen Hoodie über, schnappte mir mein Handy und die Autoschlüssel und verließ das Zimmer.
Die Nacht war über Mystic Falls hereingebrochen, und die Einwohner hatten sich in ihre Häuser zurückgezogen. Nur vereinzelt waren ein paar Nachtschwärmer unterwegs, die sich vermutlich nichts Schöneres vorstellen konnten, als den klaren Sternenhimmel über der Stadt zu bewundern. Arm in Arm schlenderten sie durch die dunklen Straßen und unterhielten sich leise. Ich hatte meinen gelben Käfer ein paar Straßen entfernt geparkt und lief nun zu Fuß weiter zum Polizeirevier. Eine Weile beschattete ich das Gebäude, um sicherzustellen, dass mich im Inneren niemand überraschte. Doch das Revier lag in vollkommener Stille und Dunkelheit vor mir. Sheriff Forbes musste längst nach Hause zu ihrer Familie gegangen sein.
Ich wartete, bis zwei Spaziergänger am Revier vorbei waren, die offensichtlich aus dem Grill kamen, bevor ich mich in Bewegung setzte. Aufrecht lief ich um die Ecke, bevor ich geduckt in den Schatten abtauchte, um eine der hinteren Türen zu benutzen. Langsam tastete ich mich voran, um nicht zu stolpern. Dabei achtete ich auf alle Geräusche um mich herum, doch ich vernahm nur vereinzelt Stimmen und Musik aus der Ferne. Darum machte ich mir keine Sorgen. Vermutlich würden die Gestalten, die um diese Zeit noch unterwegs waren, das Polizeirevier keines Blickes würdigen oder sogar meiden.
Im hinteren Teil des Hauses blieb ich vor einer Metalltür stehen. Ich holte mein Einbrecherwerkzeug hervor, das ich in der Tasche meines Hoodies mitgebracht hatte, und machte mich mit flinken Fingern an die Arbeit. Mein Vater hatte mir nicht nur das Kämpfen beigebracht. Er hatte mir auch gezeigt, wie man Schlösser knackte, Alarmanlagen kurzschloss und Überwachungskameras umging.
Ich brauchte knapp fünf Minuten, bis ich das Schloss geknackt hatte. Die amerikanischen Schlösser waren anders als die italienischen, deshalb hatte ich etwas zu kämpfen.
Ich schob die Tür eine Handbreit auf und befestigte etwas Kaugummi am Rahmen, um sie so weit wie möglich zuzuschieben, ohne sie zu schließen, bevor ich ins Innere schlüpfte.
Das Einbruchwerkzeug ließ ich wieder in meiner Tasche verschwinden und wandte mich dem Flur zu. Er lag in vollkommener Schwärze vor mir. Es dauerte einen Moment, bis sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Auch wenn ich mir nicht vorstellen konnte, dass jemand einen Einbrecher im Polizeirevier vermuten würde, musste ich vorsichtig sein.
Nachdem es mir endlich möglich war, Umrisse in der Finsternis auszumachen, lief ich weiter. Die Dielen knarzten unter meinen Turnschuhen, und nach jedem Schritt hielt ich angespannt den Atem an und lauschte. Stille. Ich war allein.
Schließlich erreichte ich das Büro von Sheriff Forbes. Ein Lächeln erschien auf meinen Lippen. Mit angehaltenem Atem machte ich mich daran, den ersten Aktenschrank zu öffnen. Wenn mir Carolines Mum die Akten nicht freiwillig zeigen wollte, dann musste ich sie mir eben anderweitig beschaffen. Es war offensichtlich, dass sie mir heute Nachmittag etwas verschwiegen hatte. Und ich wollte wissen, was. Wenn es mit meinem Vater zu tun hatte ... Mit einem Klicken öffnete sich das Schloss, als ich plötzlich ein Knacken hörte, das nicht von meinen Schritten stammte.
Ich erstarrte.
Das Knarzen der Dielen wiederholte sich.
Wieder und wieder und wieder.
Verdammt!
Ich war nicht allein.
Mir brach der kalte Schweiß aus und meine Hände begannen zu zittern. Vermutlich war das ein Beamter, der bei Nacht Wache schieben musste.
Scheiße!
Scheiße!
Scheiße!
Wie konnte das sein? Panisch blickte ich mich nach einem möglichen Versteck oder einem Fluchtweg um, aber es gab keinen. Ich saß hier fest. Einzig die Dunkelheit bot mir Schutz. Notdürftig ging ich hinter dem Schreibtisch in Deckung. Ich konnte nur hoffen, dass ich nicht entdeckt wurde.
Bemüht um eine ruhige Atmung, behielt ich die Tür im Auge, als eine schemenhafte Gestalt den Raum betrat. Angst strömte durch meinen Körper, und das Herz schlug mir bis zum Hals. Mein ganzer Körper war auf Flucht eingestellt, als ein einzelner, klarer Gedanke meinen Verstand streifte: Wieso hatte der Beamte keine Taschenlampe?
„Sienna?"
Sein Flüstern war kaum hörbar, dennoch reichten die Worte aus, um mir einen Stromstoß durch die Adern zu treiben. Ich schoss in die Höhe, die Augen zusammengekniffen. „Damon?"
„Was machst du hier?"
„Was ich hier mache? Was machst du hier?", fauchte ich und trat hinter dem Schreibtisch hervor.
„Ich hab zuerst gefragt."
„Und ich war zuerst hier."
„Bist du dir sicher?" Wir standen uns nun gegenüber und trotz der Schatten sah ich, wie er fragend eine Augenbraue in die Höhe zog. War er wirklich vor mir hier gewesen? Wenn ja, wieso? Wir waren in einem Polizeirevier, hier gab es nichts zu holen. Es sei denn ...
„Damon, was machst du hier?", fragte ich nun drängender.
„Ich bin dir gefolgt."
Ein kalter Schauer überlief mich. Wie war das möglich? Ich war immer so vorsichtig und aufmerksam gewesen. Wie hatte ich Damon nicht bemerken können? „Wieso?"
„Wieso? Du bist in das Büro des Sheriffs eingebrochen."
Ich schnaubte. „Ach ja, beinahe hätte ich es vergessen."
„Ich meine es ernst, Sienna, was ist los mit dir?"
„Ich wollte nichts stehlen."
Damon rollte mit den Augen. „Du bist eine verdammt schlechte Lügnerin."
„Glaubst du mir, wenn ich sage, dass ich schlafwandle?"
„Sienna ..." Damons Stimme hatte einen mahnenden Tonfall angenommen, der für meinen Geschmack viel zu laut war für die Stille im Revier.
Ich biss die Zähne zusammen, bis mein Kiefer schmerzte, denn nichts, was ich sagte oder tat, erklärte diese Situation angemessen. Das konnte nur die Wahrheit, aber ich war noch nicht bereit, Damon einzuweihen.
Ich ließ den Kopf hängen. „Ich wollte mir nur die Akten zu den Tierangriffen ansehen. Ich kann dir nicht sagen, wieso. Du kannst das akzeptieren und aufhören, Fragen zu stellen, oder du tust, was immer du glaubst, tun zu müssen, nun, da du mich erwischt hast." Näher an die Wahrheit konnte ich im Moment nicht ran. Entweder er schluckte meine Erklärung oder ich würde die Party in einer Gefängniszelle verbringen.
Damon starrte mich an, dann nickte er. „Okay."
„Okay?"
„Ja, okay." Er zuckte mit den Schultern. „Du hättest nur fragen müssen. Wenn du sie sehen willst, rede ich mit dem Sheriff."
„Okay ... wieso?"
Damon setzte ein unschuldiges Lächeln auf, das in der Dunkelheit nur schwer auszumachen war. „Du hast deine Geheimnisse und ich hab meine. Ich geb dir fünf Minuten, um alles wieder so zu hinterlassen, wie du es vorgefunden hast. Wir treffen uns am Hinterausgang."
Ich nickte, etwas überfordert mit dieser Entwicklung. Die Situation war einfach zu absurd, und beinahe rechnete ich damit, jede Sekunde aus diesem merkwürdigen Traum zu erwachen.
„Wunderbar, bis gleich!"
Damon trat zurück und ging in Richtung Hinterausgang. Einen Moment starrte ich ihm regungslos hinterher und fragte mich, was das alles sollte, doch den Versuch es zu verstehen, gab ich sofort wieder auf.
Ich wandte mich dem Aktenschrank zu. Augenblicklich verschwanden Schock und Verwirrung, und meine Konzentration kehrte zurück. Genauso schnell, wie ich ihn geöffnet hatte, verschloss ich den Schrank wieder. Ich stellte alles auf dem Schreibtisch wieder an seinen Platz zurück, bevor ich mich auf den Weg zum Ausgang machte.
Damon wartete dort bereits auf mich. Er lehnte an der Wand, die Hände locker in die Hosentaschen geschoben, ein zufriedenes Lächeln auf den Lippen. „Hast du alles in Ordnung gebracht?"
„Geht es noch etwas lauter?"
Sein Grinsen wurde breiter, und bevor er ein Wort sagen konnte, packte ich den Ärmel seiner Lederjacke und zerrte ihn hinter mir her aus dem Revier und auf die Straße. Nun konnte man uns immerhin nicht mehr auf frischer Tat ertappen, und die einzigen Indizien für unseren Einbruch waren das Werkzeug in meiner Tasche und das Stückchen Kaugummi an meinen Fingern, das ich im Vorbeigehen vom Schloss gelöst hatte.
Ohne Damon loszulassen, eilte ich in Richtung meines Käfers, sodass ihm nichts anderes übrig blieb, als mir zu folgen. Damon leistete keinen Widerstand, und als ich mir sicher war, dass er mir folgen würde, ließ ich den Ärmel seiner Jacke los. „Du bist der lauteste Dieb, den ich kenne."
„Wir waren allein im Revier. Und der Dieb bist du, nicht ich."
„Und wenn dich jemand von außen gehört und die Polizei gerufen hätte?"
„Wir waren in einem Polizeirevier!" Bei diesen Worten beschleunigte Damon seine Schritte. Instinktiv passte ich mein Tempo seinem an.
Ich erkannte nicht, wohin wir gingen, bis wir vor einem Diner stehen blieben, das vierundzwanzig Stunden geöffnet hatte. „Was wollen wir hier?"
Damon zog die Tür auf und bedeutete mir, einzutreten. „Essen? Trinken? Reden? Alles auf einmal?"
Ich ließ meinen Blick über die gläserne Front gleiten und betrachtete die angeheiterten Menschen, die ihre Pommes aßen und an ihren Colas schlürften. Es waren nicht viele, dennoch schien mir dieser Ort zu öffentlich, nachdem, was wir getan hatten. „Können wir nicht woanders hin? Ich hab kein Geld dabei."
„Ich lad dich ein. Komm schon!" Er nickte auffordernd in das Ladeninnere.
Ich hätte Nein sagen sollen.
Unbedingt, und aus vielerlei Gründen.
„Okay," sagte ich stattdessen, weil ich eine Idiotin war und mich sein Angebot ehrlich gesagt auf dem falschen Fuß erwischt hatte. Ein Mundwinkel wanderte nach oben. Ich seufzte und trat in das Diner, in dem es nach fettigen Speisen roch. Damon führte mich an den anderen Gästen vorbei zu einem Tisch. Ich rutschte auf die Bank.
„Was willst du?", fragte Damon.
Ich nannte ihm meine Bestellung und beobachtete, wie er zu der Kellnerin hinter dem Tresen lief. Er wirkte so unscheinbar, wie er dort stand, als wäre er nur ein weiterer Student, der sich einen schönen Abend mit seiner Freundin gemacht hatte. Aber dieser oberflächliche Eindruck täuschte, denn Damon war nicht einer von vielen. Er war außergewöhnlich.
Mir zitterten noch immer die Hände, wenn ich an meinen Einbruch ins Polizeirevier dachte und all die möglichen Konsequenzen. Doch ich wollte endlich Antworten, was mit meinem Vater passiert war.
Damon wartete an der Ausgabe noch immer auf unser Essen. Woher hatte er gewusst, dass ich ins Büro des Sheriffs einbrechen wollte? Und wie hatte er sich unbemerkt an mich heranschleichen können? Das Ganze schien mir ein zu großer Zufall zu sein. Überhaupt häuften sich die Zufälle um Damon herum auf eine geradezu unnatürliche Weise. Ich hatte es verdrängt und all die kleinen Zwischenfälle ignoriert, weil ich mich zu ihm hingezogen fühlte, von den Warnungen der anderen, über seinen Versuch, mich zu manipulieren, bis hin zu seinem lautlosen Auftauchen im Revier. Vielleicht war es an der Zeit, Damon einmal genauer unter die Lupe zu nehmen.
Damon kam mit einem voll beladenen Tablett zurück an den Tisch. Er rutschte auf die Bank mir gegenüber, stellte einen großen Becher Cola zwischen uns und reichte mir meine Pommes. Er selbst hatte sich irgendeinen Burger geholt und einen Berg Pommes.
Ich rührte in der Cola herum. „Damon?"
„Mhh?", brummte er, den Mund voller Pommes.
„Warst du schon mal am See?"
Eine Falte trat zwischen seine Augenbrauen. „Klar."
„Ich meine nicht wegen einer Party."
Misstrauisch neigte er den Kopf. „Und was meinst du dann?"
„Ich glaube, das weißt du ganz genau."
Seine Schultern spannten sich an. Das war nicht die Reaktion, mit der ich gerechnet hatte, und ein nervöses Flattern breitete sich in meinem Magen aus.
„Weißt du, wie wir zum See kommen?", fragte ich mit mehr Nachdruck. Es war ein Schuss ins Blaue, und vermutlich würde ich meinen Vater dort auch nicht finden, aber ich konnte mich umsehen, und es war eine Chance. Vielleicht fand ich etwas, was der Spurensicherung entgangen war. Wenn man nicht wusste, wonach man suchte, konnte man leicht ein paar Beweise übersehen.
Damon packte noch mehr Pommes in seinen Mund und wich dabei meinem Blick aus. „Ich halte das für keine gute Idee."
„Wieso nicht?"
„Der See ist gefährlich."
„Bitte, Damon. Caroline hat mir von den Tierangriffen erzählt."
„Noch ein Grund mehr, sich vom See fernzuhalten."
„Ich mach es so oder so. Du wirst mich nicht davon abhalten, also kannst du mir auch helfen," erklärte ich und schob mir eine Handvoll Pommes in den Mund.
„Was hast du nur mit diesen Tierangriffen? Hast du Angst, dass dir was passiert? Der Sheriff und ihre Leute haben alles im Griff. Du bist hier in Sicherheit. Und wenn du dich vom See und den Wäldern fern hältst, dann wird dir auch nichts passieren."
„Wenn du mich hinbringst, dann sag ich es dir." Erpresste ich ihn gerade? Sah ganz danach aus.
Er presste seine Lippen aufeinander, und ich sah, wie er mit sich selbst rang. Schließlich seufzte er, aber die Anspannung wich nicht aus seinen Schultern. „Einverstanden, aber nur, wenn du dich bei mir entschuldigst."
Ich runzelte die Stirn. „Wofür?"
„Dafür, dass du in das Büro meiner guten Freundin Liz eingebrochen bist." Er sagte das ohne jeglichen Vorwurf in der Stimme.
„Ich hatte keine andere Wahl."
Damon schnaubte und verdrehte die Augen. „Ich habe gesehen, wie du die Tür geöffnet hast, Du bist kein Anfänger, das hast du schon öfter gemacht."
Vor wo aus hatte Damon mich beschattet? Es beunruhigte mich, zu wissen, dass er mich beobachtet hatte und ich ihn erst bemerkt hatte, als er direkt vor mir gestanden hatte. Doch er musste mir die ganze Zeit über nahe gewesen sein, wenn er beurteilen konnte, wie mein Diebeshandwerk war.
Mein erster Instinkt war, seine Behauptung abzustreiten, doch die Gewissheit in seinen Worten ließ mich dieses Vorhaben sofort wieder vergessen. Er kannte die Wahrheit – zumindest einen Teil davon. „Ab und an bessere ich damit mein Taschengeld auf."
Damon öffnete den Pappkarton seines Burgers. „Und genau deshalb ist eine Entschuldigung von dir fällig. Du bist eine Diebin."
„Nein, bin ich nicht."
Damon neigte den Kopf und musterte mich. Dabei glitt sein Blick nicht nur flüchtig über mich hinweg, sondern er schien jeden Zentimeter meines Körpers genauestens wahrzunehmen. Er studierte mich mit seinen blauen Augen, als wäre ich das Objekt der Begierde. „Verrätst du mir, warum du die Akten stehlen wolltest?"
Langsam schob ich mir eine Pommes in den Mund. „Nein."
Enttäuscht verzog Damon die Lippen. „Sagst du es mir nicht, weil ich es tatsächlich nicht wissen soll, oder ist das ein Versuch, geheimnisvoll zu wirken?"
„Eindeutig Letzteres. Ich habe einmal gelesen, dass Männer auf geheimnisvolle Frauen stehen."
„Stimmt, aber zu viele Geheimnisse wirken unnahbar."
„Wirke ich auf dich unnahbar?" Ich rutschte bis an die Kante der Sitzbank und beugte mich über den Tisch.
„Kommt drauf an," sagte Damon und kam mir entgegen. Für einen Betrachter musste es so aussehen, als wollten wir uns küssen. Und beinahe wünschte ich mir, genau das zu tun.
Mein Blick zuckte zu Damons Lippen. „Aber das hat dich nicht davon abgehalten, mich im Grill anzusprechen."
Er griff nach der Cola, die zwischen uns stand, und trank einen Schluck. Dann zuckte er mit den Schultern. „Ich mag es eben kompliziert."
„Du findest mich kompliziert?"
„Du dich etwa nicht?"
Nein. Ich war nicht kompliziert, mein Erbe allerdings schon. „Nicht sonderlich."
Damon stellte die Cola wieder ab. „Mhh, muss wohl daran liegen, dass du dich selbst ziemlich gut kennst."
Ich lachte und griff nach dem Becher. „So gut auch wieder nicht. Manchmal treffe ich Entscheidungen, die mich wirklich an mir selbst zweifeln lassen."
Interesse blitzte in Damons Augen auf. „Was für Entscheidungen? Ins Polizeirevier einzubrechen?"
Die Entscheidung, dich in mein Leben zu lassen. „Unwichtig." Ich machte eine wegwischende Bewegung mit der Hand.
„Du hast dich immer noch nicht entschuldigt."
„Ist das dein Ernst?"
„Nein, schon gut. Ich weiß ja, dass du mich magst." Damon deutete auf meine Pommes. „Isst du das noch auf?" Ich schoss nach vorn und packte sein Handgelenk, bevor er sich meine Pommes unter den Nagel reißen konnte. „Ich mag dich vielleicht, aber das heißt nicht, dass du meine Pommes klauen kannst."
Seine vollen Lippen verzogen sich zu einem Grinsen. Unsere Blicke trafen sich, und das Gefühl, dass mein Magen einen Purzelbaum schlug, war wieder da. Ich konnte sehen, wie leicht es wäre, in die blauen Tiefen dieser hinreißenden Augen zu fallen oder mich von dem Charme umschmeicheln zu lassen, den ihn wie eine zweite Haut zu umgeben schien. Sein Grinsen ging in ein richtiges Lächeln über. Und dieses Purzelbaum-Gefühl in meinem Magen verwandelte sich in etwas Intensiveres, Wilderes.
Ich ließ seine Hand los, griff nach den Pommes und stopfte sie mir in den Mund. Sie waren kalt, aber das war mir egal. Ich konnte keine Typen gebrauchen, die mich ins Schwärmen brachten.
Damon lehnte sich zurück, und seine Augen schienen zu schimmern, während er mich beobachtete. „Wollen wir dann gehen?"
Ich nickte und rutschte von der Bank. Wir verließen das Diner. Wieder auf der Straße, merkte ich, dass es inzwischen ziemlich kalt geworden war. Ein frischer Wind fegte durch die Gassen und wirbelte die ersten Blätter vom Gehsteig auf. Der Herbst würde bald Einzug halten. Die goldgelben Blätter, die vor meinen Turnschuhen tanzten, erinnerten mich wieder daran, wie viel Zeit, seit Papas Verschwinden vergangen war. Als ich die Notiz entdeckt hatte, war es noch Sommer gewesen ...
„Hey, alles in Ordnung?" Damons Stimme riss mich aus meinen Gedanken. Wir liefen nebeneinander die Straße hinunter, zurück zu meinem gelben Käfer. Ich blieb abrupt stehen. „Wann kannst du mich zum See bringen?", wollte ich wissen. Ich brauchte dringend ein paar Fortschritte für meine Motivation.
Damon machte noch zwei Schritte, bevor er anhielt und sich zu mir umdrehte. „Nach der Party. Wenn sich die Lage etwas beruhigt hat. Im Moment wimmelt es da von Polizisten und Rangern."
Ich kniff die Augen zusammen. „Gibst du mir dein Wort?"
Sein linker Mundwinkel schob sich nach oben. „Klar. Aber dafür bist du mir was schuldig."
Ich öffnete den Mund zu einer Antwort, aber er packte plötzlich meine Hand und zog mich ganz dich an sich heran.
Ich wehrte mich sofort dagegen, aber seine Kraft war beeindruckend. Eben ging ich noch neben ihm her, und im nächsten Moment standen wir dicht an die gemauerte Fassade des Polizeireviers gedrückt, mein Rücken gegen seine Brust gepresst. Er schlang mir einen Arm um den Bauch. Alle meine Sinne sprangen bei dem Ansturm widersprüchlicher Gefühle an. An seinem Körper war nichts Weiches, und er roch sauber. „Wenn du mich nicht loslässt, dann werde ich, Gott steh mir bei ..."
„Du steckst so voller Drohungen." Er senkte den Kopf, sodass seine Wange beinahe meine berührte. „Sieh mal. Polizeistreife."
Mein Herz hämmerte schnell, während ich in die Richtung schaute, in die er zeigte. Ein Streifenwagen fuhr langsam an den Straßenrand und hielt.
„Ich mag es, wie es sich anfühlt, wenn du dich an mich drückst," sagte er.
„Igitt!" Ich verdrehte die Augen, aber ein kleines bisschen, ein winzig kleines bisschen mochte ich es auch, wie er sich anfühlte.
Ein Polizeibeamter stieg aus dem Wagen aus und ging die Stufen zum Revier hinauf.
Mein Puls beschleunigte sich. Hatten sie den Einbruch bemerkt? Sollte er nach dem Rechten sehen? Der Beamte blickte in das finstere Innere und, als er nichts Auffälliges entdeckte, wandte er sich wieder ab und schlenderte in Richtung Diner davon.
Damon holte tief Luft und mir stockte der Atem. Mir wurde plötzlich bewusst, dass wir Brust an Brust dastanden, so nah beieinander, dass ich glaubte, sein hämmerndes Herz zu spüren. Es könnte auch meins sein. Wahrscheinlich war es meins, aber zwischen uns waren kaum zwei Zentimeter Luft und anders als beim letzten Mal, als wir uns so nahe gewesen waren, verspürte ich keinen Zorn.
Seine Arme umfassten locker meine Taille, und eine berauschende Wärme strömte durch meine Adern. Ich starrte auf das nackte, v-förmige Stück Haut über dem Kragen seines Hemds und begriff vage, dass meine Hände auf seiner Brust lagen. Ich hatte keine Ahnung, wie sie dort hingekommen waren. Sie hatten einen eigenen Willen. Das berauschende Gefühl wirkte sich direkt auf meinen Unterleib aus und regte Muskeln zum Anspannen an, die seit ziemlich langer Zeit im Urlaub gewesen waren.
Heilige Scheiße, ich erlebte tatsächlich einen Anfall von plötzlicher Lust. Sicher, ich hatte seit Luca andere Männer bemerkt, aber es war nie mehr als ein flüchtiges Interesse gewesen, das ganze zehn Sekunden gehalten hatte, und es war leicht zu vergessen gewesen. Aber das ... das war wie ein Bad in der Sonne. Ein scharfes Verlangen erwachte in mir, und es war das erste Mal seit Jahren, dass ich mich derart zu einem Mann hingezogen fühlte.
Ich war mir zwar noch nicht ganz sicher, was an alledem schlecht war. Aber ich war mir ziemlich sicher, dass mir ein paar Dinge einfallen würden, sobald wieder ein gewisser Abstand zwischen Damon und mir lag und mein Gehirn wieder zu arbeiten begann.
„Alles in Ordnung mit dir?", fragte Damon, seine Stimme tiefer und rauer als sonst.
Schau nicht hoch. Schau nicht hoch. Mein Blick wanderte an seinem Hals entlang, über Lippen, die wirklich viel zu schön geformt waren, zu seiner Nase. Dann schaute ich in Augen, die von dichten schwarzen Wimpern umrahmt waren. Verdammt, ich hatte doch hochgeschaut.
Aber Himmel noch mal, seine Augen waren wirklich wunderschön.
Einer seiner Mundwinkel zuckte in die Höhe. „Sienna?"
Ich blinzelte. „Ja, mir geht's prima."
„Das ist schön." Sein schiefes Lächeln wurde breiter, und die Muskeln tief in meinem Unterleib zogen sich noch weiter zusammen. „Sienna?" Er wiederholte meinen Namen.
„Ja?" Ich war stolz auf die Tatsache, dass ich keine Ewigkeit brauchte, um zu antworten, aber selbst für mich klang meine Stimme seltsam atemlos, denn selbst mit ...
Ich wollte diesen Gedanken nicht zu Ende denken.
Er senkte den Kopf und mein Herz tat einen Satz. „Willst du vielleicht mein Hemd loslassen? Ich meine, du brauchst es nicht zu tun. Aber wenn du weiter so daran herumzerrst, komme ich noch auf alle möglichen unartigen Gedanken, und dann reagiere ich am Ende bestimmt entsprechend."
Zuerst verstand ich es nicht. Wovon zum Teufel redete er da? Einige Regionen meines Körpers drehten durch wegen der unartigen Gedanken, auf die er reagieren würde, und freuten sich riesig deswegen. Ich senkte den Blick und sah, dass ich die Hände in sein Hemd gekrallt hatte und ... seine Arme lagen nicht länger an meinen Hüften.
O mein Gott, ich betatschte ihn – sein Hemd. Konnte man ein Hemd betatschen? Ich war mir ziemlich sicher, dass ich sein Hemd betatschte.
Ich ließ die Hände fallen, trat einen Schritt zurück, und stieß gegen die Mauer. Was für ein total unauffälliges Manöver. Ich hätte mir am liebsten selbst einen Tritt verpasst.
Einen Moment lang sprach Damon nicht, sondern hielt nur meinen Blick fest. „Wir sollten besser von hier verschwinden."
Gute Idee. Großartige Idee. Also holte ich tief Luft, rief meine wiederentdeckten weiblichen Körperteile zur Ordnung, während er anmutig zur Seite trat. Tatsächlich war alles an der Art, wie er sich bewegte, faszinierend.
Oder ich musste wirklich dringend einfach mal flach gelegt werden.
Ich seufzte.
Wir setzten unseren Weg fort, was ich zum Anlass nahm, zu unserem Gespräch zurückzukehren.
„Und was bin ich dir schuldig?" Ich verdrehte die Augen.
„Das verrate ich noch nicht. Sonst ist es ja keine Überraschung mehr." Er ging einfach weiter.
„Sehr witzig!", rief ich ihm hinterher. „Und wenn ich alleine zum See gehe?"
Innerhalb eines Wimpernschlages stand er wieder vor mir und blickte finster auf mich herunter. „Dann werde ich dir dermaßen in deinen kleinen, italienischen Hintern treten, dass du bis nach Venedig fliegst. Haben wir uns verstanden?"
Ich stemmte die Hände in die Hüften. „Ist das eine Drohung?" Ich funkelte ihn zornig an.
„Wenn du mich kennen würdest, dann wüsstest du, dass ich niemanden drohen muss."
„Oh, da ist aber jemand sehr von sich überzeugt."
„Sind alle Italienerinnen so lebensmüde wie du?" Er fasste mich am Ellenbogen und zerrte mich mit sich die Straße hinunter.
„Du kannst mich nicht täuschen," erklärte ich überzeugt. „Insgeheim genießt du es doch, einen ebenbürtigen Gegner zu haben. Ich bin -"
„Übergeschnappt ist sie auch noch!", stöhnte er.
„Ich bin vermutlich das Aufregendste, was dir in den letzten Jahren deines langweiligen Kleinstadtlebens passiert ist. Du solltest also mir dankbar sein, dass ich dich um Hilfe bitte."
Er ließ mich los, weil wir an meinem Wagen angekommen waren. Dann zählte er die nächsten Worte an seinen Fingern ab. „Übergeschnappt, eingebildet und kriminell. Du bist ja ein richtiges Schmuckstück." Er verzog das Gesicht.
„Weißt du, was die Leute über dich sagen, Schmuckstück?", gab ich zurück. Diesmal war ich es, die die Worte an meinen Fingern abzählte. „Impulsiv, skrupellos und selbstsüchtig." Damit schloss ich mein Auto auf, schwang mich hinters Lenkrad und schlug ihm die Tür vor der Nase zu. Für mich war diese Unterhaltung beendet. Auch wenn er mich dabei erwischt hatte, wie ich in das Büro des Sheriffs eingebrochen war, gab ihm das noch lange nicht das Recht, sich wie ein Arsch zu benehmen. Selbst wenn er mich bei Sheriff Forbes verpfiff, hoffte ich noch immer auf meine diplomatische Immunität als Austauschschülerin. Aber irgendetwas sagte mir, dass er mich nicht verraten würde.
