VIII. WATERLOO

Unter seinen geschlossenen Lidern zuckten die Augäpfel wild hin und her. Ginny saß mit einer halben Pobacke auf dem Couchtisch, ihrem Gast zugewandt. In ihrem Schoß hatte sie die Hände wie zum Gebet gefaltet. Sie zitterte.

Der Raum war abgedunkelt, sie hatte alle Vorhänge zugezogen. Es war finster wie in der Nacht. Nur ein kleiner Lichtstrahl fiel hinein und tanzte durch das Zimmer. Der Staub funkelte darin.

Den Blick starr auf Riddle gerichtet, strich sie ihm über den feinen Nasenrücken. Eine seltsam intime Geste für sie. Früher hatte sie es bei Harry gemacht, wenn sie morgens neben ihm aufgewacht und er noch geschlafen hatte. Es war eine feine Art, jemandem zu wecken, fand sie.

Er musste doch aufwachen! Wie lange sollte er denn noch vor sich hindämmern? Ginny hoffte, dass seine Verletzungen nicht allzu schwer sein würden. Notdürftig hatte sie ihm wieder den Fuß ans Bein gezaubert. Immerhin war sie mal Quidditchspielerin gewesen und hatte allerlei Verletzungen live und hautnah erlebt. Sie hatte sich viel anlesen können, auch wenn dies nicht mit einer vollwertigen Heilerausbildung zu vergleichen war.

Sie klammerte sich förmlich an ihm fest. Riddle war ihre einzige Möglichkeit, Albus zu retten. Wenn er sich wieder an alles erinnern könnte, würde er sagen können, welches Wesen von ihrem Sohn Besitz ergriffen hatte und was es von ihm wollte. Riddles Wissen war enorm ... gewesen.

Damals. In einer anderen Zeit. Scorpius Malfoy hatte immer wieder seinen Namen geflüstert. Tom Riddle... töten. Albus hatte dem Tagebuch seine Besessenheit gebeichtet. Oder das Wesen hatte sich auf den Seiten verewigt. Was auch immer Riddle damit zu tun hatte – er hing mit drin.

Es war Ginnys Aufgabe, es herauszufinden.

„Wie geht es dir?", fragte sie, als er die Augen aufschlug.

„Geht so. Warum hast du mir geholfen?"

Seine Stimme klang fremd. Nicht nach dem Tom, der sie in die Kammer des Schreckens gelockt hat und schon gar nicht nach Voldemort. Er war … irgendwas dazwischen. „Weil du mir helfen musst, meinen Sohn zu finden. Albus..."

Sie sahen sich in die Augen.

Ginny öffnete den Mund und es floss aus ihr heraus. „Wir müssen ihm helfen. Er ist ... er ist nicht er selbst. Irgendein Wesen hat von ihm Besitz ergriffen und zwingt ihn, schreckliche Dinge zu tun. Nun ist er in Askaban ..."

„Nein ...", flüstere Riddle. „Sie würden doch kein Kind nach Askaban schicken. Mich hätten sie dahingeschickt, weil sie mich schrecklichster Taten bezichtigen."

Doch es ging nicht. Weil die Dementoren vor Riddle Reißaus nahmen. Ginny wusste es noch. Überall hatte es damals in den Nachrichten gestanden. Sie hielt sich die Hände vors Gesicht und schluchzte enthemmt. „Sie wissen genau, dass Albus besessen ist. Sie denken, er könnte nichts mehr spüren. Sie hofften, mit der Anwesenheit der Dementoren könnten sie seinen Peiniger in Bedrängnis bringen."

„Was soll ich machen? Was hat das alles mit mir zu tun?"

„Woran kannst du dich erinnern?", fragte sie hektisch. Ihre Stimme überschlug sich.

„An nichts."

Die Worte waren wie ein Schlussstrich. Ginny sackte zusammen.

Sie wimmerte: „Wenn du es könntest, dann ... könntest du sicher Albus helfen. Außerdem will das Wesen auch dich töten."

„Dann müssen wir meine Erinnerungen zurückholen."

Sie erstarrte. „Wirklich? Das willst du tun?"

Bitterernst nickte er: „Ich warte schon so lang. Es wird Zeit."

„Vielleicht, wenn du Albus gegenüberstehst … – Wir sollten nach Askaban gehen ..."

Riddle zögerte. „Ohne zu wissen, was wir uns gegenüberstellen? Zuerst sollte ich wieder im Besitz meiner Erinnerungen sein."

Beinahe panisch sprang Ginny auf. Mit zittrigen Händen zerrte sie aus ihrer Tasche Albus' Tagebuch. Riddle nahm es entgegen und blätterte es durch. Fahrig verwies sie ihn auf die Stelle. Die eine Stelle.

„Sage mir also nicht, dass hätte alles in meinem Kopf stattgefunden ...", las er vor. „Erschreckend."

Neben ihm sitzend, ihre Hände unter ihrem Körper vergrabend, stimmte sie ihm zu. Doch ihr Blick wurde von etwas anderem als seinem entgeisterten Gesichtsausdruck gefangengehalten. Die Buchstaben, geformt aus königsblauer Tinte - sie leuchteten grell. Ein heller Lichtschein strahlte durch die Finsternis und bildete einen alles mitreißenden Strudel. Riddle und sie wurden ins Tagebuch – in Albus' Dokumentation seiner Jugendsünden - hineingesogen.

Riddle hatte gesagt, er würde Antworten brauchen? Nun bekam er sie.

oOo

Immer und überall hätte Ginny diesen einen, kalten Wintertag wiedererkannt. Sie waren in einer grauen, schemenhaften Abbildung ihres Hauses gelandet. Im trüb aussehenden Wohnzimmer, wo sie bis vor wenigen Sekunden noch auf dem Sofa gesessen hatten. Nur der graue Schleier, der über ihrer Wahrnehmung lag, erinnerte Ginny daran, dass sie nicht im Hier und Jetzt waren, sondern in einer Kopie der Realität. Dieser eine Augenblick, der ihr Leben für immer verändert hatte, würde sich gleich vor ihren Augen abspielen. Ein Teil von ihr wollte die Lider schließen, doch der andere, mächtigere hatte schon so lange darauf gewartet. Sie wollte alles wissen.

Ihr Herz zersprang, als sie Harry vor sich sah. Harry mit den wilden, schwarzen Haaren, dass auch im Alter nur durch wenige graue Strähnen durchzogen wurde und den grünen Augen. Sein schiefes Lächeln im Gesicht ließ sie aufschluchzen.

Nicht mehr Riddle, der sowieso völlig fehl am Platz war, und sie saßen auf der Couch, nun waren es Harry und Albus. Ihre beiden Jungs. Harry hatte sich zum Sohn vornübergebeugt und redete leidenschaftlich auf ihn ein. Albus hingegen saß ruhig, beinahe entspannt da und – ...

Ginny erstarrte. Er hatte das Tagebuch in den Händen. Eine Träne floss über ihre Wange. Sie spürte wie Riddle eine Hand auf ihren Rücken legte.

Bist du nicht langsam zu alt, um einen imaginären Freund zu haben?", fragte Harry.

Albus schüttelte den Kopf. „Für Freunde ist man nie zu alt."

Soll ich mal ein Treffen mit Hugo ausmachen? Und was ist mit Scorpius Malfoy?"

Wieder schüttelte Albus den Kopf.

Nicht? Denkst du nicht auch, dass es Zeit wird, Matthew gegen einen Freund, den man anfassen kann, auszutauschen?"

Albus verzog das Gesicht zu einer Grimasse. Wut spiegelte sich in den Augen. Ginny wurde angst und bange, doch Harry schien es nicht zu bemerken, geschweige denn zu beunruhigen.

Ich kann ihn anfassen!", schrie er seinen Vater an und sprang auf seine Beine, „Und sein Name ist Tom!"

Heftig atmend fuhr er sich durch die Haare und zog an ihnen, als würde er sie ausreißen wollen.

Harry erstarrte. „Was hast du da? Halt still!" Wie ferngesteuert legte er seine Hand auf den Kopf des Jungen und schob die Haare beiseite. Unter seinem erschrockenen Blick hielt Albus still. Harry klappte der Mund auf und er stammelte etwas. „Das ... ein Loch! Wo hast du dir wehgetan?"

Albus verengte die Augen und blickte zu seinem Vater auf.

Ginny, verdammt dazu als stummer Beobachter alles mitansehen zu müssen, quiekte. Seine Augen leuchteten wie die eines Raubtieres.

Er musterte seinen Vater wie ein Stück Fleisch, eine junge, unerfahrene Antilope, die zu weit von der Herde abgekommen war.

Du!" Mit verzerrter, rauer Stimme, die gar nicht zu Albus passen wollte und die trotzdem aus seiner Kehle kam, sprang der Junge auf und fiel über seinen Vater her. Seine Augen erstrahlten rötlich, als er mit einem Hechtsprung Harry an die Kehle sprang und in die weiche Haut seine kleinen Zähne versengte.

Ginny schrie und schlug die Hände vors Gesicht.

Harry hatte keine Zeit zum Schreien. Er fiel nach hinten, blass und fahl, heftig atmend und drückte eine Hand auf die Wunde am Hals. Blut strömte zwischen seinen Fingern hervor. „Al..." Gurgelnd und ächzend flüsterte Harry immer wieder den Namen seines Sohnes. „Al..."

Als würde ein Geist sich aus Albus lösen, drang eine graue Silhouette aus seinem Körper hervor und Harry entgegen. Er durchstreifte ihn einmal gänzlich, ohne sonderlich auf Widerstand zu treffen, um sich dann in Luft aufzulösen. Albus sackte zusammen, die Augen nicht mehr rot leuchtend und Harrys kämpfende Bewegungen kamen zum Erliegen. Ohnmächtig lagen beide ineinander gekeilt.

Ginny weinte und schrie. Sie wollte zu ihnen eilen und helfen, doch bevor sie einen Schritt machen konnten, wurde sie von der Szenerie weggezogen.

oOo

Riddle neben ihr stand noch eine Weile starr wie eine Skulptur, als sie sich wieder in der Realität zurückfanden.

„Was war das?" Ginny stellte die Frage in den Raum und sie stand zwischen ihnen wie ein Elefant. Doch er reagierte nicht. Ungeduldig und mit brummenden Kopfschmerzen ließ sie sich aufs Sofa zurückfallen. „Nie hätte ich gedacht ... Das Wesen ist gefährlich."

Riddle nickte. „Es ist Voldemort."

Entgeistert blickte sie ihn an. „Harry hat ihn besiegt."

„Ich bin doch auch noch da."

Sie klopfte sich auf die Wangen, um aus dem verrückten Traum wieder aufzuwachen, doch es half nichts. „Du glaubst es also?"

Wieder nickte er. „Du musst endlich die Wahrheit sehen, Ginny! Du kannst es nicht ewig leugnen!"

„Es muss dir nicht leidtun." Ginny fuhr sich durch ihr Gesicht.

Ihr Gegenüber wirkte verändert. Zuvor hatte er aufrichtig gewirkt. Sein Blick hatte tröstend und mitfühlend ihren gesucht. Doch nun… Er saß angespannt auf der Couch und seine Augen taxierte ihre unnachgiebig und forschend. Das raubtierhafte Funkeln, das sie erschrocken in Albus' Augen beobachtet, in Harrys letztem wachen Moment auf Erden – Das spiegelte sich jetzt in Riddles wider. Schon wieder. Zaghaft und wohlüberlegt, als müsste sie eine Bombe entschärfen, fragte sie: „An wie viel kannst du dich erinnern?"

Ihr Herz schlug bis zum Hals.

„An alles."

Das war Tom, der sie in die Kammer des Schreckens gelockt hatte. Das war Voldemort.

„Ich hätte nie gedacht, dass ich dir noch einmal gegenüberstehen würde, Tom. Erinnerst du dich auch an unsere Gespräche, die wir damals geführt haben?"

Er nickte erhaben. „An jedes einzelne. Wichtiger ist jetzt aber die Zukunft."

„Wir müssen nach Askaban, um Albus zu befreien!" Ihre Stimme versagte. Sie schluckte die Galle hinunter. „Du weißt, er will dich umbringen. Wie kannst du überhaupt zweimal existieren?"

„Er will mich umbringen. Diese Genugtuung sollte ich ihm nicht geben. Zudem würde es ihn stärken, wenn er mich aus dem Weg räumen könnte."

„Wie das?"

„Wir leben an zwei verschiedenen Stellen, aber sind dieselbe Person, eigentlich."

„Eine gespaltene Persönlichkeit? Du bist der Gute und er -..." Sie verstummte.

„Ja, eine gespaltene Existenz, nur sind wir räumlich nicht aneinandergebunden. Aber durch das doppelte Bestehen sind wir beide geschwächt, sozusagen nur hälftig stark."

„Und durch das Auslöschen der einen, unliebsamen Hälfte könnte Voldemort erstarken?"

Tom nickte. „Das darf nicht passieren. Ich will erstarken."

„Was willst du machen, wenn du deine andere Hälfte besiegt hast?"

„Er benutzt Albus als Wirt. Willst du ihm nicht helfen? Was nützt es deinem armen, unschuldigen Sohn, wenn du solche Fragen stellst?"

Ginny verstand seine Gedankengänge, aber sie sah auch die Notwendigkeit. Sie konnte nicht auf seine Hilfe verzichten, wenn sie Albus retten wollten. „Bitte! Du bist der Schlüssel zu allem. Allein habe ich keine Chance."

„Wir werden uns in höchste Gefahr begeben."

„Für meinen Sohn... Al...", flehte sie, „mache ich alles." Sie betrachtete sein schwarzes, wildes Haar und sah tief in seine grünen Augen. Er zwinkerte heftig. Seine Brust hob und senkte sich schlagartig. Es war ein Hyperventilieren, aber aus Freude. Tiefe, innige Freude über ein Wiedersehen. Sie hatte immer gewusst, dass es eines Tages anstehen würde. Das schiefe Lächeln, das sie immer so an ihm geliebt hatte, umspielte seine Lippen. „Für deinen." Sie beugte sich nach vorn und küsste ihn zärtlich.

Er riss seinen Kopf weg. Sie stieß einen spitzen Schrei auf, als er sie von sich wegschubste und aufsprang. Mit der Hand fuhr er sich gründlich über die Lippen. Wieder und wieder. Angewidert zischte er sie an: „Ginny! Ich bin es – Tom Riddle! Nicht Harry!"

Der Traum endete genauso abrupt, wie er gekommen war.

Erschrocken riss sie die Augen auf. Ein rötlicher Schimmer legte sich auf ihre Wangen. „Es tut mir leid. Was ist in mich gefahren?" Sie sah ihn an und wusste nicht, wie sie ihn für Harry hatte halten können. Seine dunklen Augen starrten kalt zurück. „Warum kann ich meiner Wahrnehmung nicht mehr trauen?"

„Du bist erschöpft."

Sie verfielen in ein unangenehmes Schweigen.

Tom lächelte verwegen. „Dein Unterbewusstsein spielt dir einen makabren Streich."

„Makaber?"

„Es wäre schon makaber, wenn ich Potters Platz einnehmen und der Stiefvater seiner Kinder sein würde. Dass du ihn durch mich ersetzen möchtest."

Ginnys Nackenhaare stellten sich auf. Was hatte sie gerade getan? Sie schmeckte ihn noch auf ihren Lippen. Die Galle stieg in ihr hoch. Er sah es genau.

Barbarisch erfreut klatschte Tom in die Hände. „Ich helfe dir und deinem Sohn. Ruhe dich für ein oder zwei Stunden aus, sonst bist du zu nichts zu gebrachen. Dann geht es los. Er muss aufgehalten werden."

Ginny nickte. „Versprich mir, dass du alles tust, um ihn zu retten", forderte sie mit Grabesstimme.

Er lächelte verwegen. „Du wirst ihn wiedersehen, deinen Albus… – Das verspreche ich dir, so wahr mein Name Tom Riddle ist."