VIII. Als Recht verkleidetes Unrecht
Menschenfressermenschen geht's nicht immer nur um's Geld
Menschenfressermenschen gehört fast die ganze Welt
Menschenfressermenschen zeigen selten ihr Gesicht
Menschenfressermenschen wissen alles über dich
Staatsanwaltschaft
Am Zaubergamot
London, den 28.10.1999
501 Ks 256154/98
Anklageschrift
Frau Dolores Umbridge
geboren am 26.08.1955 in London
wohnhaft in _
ledig, britische Staatsangehörige,
Wahlverteidiger: Dr. Edmond Thatch,
Nokturngasse 23, London
wird angeklagt
in der Zeit vom 02.08.1997 bis zum 01.05.1998
in London
durch 43 selbstständige Handlungen
- gemeinschaftlich handelnd -
1.) - 25.):
Menschen getötet zu haben, indem sie sie zu Unrecht und aus niedrigen Beweggründen zu Kettenhaft in Askaban verurteilt zu haben, strafbar als Mord in Tateinheit mit Freiheitsberaubung mit Todesfolge gem. §§ 211 Abs. 2 Var. 4, 239 Abs. 1, 4, 52 Abs. 1 MStGB.
26.) - 43.):
Menschen zu Unrecht zum Kettenhaft in Askaban verurteilt zu haben, strafbar als Freiheitsberaubung gem. § 239 Abs. 1 MStGB.
Zu 1.) - 25.):
Im Zeitraum vom 02.08.1997 bis zum 01.05.1998 war die Angeklagte Vorsitzende der Registrierungskommission für Muggelstämmige, die Anfang August 1997 eingerichtet wurde. Sie leitete die Kampagne gegen Muggelstämmige, die verpflichtet waren, sich bei der Kommission registrieren zu lassen. Unter dem Vorwand einer Anhörung wurden sie in das Ministerium bestellt und mussten sich im Beisein von Dementoren rechtfertigen, dass sie ihre Zauberkräfte von Vorfahren geerbt hätten und erklären, woher sie ihren Zauberstab hätten. Nach gefälschten Forschungsergebnissen der Mysteriumsabteilung hätte es neue wissenschaftliche Erkenntnisse gegeben, die belegen würden, dass Zauberkräfte ausschließlich ererbt werden können. Wer während der Anhörung nicht nachweisen konnte, dass er magische Vorfahren hatte, wurde unrechtmäßig des Diebstahls beschuldigt und im Schnellverfahren zu lebenslanger Haft verurteilt. Im direkten Anschluss wurden die Muggelstämmigen nach Askaban verbracht.
Die Existenzbedingungen in Askaban waren lebensfeindlich. Es herrschte weder eine gesicherte Versorgung mit Grundnahrungsmitteln, noch hatten die Internierten die Möglichkeit für ausreichende Bewegung. Den herumstreifenden, teilweise wachehaltenden Dementoren waren sie schutzlos ausgeliefert und erlitten schwere seelische Verletzungen.
Im Zeitraum vom 02.08.1997 bis zum 01.05.1998 kamen _ (hier stehen die Namen von 25 Menschen) nach einer Verurteilung durch die Angeklagte unter diesen widrigen Bedingungen zu Tode.
Die Angeklagte wusste von der Unaufrichtigkeit der gegen die Muggelstämmigen geäußerten Vorwürfe, insbesondere kannte sie die Fehlerhaftigkeit der von der Mysteriumsabteilung herausgegebenen Studie. Im Zeitpunkt ihres Schuldspruches waren ihr die lebensfeindlichen Bedingungen in der Haftanstalt bekannt. Die unrichtige Verurteilung und den Tod der Verurteilten nahm sie billigend in Kauf.
Zu 26.) - 43.):
Im Zeitraum vom 02.08.1997 bis zum 01.05.1998 wurden ebenso folgende Muggelstämmige unter denselben Anschuldigungen im geschilderten Verfahren zu Kettenhaft in Askaban verurteilt. Sie überlebten ihre Haftzeit:
_ (hier stehen 18 Namen).
Auch in diesen Punkt hatte die Angeklagte Vorsatz hinsichtlich aller objektiven Tatbestandsmerkmale der einschlägigen Straftatbestände.
Beweismittel
I. Zeugen
…
…
…
II. Urkunden
1. Ernennungsurkunde zur Vorsitzenden der Registrierungskommission für Muggelstämmige
2. dreiundvierzig Urteile
3. Anwendungserlass des Ministeriums, Abteilung Muggelangelegenheiten, vom 15.07.1997
Es wir t, unter Zulassung der Anklage das Hauptverfahren am Zaubergamot, Zauberministerium, 10. Stock, zu eröffnen.
Weasley
Staatsanwalt
oOo
„Dann ist es bald soweit?", fragte Harry den pausbäckigen Großonkel. Sie saßen am Tisch im Wohnzimmer des Fuchsbaus. Die Karten lagen vor ihnen verteilt und Harry hatte keine Lust mehr, sich anzustrengen. Er hatte eh verloren. Hermine bekam den letzten Stich und Gawain hielt die Hand für einen High-Five hoch. Sie hatten ihn gemeinsam fertiggemacht. 80 Minuspunkte addierten sich zu seiner sowieso schon jämmerlichen Punktzahl. Er musste sich die ausgespielten Karten merken, wenigstens ein paar, sonst würde er nie eine Runde Skat gewinnen. Doch lieber wollte er wissen, wie es bei der Staatsanwaltschaft aussah. Gawain hatte einen Entwurf der Anklageschrift mitgebracht und Harry hatte ihn mit regem Interesse gelesen. Nur die Zeit zum Besprechen hatte ihnen bis jetzt gefehlt. Er wollte Gawain auch wirklich nicht immer wieder um seine kostbaren Sonntage bringen.
Die Hände um seinen rundlichen Bauch geschlossen, nickte er. „Ich denke schon – momentan läuft es bei uns auf Hochtouren. Wir schieben alle Überstunden, um das Verfahren vorzubereiten."
„Sie schaffen es doch rechtzeitig?" Die Sorge quoll aus Harry heraus. Nichts konnte er tun, um sie bei sich zu halten. Hermine, die lesend am Kamin saß, blickte auf. Wie mit Laseraugen scannte sie ihn und schloss lautlos das Buch in ihren Händen.
„Natürlich." Es klang nur halb so zuversichtlich, wie Harry es sich gewünscht hatte. Argwöhnisch, dabei wollte er Gawain keine Inkompetenz unterstellen, hob er seine Augenbrauen in die Höhe.
„Sie wird sich auf einen Befehlsnotstand berufen", warnte er Gawain.
Dieser nickte müde. „Das ist sicher."
„Wie werdet ihr das widerlegen?", hakte er weiter. Er wusste, das war Gawains freier Sonntag und er hatte schon keinen Samstag gehabt, doch noch einen Freispruch wollte er unter allen Umständen vermeiden. Hätte Gawain sich nicht darüber unterhalten und triezen lassen wollen, dann hätte er nicht in den Fuchsbau kommen dürfen. Das war allen Beteiligten klar, daher ruderte Harry nicht zurück.
„Es gibt keine Beweise, dass sie durch eine Weigerung einen Nachteil erlitten hätte", erörterte Gawain. „Wahrscheinlich haben sie Unwillige mit dem Imperius gefügig gemacht, aber wir haben schon einige Zeugen, die aussagen können, dass sie Gefühlsregungen zeigte, die man unter dem Imperius zur Schau stellen kann."
„Sehr gut, wirklich, sehr …" Eifrig nickte Harry. „Und was ist mit der Legitimationsausrede?"
„Äh? … – Was meinst du?" Sein Gegenüber war verwirrt. Fragend blickte er zu Arthur, der gerade in das Wohnzimmer geschritten kam. Das Geschirrhandtuch hatte er sich über die Schulter geworfen und lehnte sich leger an die Wand. Interessiert folgte er dem Gespräch. So nahtlos wie er handelte, hatte er bereits in der angrenzenden Küche die ganze Zeit gelauscht.
„Harry meint, dass sie sich darauf berufen wird, nur nach den Gesetzen geurteilt zu haben", quetschte sich Hermine dazwischen und ließ sich auf den freien Stuhl neben Harry fallen. „Sie wird behaupten, dass sie sich den geltenden Gesetzen unterworfen hat, dass es nicht ihre Schuld sei, dass die Normen so waren, wie sie waren." Sie redete sich in Rage. Die Worte purzelten wie ein Sturzbach aus ihrem Mund. „Sie wird sagen, dass alles was kodifiziert ist nun einmal Gesetz sei und dass es doch noch größeres Unrecht sei, die geltenden Gesetze in ihrer Form nicht zu achten! So richtig radikal rechtspositivistisch eben!"
„Wir suchen noch nach einer Lösung hierfür", murmelte Gawain, die Augen niedergeschlagen.
Harry biss sich auf die Lippen. Was sollte man dagegen sagen? Gab es eigentlich eine Rechtsbefolgungspflicht? Oder konnte die Moral eines Individuums eine solche allgemeine aushebeln? – Aufgelöst schüttelte er den Kopf, um die wirren Gedanken loszuwerden. Selbst wenn, das war Philosophie und keinem Gericht der Welt zugänglich. Oder doch? Es musste doch einen Weg geben … – Umbridge konnte doch nicht als freie Frau von dieser Untat wegspazieren!
„Willst du es ihnen sagen, Hermine, oder soll ich?", fragte Arthur, ein wissendes Lächeln auf den Lippen.
„Was ist los?", forderte Gawain zu wissen.
Harry beobachtete seine Freundin, guckte zu Arthur und wieder zu ihr. Wortlos verharrte er der Dinge, die da kamen.
„Präsentiere du es ihnen."
Grinsend breitete Arthur die Arme. „Uns, Hermine und mich, hat diese Frage nicht losgelassen … – oder besser gesagt: Hermine und ich musste zuhören, wie sie sich ihr Gehirn zermartert, als du und Ron es nicht mehr ertragen konntet."
Zu gut konnte Harry sich an die vergangenen Tage erinnern, die einer Belagerung Konstantinopels glichen. Hermine war überzeugt, im Gespräch besser denken zu können – kreativer zu sein, daher hatte sie ihm und Ron immer wieder ein Gespräch aufgezwungen. Er hätte ihr gern geholfen, doch es war ein sich im Kreis drehender Spießrutenlauf. Sie hatten auf der Stelle getreten und trotzdem hat Hermine ihn immer weiter gedrängt. Das sie Arthur als neues Ventil gefunden hatte, erfüllte ihn ein wenig mit Sorge, doch er schien außergewöhnlich glücklich.
„Und dann habe ich sie nach den Muggeln gefragt", schloss Arthur. „Das ist sowieso eine Frage, die man viel öfter stellen sollte. Man kann so viel von ihnen lernen!"
„Die Radbruch'sche Formel!", ereiferte sich Hermine. „Das ist das Zauberwort!"
Gawain tauschte einen unsichereren Blick mit Harry aus, seine Augenbrauen verschwanden beinahe im Haaransatz. Jedoch konnte auch er nur mit den Achseln zucken. Was war nun schon wieder in Hermine gefahren? Er wusste es nicht. „Was ist das für eine Formel?", fragte er sie.
„Paraphrasiert sagt Radbruch, dass man sich grundsätzlich an die geschriebenen Gesetze zu halten hat, außer das Gesetz ist ‚unerträglich ungerecht", dass es als Recht verkleidetes Unrecht daherkommt."
„Das klingt klug …", überlegte Harry. „Aber Hilfe! … Es ist immer noch so schwammig. Wann ist Unrecht unerträglich?"
Hermine wedelte mit ihren Fingern vor seinem Gesicht herum. „Einen Moment, ich habe was mitgebracht." Sie kramte in ihrer Perlenhandtasche und zog einen Stapel Druckpapier hervor. Augenblicklich sah er, dass sie sich damit ausführlich auseinandergesetzt hatte.
„Ich d...", wollte er sie loben und beruhigen, doch sie kam ihm zuvor.
„Ich habe es", rief sie und tippte auf einen Absatz. „Der Konflikt zwischen der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit dürfte dahin zu lösen sein, daß das positive, durch Satzung und Macht gesicherte Recht auch dann den Vorrang hat, wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist ..." Sie nickte eifrig. „Verstehst du es?"
„Ja!"
„Das ist der Grundsatz, der ja erst einmal Umbridge in ihrer Position bestärken würde. Nun kommt die Ausnahme."
„Dann lass mal hören", brummte Harry. Typisch Hermine, er hatte gegrübelt und war mit sich auf keinen grünen Zweig gekommen, währenddessen hatte sie einen ganzen Aufsatz darüber angefertigt.
„[Es] sei denn, daß der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, daß das Gesetz als ‚unrichtiges Recht' der Gerechtigkeit zu weichen hat."
Harry kratzte sich am Kopf und schaute zu Gawain hinüber. Ihm als Staatanwalt musste das Verständnis ja leichter fallen, doch er hielt sich bedeckt. Seine Maske war unleserlich, er schien tief in Gedanken versunken zu sein. Dann musste er sie selbst daraufhinweisen. „Und wann ist das unerträgliche Maß erreicht?" Seine Stimme zog nach oben. Es klang, als hätte er hinter dem Satz noch drei Fragezeichen gemacht.
Hermine zwinkerte ein paar Mal. „Warte! Es ist unmöglich, eine schärfere Linie zu ziehen zwischen den Fällen des gesetzlichen Unrechts und den trotz unrichtigen Inhalts dennoch geltenden Gesetzen; eine andere Grenzziehung aber kann mit aller Schärfe vorgenommen werden: wo Gerechtigkeit nicht einmal erstrebt wird, wo die Gleichheit, die den Kern der Gerechtigkeit ausmacht, bei der Setzung positiven Rechts bewußt verleugnet wurde, da ist das Gesetz nicht etwa nur ‚unrichtiges' Recht, vielmehr entbehrt es überhaupt der Rechtsnatur. Denn man kann Recht, auch positives Recht, gar nicht anders definieren als eine Ordnung und Satzung, die ihrem Sinne nach bestimmt ist, der Gerechtigkeit zu dienen."
„Interessant, danke, dass ihr euch die Mühe gemacht habt, das zu recherchieren." Gawain lehnte sich vor über den Tisch. „Es heißt also: Wenn ein Gesetz erlassen wurde, ohne die Absicht zu verfolgen, Gerechtigkeit – oder mehr Gerechtigkeit – herzustellen, dann ist es per Definition kein Recht."
„Genau, dann gibt es auch keine moralische Pflicht der Menschen, dieses Gesetz zu befolgen. Andererseits können sich Täter wie Umbridge nicht auf die Geltung dieses Gesetzes berufen", erklärte Hermine.
„Aber man muss doch als Individuum nicht prüfen, aus welchem Grund ein Gesetz erlassen wurde ...", warf Arthur ein.
„Kann man dann trotzdem verurteilt werden?", hakte auch Harry nach. „Wenn ich etwas machen und denke, das ist vom Gesetz gedeckt und dann ist dieses Gesetz eigentlich ein solches, das per Definition kein Recht ist?"
Was ist dann, Hermine?
Sie zog eine Grimasse. „Nun ja, wir reden ja schon von offensichtlichen Fällen. Die Unerträglichkeitsformel und die Verleugnungsformel Radbruchs stellen auf Situation ab, wo sich der Verstoß gegen Menschenrechte und Gerechtigkeit aufdrängt. Mit einer Argumentation wie ‚Das konnte ich doch nicht wissen' wird man es da schwer haben. Die Gesetze zur Registrierung von Muggelstämmigen und die Bezichtigungen, dass die Muggelstämmigen ihre Magie gestohlen hätten, basieren ja auf einer gefälschten Studie der Mysteriumsabteilung. Da müsste man sich nun fragen, wie offensichtlich gefälscht diese war. Waren die gefundenen Abhängigkeiten wirklich glaubhaft?"
Harry sah sich um. Alle hatten die Backen aufgeblasen wie Hamster, die gerade in der Vorratskammer geschlichen waren. „Wenn man das bejahen würde? – Also dass die Studie zwar Quatsch, doch halbwegs nachvollziehbarer Quatsch gewesen ist?"
Langsam wurde Hermine verärgert. „Es gibt immer noch einen Verbotsirrtum, nachdem solche Person, die sich über die Strafbarkeit einer Handlung geirrt haben, ohne Unrecht handelten – § 17 MStGB. Wenn sie aber von der Unrichtigkeit wussten, können sie sich auf keinen Irrtum und auch nicht auf das Gesetz berufen. Letztendlich ist es dem Gericht auch möglich, die Gesamtheit dieser Normen als Unrecht auszuhebeln."
„Okay, okay – … ich habe es verstanden", beeilte er sich zu sagen. „Nun weiß ich, wie eine solche Argumentation aussehen kann."
Gawain lächelte. „Wir wissen nun, dass ein Rückzug auf das geschriebene Recht bei solchen Untaten nicht einfach sein wird für die Todesser."
Das war viel wert.
Arthur faltete die Hände zusammen wie zu einem Gebet und begann zu erzählen: „Ich habe es ja gesagt: Die Muggel – wir alle sollten viel öfters mal einen Seitenblick wagen. Der Aufsatz, aus dem Hermine vorgelesen hatte, stammt aus dem Jahr 1946. Das ist schon so lange her und wir haben es immer noch nicht geschafft, uns diese klugen Gedanken anzueignen."
„Hm", brummte Harry plötzlich. Seine Sichtfeld verengte sich und er blendete alle anderen aus. Fokussiert auf Hermine fragte er: „Also haben sich die Gerichte nach dem Unrecht des Nationalsozialismus damit auseinandergesetzt."
Ein roter Schleier legte sich auf ihre Wangen und ihre Mundwinkel zuckten. „Radbruch hat es auf jeden Fall mit Blick auf den Nationalsozialismus geschrieben, ja, aber ..." Ihre Stimme versagte.
„Aber was?"
„Äh … – Es wurde auch von den Gerichten angewandt und in Rechtsgrundsätze und Urteile gegossen, so ist das nicht."
„Und warum verhältst du dich so komisch?", bohrte er nach. „Da ist doch noch was."
„Es wurde nur viel später gemacht. Vor ein paar Jahren erst, 1992 bis 1995 gab es da ein paar interessante Urteile, die diese Gedanken auffassten, die sich aber nicht mit dem nationalsozialistischen Staat auseinandersetzten, sondern mit der Deutschen Demokratischen Republik – mit dem Schusswaffengebrauch an der deutsch-deutschen Grenze und der Rechtsbeugung der DDR-Richter."
Gawain brummte. „Mal sehen, für welchen Weg sich der Zaubergamot entscheiden wird."
Das Gespräch plätscherte vor sich hin und man hatte sich bald andere, unverfänglichere Themen gesucht. Mehr und mehr jedoch schwebte Hermine von dannen. Ihre Beteiligung wurde immer fader, die Gedanken, die sie hegte, schienen fern und sie zu fesseln. Harry bemerkte es, doch er nötigte sie nicht, in die Realität zurückzukehren. Wenn sie ein Problem hatte, dann würde sie sich Luft verschaffen, so viel war sicher.
„Wenn der Gamot die Gesetze gegen die Muggelstämmigen als Unrecht … – oder als Nicht-Recht aushebelt, nach welchem Recht wird dann entschieden?", fragte sie schließlich. „Was bleibt dann? Ist es nicht irgendwie eine Lücke, die man hineinreißt?"
Gawain legte seine Karten ab und räusperte sich. Er war wieder in seinem Element. „Es gibt ja noch das Naturrecht."
„Naturrecht?", wiederholte Harry.
„Überpositives Recht, also objektiv geltende Rechte, die unveränderlich, überall und jederzeit für jeden bestehen. So etwas wie eine ewige Ordnung, die auf der Natur des Menschen und der Welt beruht. Es kommt der Idee der Menschenrechte und des Völkerrechts nah, auch wenn es nicht unbedingt gleichzusetzen ist. Manche haben versucht, das Naturrecht von einem Gott abzuleiten, andere aus den Gesetzen der Natur. Das war beides aber nur mäßig erfolgreich. Die Verständlichkeit des religiösen Ansatzes endet, sobald man nicht an ein tranzsendentes Wesen glaubt und es ist ebenso schwierig aus der faktischen Beschaffenheit der Welt auf moralische Aussagen zu schließen. Wahrscheinlich würde dann nur das Recht des Stärkeren gelten."
„Gibt es keinen besseren Ansatz?", bohrte Hermine nach. „Was ist mit der Aufklärung? Der Vernunft?"
Er lächelte und legte den Kopf beiseite. „Ein kluger Gedanke, aber ebenso schwierig. Moralische Gesetze sind auch nicht rational zu erschließen, es handelt sich ja nicht um Mathematik. Weil es keine anständige Antwort gibt, daher ist der Rechtspositivismus erstarkt."
Hermine nickte. „Stimmt – der Rechtspositivismus, der nur als geltendes Recht, das geschriebene ansieht. Radbruch ist es gerade, der mit seiner Formel eine Brücke zwischen diesen beiden Gegensätzen schlägt, indem er den Vorrang den positiven Gesetzen gibt, aber eine – oder zwei – Ausnahmen eingesteht."
„Aber wenn das Naturrecht genauso schwammig ist wie der Fall des ungerechten, positiven Rechts ...", stammelte Harry. „Das stellt doch keine Verbesserung dar..."
Hermine zuckte mit den Achseln. „Das Naturrecht wurde doch auch bereits niedergeschrieben. Man hat sich doch schriftlich zu den Menschenrechten bekannt, beispielsweise. Es ist also kein so starkes Gegensatzpaar, wie es auf den ersten Blick scheint."
Sie legte einen Kreuzbuben und stach. Dann zählten sie die Punkte.
„Ich hab gegen euch gewonnen", sagte sie zu Harry und Arthur, die diese Runde gemeinsam gegen sie gespielt hatten. „Das macht 65 Punkte für mich." Sie notierte die Zahlen und sammelte die Karten zum Mischen ein. Die nächste Runde Skat würde sie austeilen, während Gawain ihren Platz einnahm.
Ein paar Monate später verurteilte der Gamot Dolores Umbridge zu einer langen Haftstrafe in Askaban. Die Anstrengungen hatten sich gelohnt. Es war wenigstens ein – doch recht wertvoller – Trostpreis.
- Gustav Radbruch: Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, SJZ 1946, 105 (107).
