Alles schmerzte, als sie zu sich kam. Sie fühlte sich orientierungslos und verloren. Erst als sie blinzelnd die Augen öffnete erkannte sie wo sie war und sie erinnerte sich an die vorangegangene Nacht und ihre Flucht. Sie war barfuß über den Waldboden gerannt. Ihre Füße waren blutig und wund. Jeder Millimeter ihrer Haut schmerzte. Dann war sie irgendwann vom Weg abgekommen und im Unterholz einen Abhang hinuntergestürzt. Am meisten hatten von diesem Sturz ihre Arme abbekommen, die noch immer vor ihrem Körper fest zusammengeknotet waren. Übersät mit kleinen und großen Schnitten, Schrammen und Schürfwunden, fielen die Wunden, blutigen Einschnitte vom Seil schon nicht mehr auf. Dreck und Schmutz bedeckten ihre Haut und ihre Kleidung, die mehrere Risse hatte. Diese Risse hatte sie sich größtenteils an der Mauer zugezogen, doch ein paar mussten auch von dem Sturz stammen. Die Schnitte von der Steinmauer an ihren Beinen waren oberflächlich und schmerzten kaum. Sophie setzte sich auf, dabei konnte sie schmerzerfülltes seufzen nicht unterdrücken. Es war Tag, vom Stand der Sonne, die nur schwer durch die Bäume zu sehen war, schätzte sie auf späten Morgen. Sie war erstaunt, dass sie es tatsächlich geschafft hatte, den Männern zu entkommen. Den Abhang, den sie die Nacht zuvor heruntergestürzt war sah sie nun hinauf. Er war steil, mit Steinen und ästen gespickt. Vorsichtig versuchte sie aufzustehen, wobei ihre Füße sich weigerten ihr zu gehorchen. Schmerz durchzuckte diese, zog in ihre Beine und sie sank wieder zu Boden. Ein seufzen entfuhr ihr. Unbedingt musste sie in Bewegung bleiben, da sie sicher war, dass noch immer nach ihr gesucht wurde. Beim zweiten versuch biss sie die Zähne zusammen und stand zitternd vor Schmerz, wackelig auf. Bedacht setzte sie nun einen Fuß vor den anderen, wobei jeder Schritt schmerzte, als würde sie auf einem Meer aus Glasscherben laufen. Ihr Magen knurrte und sie hatte unglaublichen Durst. Sophie hatte keine Ahnung in welche Richtung sie lief. Aber alles war besser, als auf dem Waldboden darauf zu warten, dass sie von ihren Entführern gefunden wurde. Noch immer war sich sich nicht sicher, wer hinter ihr her war. Sie kannte das Anwesen und sie hatten sie in die gleiche Zelle eingesperrt, in der sie schon das letzte Mal mit Nate eingesperrt war, doch saß Morrad hinter Gittern. Sie hatte Nate geholfen ihn dorthin zu befördern. Der Gedanke an einen möglichen Ausbruch ließ sie erschaudern. Während sie unsicher durch das Unterholz ging verging wieder einige Zeit, doch Sophie konnte nicht schätzen wie viel. Plötzlich hörte sie Stimmen. Die Meute, die nach ihr suchte kam näher. Instinktiv bewegte Sophie sich weg von den Stimmen und tiefer ins Unterholz, das nun noch dichter und unebener wurde. Als sie auf einen spitzeren Stein trat, versetzte es ihr so einen Schmerz, dass ihr Bein nachgab und sie stürzte. Unbeholfen versuchte sie den Sturz mit den Armen abzufangen und konnte den Fall so ein wenig dämpfen. Hinter ihr wurden die Stimmen nun lauter und panisch versuchte Sophie wieder aufzustehen. Jeder Schritt schmerzte und an schnelles Gehen war nicht mehr zu denken. „Ich habe hier was gefunden", rief nun einer der Männer und sie wusste, dass sie sie jeden Moment entdecken würden. Mit jedem Schritt hinterließ sie blutige Spuren, was wahrscheinlich auch das war, was er entdeckt hatte. Auf ihrem Weg durch das Unterholz hielt sie Ausschau nach etwas, wo sie sich vielleicht verstecken konnte. Doch all ihre Hoffnung schwand dahin, als sie eine Stimme hinter sich hörte: „Kein Schritt weiter." Einer der Männer hatte sie entdeckt und stand nun direkt hinter ihr. Wie konnte sie ihn nicht kommen hören? Er drückte ihr etwas hartes in den Rücken, was sich anfühlte wie ein Gewehrlauf und sie tat wie ihr geheißen. Er rief seine Kollegen und in wenigen Sekunden war sie umzingelt. Zwei, in Tarnuniform gekleidete, Männer packten sie an den Armen und führten sie nun mit sich. „Wer ist euer Auftraggeber?", fragte Sophie, nachdem sie allen Mut zusammen genommen hatte. Die Umstehenden sahen sich gegenseitig an und lachten. Keiner Antwortete, stattdessen erhöhten sie ihr Tempo. Es fiel Sophie schwer mitzuhalten. Ihre Beine erlaubten ihr kein schnelles gehen, so wurde sie von den Männern mitgezogen und stolperte immer wieder, zum Ärger ihrer Entführer. Auch wenn sie sich nach Außen hin nichts anmerken ließ, war sie innerlich panisch und der Gedanke, dass es tatsächlich Morrad war, der sie hat entführen lassen setzte sich in ihrem Kopf fest, als hätte sie ihm bereits gegenüber gestanden. Sophie betete, das Nate und das Team schon auf dem Weg waren. Sie hatte durch ihre Flucht etwas Zeit gewinnen können, doch wenn Morrad sie in der Villa erwartete, dann würde sie nicht mehr lange leben.
Nach einer Weil kamen sie zurück zur Villa und Sophie erkannte, dass sie gar nicht soweit in den Wald geflohen war, wie sie zuerst dachte. Wahrscheinlich war sie einfach dadurch schwerer zu finden gewesen, weil sie den Abhang herunter gestürzt war. Sie wurde durch die Hintertür, durch die Küche in den ersten Stock geführt, wo einer der Männer die Tür zur Bibliothek öffnete. Die Bibliothek war dunkel und mit großen Regalen ausgestattet, die alle nur zur Hälfte gefüllt waren. In der Mitte der Raumes standen zwei Sessel mit einem Beistelltisch dazwischen auf dem ein Stapel Bücher lag. Auf dem rechten Sessel saß Jason Morrad. Sophie blieb kurz geschockt stehen, wurde aber weitergezogen. Er hatte sich nicht viel seit dem letzten Mal verändert. Seine Haare hatten ein mattes Grau angenommen und er hatte nun eine Narbe über der linken Wange, was ihn noch bedrohlicher wirken ließ, als bisher schon. Als sie nun näher traten musterte er sie von oben bis unten und begann laut zu lachen. Sie kamen vor ihm zu stehen und die Männer ließen sie los. Ohne den festen Griff und den damit einhergehenden Halt verlor sie fast den Stand, da ihre Beine nicht darauf vorbereitet waren ihr Gewicht wieder eigenständig zu tragen. Morrad erhob sich aus seinem Sessel und ging um sie herum, wobei er sie amüsiert betrachtete. „Nun, da hast du uns ja ganz schön in Atem gehalten diese Nacht, Sophie", sagte er schließlich und sprach dabei sehr leise. „Es ist doch noch Sophie, oder?", fragte er, wobei sich seine rechte Augenbraue hob. „Schließlich wechselst du deine Namen, wie andere Frauen ihre Kleider. Aber genau das sind Namen für dich, habe ich recht? Nur Kleider, die du anlegen kannst, um damit die Menschen in die Irre zu führen." Er kam nun wieder vor ihr zu stehen. „Weißt du, ich hatte mir die ganzen Jahre überlegt, was ich dir antun kann um dir alles heimzuzahlen. Doch, wenn ich dich jetzt so ansehe", begann er und sein Gesicht verzog sich wieder zu einem hämischen Lachen. „Dann hast du dir selbst schon mehr angetan, als ich es mir hätte ausmalen können." Ein Lachen entfuhr ihm und Sophie war sich sicher, dass zu seiner bedrohlichen und sadistischen Art im Gefängnis nun ein Funken Wahnsinn dazugekommen war. „Was willst du dann noch von mir?", fragte Sophie, nicht ganz so sicher, wie sie es beabsichtigt hatte.
„Ich will das du bezahlst", fauchte Morrad. „Ich will das du leidest und dir wünschst niemals auch nur in meine Nähe gekommen zu sein." Noch ehe Sophie reagieren konnte griff er ihr ins Haare und zog ihren Kopf so nach hinten. Vor Schmerz schloss sie die Augen. „Fassen wir doch noch einmal zusammen: Du hast mich betrogen, indem du dich als Kuratorin ausgegeben hast; hast vier meiner Bilder auf einer Ausstellung verkauft, das Geld und die Bilder für dich behalten; meinen guten Ruf beschmutzt, indem du mich als Kunstdieb bloßgestellt hast und schließlich hast du einen Handel mit einem meiner ältesten Geschäftspartner sabotiert und ihn gegen mich aufgebracht. Er dachte tatsächlich ich hätte das geplant, um ihn als Konkurrent loszuwerden." Bei jedem ihrer Vergehen hatte er den Griff ihn ihrem Haar gefestigt. Schließlich jedoch ließ er locker und nahm seine Hand zurück. Erleichtert atmete Sophie auf und merkte erst jetzt, dass sie ihren Atem angehalten hatte. „Ich muss dir wirklich gratulieren", erklärte er nun wieder ruhig. „Es ist noch nie jemandem gelungen, meinem Unternehmen so zu schaden, wie dir. Doch frage ich mich, ob du es ohne Nathan Ford auch so weit geschafft hättest." Bei der Erwähnung von Nates Namen biss Sophie die Zähne zusammen. Er sollt ihn bloß raus halten. „Ich habe gehört ihr zwei seid jetzt verlobt. Gern hätte ich eine Karte geschickt, doch war ich mir nicht sicher, ob ich dem armen Mann gratulieren soll oder, Beileid wünschen, da er sich dich ausgesucht hat. Hast du ihm auch etwas vorgespielt, damit er sich in dich verliebt?"
„Sei still", fauchte sie. Doch Morrad lachte nur.
„Oh, ein sensibles Thema", stellte er amüsiert fest. „Dann kann an meiner Behauptung ja nur etwas wahres dran sein, wenn du so reagierst." Plötzlich änderte sich sein Gesicht und es wirkte, als sei ihm etwas eingefallen. „Hast du dich eigentlich je gefragt, wie es passieren konnte, dass ich herausgefunden habe, dass du mich betrogen hast?", fragte er nun.
Sophie stutzte. Sie hatte sich das nie wirklich gefragt, sie ist immer davon ausgegangen, dass sie an einer Stelle ihres Jobs einfach schlecht geschauspielert hatte. Oder dass er per Ausschlussverfahren entschieden hatte, dass nur seine Kuratorin ihn hintergangen haben konnte. Dennoch, jetzt wo er gezielt danach fragte, wunderte sie sich schon wie er auf den Namen Sophie Devereaux gestoßen war. Ihr Entführer lachte überschwänglich, als hätte er gerade ein Spiel gewonnen. „Oh, das ist gut!", rief er aus und klatschte dabei übereifrig in die Hände. „Er hat es dir nie erzählt?"
Sie nahm an, dass er über Nate sprach. „Was erzählt?", hakte sie nach.
Ihr Gegenüber kam nun nah an sie heran, sodass er ihr die Antwort zuflüstern konnte. „Nathan Ford, hat mir verraten wer du bist", hauchte er. Es traf Sophie wie einen Schlag. Nate hatte ihre Tarnung damals aufgedeckt? Kurz zweifelte sie daran, dass ihr Entführer die Wahrheit sprach und das nur gesagt hatte, um ihr weh zu tun. Doch etwas sagte ihr, dass es wahr sein könnte. Doch wieso hatte Nate es ihr nie gesagt?
„Ist es nicht ein beruhigendes Gefühl, dass er dich auch angelogen hat?", fragte Morrad belustigt.
Sophie schüttelte den Kopf. Es war egal, was vor zehn Jahren war tat nichts mehr zur Sache. „Sagst du dir jetzt, dass es egal ist? Das es Vergangenheit ist?", fragte Morrad und stach ihr mit seinem Finger interessiert in den Bauch, wie ein Kind, das etwas neues entdeckte. „Nur das Schöne ist, du wirst diesen Gedanken nie wieder aus deinem Kopf bekommen. Wenn ich dich umbringe wirst du sterben und nicht wissen, ob nur irgendetwas, das ihr beide hattet echt wahr. Jetzt ist es nur ein kleiner Gedanke, doch er wird wachsen." Sophie verkrampfte sich der Magen. Er hatte also immer noch vor sie zu töten. „Ach komm", rief Morrad nun aus. „Willst du nicht um dein Leben flehen? Mich anflehen, es nicht zu tun?"
Sophie schüttelte den Kopf. „Das hab ich das letzte Mal getan und diesen Sieg gönne ich dir kein zweites Mal", antwortete sie.
„Du bist tougher als vor zehn Jahren", gab Morrad zu. „Diese Flucht wäre dir damals nicht gelungen. Wirklich, du hast meinen tiefen Respekt. Dennoch wird deine Reise heute Nacht zu ende sein."
„Heute Nacht?", fragte Sophie. Überrascht, dass er ihr noch ein paar Stunden Aufschub gewährte.
„Heute ist eine Ausstellung, die ich um keinen Preis verpassen möchte", erklärte er. „Die Sommerbrise wird ausgestellt." Natürlich, dachte Sophie. Er hatte sich in dieses Bild verliebt, von der ersten Sekunde, wo er es entdeckt hatte. Natürlich würde er es nun wieder stehlen wollen.
„Solange kannst du dich in deiner Zelle aufwärmen", meinte Morrad sarkastisch und drehte sie an ihren Armen herum, sodass sie in Richtung der Tür sah. Er versetzte ihr einen kleinen Schubs, der sie einen Schritt nach vorn machen ließ. Nun spürte sie seine Hand auf ihrem Rücken, mit der er sie vor sich hinschob. Immer wieder lachte er über ihre unbeholfenen Schritte, wenn ihre Beine unter dem Schmerz, der von ihren wunden Füßen ausging kurz nachgaben. So führte er sie zurück in das Kellergewölbe und in ihre Zelle. Erst jetzt sah sie, dass von Außen ein Riegel angebaut war. Sie war sich nicht sicher, ob der schon dort war, als sie geflohen war. Aber sie wunderte sich, falls er bei ihrer Fluch schon da gewesen war, wieso hatten ihre Entführer ihn dann nicht davor geschoben. Hatte Morrad sehen wollen ob ihr tatsächlich eine Flucht gelingt?
Morrad versetzte ihr einen harten Stoß, als sie vor ihrer Zelle angekommen waren und sie verlor endgültig das Gleichgewicht und fiel auf den Boden. Den Sturz fing sie mit ihren Händen ab. Sie sah sich zu Morrad um, der finster lächelnd im Türrahmen stand. „Wir sehen uns heute Nacht", verabschiedete er sich und schloss die Tür. Sophie hörte, wie er abschloss und nun den Riegel betätigte. Sie seufzte erschöpft. Eine Flucht war nun unmöglich. Müde setzte sie sich auf und rutschte in die Ecke der schmalen Zelle, soweit weg von der Tür wie sie nur konnte. Im Raum herrschte eine unangenehm drückende Hitze, die Sophie direkt zu Kopf stieg. Ihr Magen knurrte und ihr trockener Mund und Hals fühlten sich unerträglich an. Vieles ging ihr durch den Kopf. Was war im Gefängnis geschehen, dass Morrad sich so verändert hatte. Er hatte schon immer bedrohlich gewirkt, doch hatte er nun zusätzlich etwas wahnsinniges an sich, dass ihr einen Schauer über den Rücken jagte. Sie hoffte nur Nate und die anderen waren auf dem Weg und würden sie nach Hause holen, bevor er ihr etwas antun konnte. Nate ging ihr durch den Kopf. Wieso hatte er ihr nie gesagt, dass Morrad durch ihn über sie Bescheid wusste? Oder hatte Morrad doch gelogen und sie tat ihrem Verlobten unrecht? Hatte Morrad recht und Sophie hatte Nate mit ihren Tricks dazu gebracht sich in sie zu verlieben? War sie wirklich so ein furchtbarer Mensch, für den Namen nur Masken waren, mit denen sie die Leute täuschen konnte?
Sophie schüttelte den Kopf und eine Träne bildete sich in ihrem Auge. Jason Morrad hatte es in ihren Kopf geschafft und brachte sie nun dazu ihr Leben und sich selbst zu hinterfragen. Sie wollte das nicht. Er sollte aus ihrem Kopf verschwinden und sie in Ruhe lassen, doch die Zweifel und Fragen hörten nicht auf. Sie wurden lauter und sie fragte sich ob irgendetwas in ihrem Leben je echt gewesen war. Durch ruhiges atmen versuchte sie sich zu beruhigen, doch es gelang ihr nicht. Alles stürzte nun auf einmal auf sie ein und sie fürchtete in ihren Gefühlen zu ertrinken.
