Frust versus Vernunft

Left of Center – Suzanne Vega

Zurück in der Villa rechnete ich mit dem Schlimmsten. Am liebsten hätte ich den Hintereingang genommen, wenn ich wüsste, ob es überhaupt einen gab und wo er sich befand. Nein, ich war nicht feige und würde durchs Foyer in mein Zimmer gehen. Damon war bestimmt stocksauer, aber darauf war ich vorbereitet. Auf der Rückfahrt hatte mein Telefon nicht mehr geklingelt, scheinbar hatte er aufgegeben. Ich holte tief Luft, öffnete die Tür und trat in mein Verderben. Doch das Foyer war leer. Im Kamin brannte Feuer und das Kristallglas stand noch immer dort, wo Damon es abgestellt hatte. Von ihm fehlte jede Spur. Ich atmete erleichtert auf.

„Damon? Bist du das?", hörte ich Stefans Stimme aus dem oberen Stockwerk. Er war schon zuhause? Ich hatte angenommen, er würde die Nacht bei Elena verbringen.

„Nein, ich bin's!", schrie ich und beeilte mich, in mein Zimmer zu kommen, bevor Damon doch noch auftauchte.

Auf der Treppe kam mir Stefan entgegen. Er trug ein weißes Unterhemd über seiner Jeans und war wohl gerade dabei gewesen, ins Bett zu gehen. Ich versuchte, mich an ihm vorbei zu zwängen, aber er griff meinen Ellenbogen und hielt mich fest. „Sienna, wo bist du gewesen? Als ich nach Hause gekommen bin, war niemand hier. Damon ist völlig ausgeflippt, weil er dich nicht erreicht hat," sagte er und sah mich vorwurfsvoll an.

Und plötzlich brachen der angestaute Frust und die Anspannung der letzten Stunden aus mir heraus. „Genau deshalb wollte ich hier nicht einziehen!", fuhr ich ihn an, riss mich los und marschierte den Gang entlang zu meinem Zimmer. „Ich bin alt genug, um auf mich selbst aufzupassen. Ich brauche keinen Babysitter, schon gar keinen, der ein Vampir ist!"

Stefan folgte mir. Im Türrahmen blieb er stehen. „Das weiß ich, aber die Stadt ist nicht mehr sicher, seit diese ganzen Vampire aus der Gruft hier sind. Wir haben uns Sorgen gemacht." Er beobachtete mich, wie ich meinen Koffer unter dem Bett hervorzog, ihn aufs Bett warf und anfing, meine Kleider hineinzuwerfen. „Was hast du vor?", wollte er wissen und kam einen Schritt näher.

„Ich ziehe wieder ins Motel, da muss ich mich wenigstens nicht ständig rechtfertigen!" Ich riss die Schublade mit meiner Unterwäsche auf und warf sie ebenfalls in den Koffer.

„Hey, jetzt warte doch mal. Lass uns in Ruhe darüber reden. Sag mir doch erst mal, was passiert ist..." Er versuchte, mich wieder am Arm zu greifen, aber ich entwischte ihm.

„Das alles hier ist Zeitverschwendung!", rief ich aufgebracht. „Ich bin hierher gekommen, um meinen Vater zu finden, und was habe ich bisher erreicht? Nichts! Ich bin genauso weit wie vor drei Wochen. Stattdessen schlage ich mich mit Gruftvampiren herum und helfe Damon, seine verflossene Liebe wiederzufinden!" Ich knallte den Koffer zu.

„Hast du mal daran gedacht, dass beides zusammenhängen könnte? Was, wenn dein Vater wegen diesen Vampiren hier war?", wandte Stefan ruhig ein.

„Ich habe keine Verbindung gefunden. Ich habe überhaupt nichts gefunden. Außer diesem Eintrag in seinem Notizbuch habe ich gar nichts. Vielleicht war er nie hier. Vielleicht hat dieser Eintrag überhaupt nichts zu bedeuten. Vielleicht hat er mich einfach verlassen!" Ich zerrte den Koffer vom Bett und schleifte ihn zur Tür. Stefan stellte sich mir erneut in den Weg. Er war so ruhig und gefasst, dass ich erst recht wütend wurde. „Lass mich vorbei, Stefan!", fauchte ich.

„Er ist dein Vater, Sienna. Warum sollte er dich verlassen?"

„Weil ich ihn enttäuscht habe!", schrie ich ihm ins Gesicht, bevor ich ihn grob zur Seite stieß. Ich packte den Koffer fester und stürmte aus dem Zimmer. Stefan gab nicht auf. Wahrscheinlich hatte er reichlich Erfahrung mit hysterischen Frauen im Laufe der Jahrhunderte gesammelt.

„Sienna, warte! Wovon redest du?"

Ich stellte den Koffer ab und fuhr so heftig herum, dass mir die Haare ins Gesicht fielen. „Ich habe ihm vertraut. Ich habe ihn geliebt. Ich hätte alles für ihn getan. Und er hat mich betrogen und hintergangen." Ich spürte, wie meine Augen feucht wurden.

„Wer?" Stefan sah mich verwirrt an.

„Luca!" Hektisch wischte ich mir eine Träne von der Wange. Nein, ich würde jetzt nicht weinen. Er hatte meine Tränen nicht verdient. Ich hob den Koffer auf, rannte die Treppe hinunter. Ich musste hier raus!

„Wer zum Teufel ist Luca?", rief mir Stefan hinterher. Es dauerte nur eine Sekunde, bis ich seine Schritte hinter mir hörte. Und dann stand er wieder vor mir. Wir starrten uns an, keiner bereit, nachzugeben.

Hinter uns fiel die Haustür krachend ins Schloss. „Sienna! Bei Gott, ich schwöre, wenn du mir nicht sofort eine gute Erklärung lieferst, was du dort zu suchen hattest, dann-" brüllte Damon durch das ganze Haus, bevor er um die Ecke bog und Stefan und mich im Foyer entdeckte, wie wir uns wie zwei Boxer im Ring gegenüberstanden. Sein Blick flog von mir zu Stefan, zu dem Koffer in meiner Hand und wieder zu mir. „Was ist hier los?", verlangte er.

„Sienna will wieder ins Motel ziehen, weil wir sie angeblich bevormunden," erklärte ihm Stefan, ohne mich aus den Augen zu lassen.

„Was?!" Er verschränkte die Arme vor der Brust und sah mich mit glühenden Augen an.

„Ich bin erwachsen, ich bin keine siebzehnjährige High-School-Schülerin, auch wenn ich so tue, als wäre ich eine. Ich habe sechs Monate alleine in Venedig gelebt, nachdem mein Vater verschwunden ist, und - Überraschung! - ich lebe noch!"

„Damon, warum lässt du sie nicht ihre eigenen Entscheidungen treffen?", fragte Stefan und seufzte.

„Weil sie in das verdammte Gründerarchiv eingebrochen ist!" Damon breitete die Arme aus. „Und hat sich erwischen lassen! Ich musste Liz förmlich in meinem Charme ertränken, damit sie der Sache nicht nachgeht! Jedes Mal, wenn sie eine eigene Entscheidung trifft, dann geht es schief! Genau deshalb, Stefan!"

„Leckt mich! Alle beide!", zischte ich. Zornig ließ ich den Koffer fallen und verpasste Stefan mit beiden Händen einen kräftigen Stoß. Er wich tatsächlich einen Schritt zurück. Es war genug, damit ich mich an ihm vorbeiquetschen konnte. Ohne Koffer stürmte ich zur Tür.

„Leckt mich? Echt jetzt?" Damons Augenbrauen verschwanden in seinem Haaransatz. „Etwas besseres fällt dir nicht ein?"

Ich hatte meine Hand bereits auf dem Türgriff, als er mich von hinten packte, herumwirbelte und mich gegen die nächste Wand stieß. Er umklammerte meine Handgelenke, klemmte mich zwischen der Wand und seinem Körper ein. Da waren wir also wieder, genau wie in der Schule. Eine Sekunde lang lähmte mich das Deja-vu Gefühl, dann fing ich an, mich zu wehren. „Und? Was willst du jetzt tun? Mich beißen? Oder mich wieder küssen?" Mir war klar, dass ich ihn provozierte und dass es eine wirklich dumme Idee war, einen Vampir zu provozieren, aber an irgendwem musste ich meinen Frust auslassen und er war gerade der Einzige, der zur Verfügung stand. Und ich wollte den riesigen rosa Elefanten, der mit uns im Raum stand, nicht länger ignorieren. Ich würde diese Sache zwischen uns - was auch immer es war - endgültig aus dem Weg schaffen. Er war mir so nah, dass ich spüren konnte, wie schnell sein Herz schlug. Ich hob den Kopf und sah ihm ins Gesicht. Seine Pupillen explodierten, die Adern unter seinen Augen traten hervor und seine Fangzähne erschienen.

„Damon, lass sie los," sagte Stefan mit warnender Stimme.

„Na los, tu es. Bringen wir es hinter uns," flüsterte ich.

Er gab ein tiefes Knurren von sich, senkte den Kopf und atmete tief ein. Ich konnte spüren, wie seine Reißzähne über meine Haut strichen.

„Damon!" Stefan klang nun ernsthaft alarmiert. Scheinbar kannte er den Punkt, an dem sein Bruder die Kontrolle verlor. Und wir waren kurz davor.

„Oder wir könnten diesen Teil überspringen und gleich nach oben gehen," sagte Damon dicht an meinem Ohr. Sein Atem jagte mir einen Schauer über den Rücken. „Deines oder meines?"

Ich stellte mir das breite Bett in Damons Zimmer vor und obwohl ich versuchte, den Gedanken auszuradieren, bevor er überhaupt erst entstehen konnte, sah ich mich selbst mit Damon im Bett. Wäre er ein langsamer und sanfter Liebhaber oder einer dieser Kerle, die alles schnell und wild wollten? Ich hasste mich dafür, es zugeben zu müssen, aber an diesem Punkt war es mir egal. Schnell und wild klang gut. Genau wie langsam und sanft. Oder wie alles dazwischen. An diesem Punkt war ich bereit, alles einzutauschen, was ich besaß, für die Chance herauszufinden, was in dem Schlafzimmer am Ende des Ganges passieren könnte: mein Vermächtnis; den Palazzo meiner Familie; mein Auto. Wenn ich auch nur eine klitzekleine Chance bekäme, hätte ich es womöglich getan. Wenn ich mich nicht an Lucas Verrat erinnert hätte.

Obwohl die Erinnerung voller Enttäuschung steckte, war das Gefühl, das mir den Magen umdrehte und das Feuer der Leidenschaft, das mein Blut zum Kochen brachte, abkühlte, nicht direkt Bedauern. Es erinnerte mich eher daran, nach einer Nacht auf der Jagd mit einem trockenen Mund, Kopfschmerzen und roten Augen aufzuwachen. Nicht direkt Reue. Eher wie die Erkenntnis, wie unglaublich dumm ich sein konnte.

Weil ich wusste, von all den Dingen, die ich für eine Stunde in Damons Bett eintauschen würde, es nicht meine Ehre sein würde. Keine Fantasien und keine Täuschungen. Es wurde Zeit, meinen Worten Taten folgen zu lassen. Oder besser gesagt, meinen guten Absichten die Taten, die ich schon längst hätte tun sollen. Mit beiden Händen gab ich Damons Brust einen unverbindlichen Klaps, wie ich ihn einem süßen, aber ungezogenen Hund geben würde. „Danke, aber nein danke."

„Was?" Das verführerische Funkeln in Damons Augen verwandelte sich in einen ungläubigen Gesichtsausdruck. „Willst du sagen-" Schlagartig waren die Adern und die Reißzähne verschwunden.

„Ich sagte, nein, danke." Während er immer noch zu überrascht war, um zu widersprechen, oder schlimmer noch um zu erkennen, dass eine weitere Berührung seiner Hüften gegen meine, meine Meinung ändern würde, handelte ich. Ich schlüpfte zwischen Damon und der Wand hindurch und eilte zur Tür.

„Du sagst nein?"

Hinter mir schwankte Damons Stimme zwischen Erstaunen und Zweifel. Der Ton war so kläglich, dass ich stehen bleiben und mich umdrehen musste.

„Ist dir wohl noch nie passiert, oder?" Ich tippte mir an den Kopf und verschränkte die Arme vor der Brust, während ich Damon und den Augenblick überdachte und mich fragte, nachdem die Hitze des Gefechts aus meinen Venen verschwunden war, was wohl lächerlicher war. Ich schüttelte den Gedanken ab. „Wenigstens wirst du mich immer als deine Erste in Erinnerung behalten."

In typisch männlicher Manier beschloss Damon, sich zu verteidigen, selbst wenn er sich nicht sicher schien, wofür er sich verteidigte. „Du bist nicht die Erste," sagte er, aber sobald er erkannte, dass er sein Ego und seinen Ruf in Zweifel zog, versuchte er, zurückzurudern. „Ich meine, du bist die Erste, die nein sagt, das schon, aber du bist nicht-"

„Ich verstehe." Es war ein derart armseliger Versuch, sein altes Bild als Draufgänger aufrecht zu erhalten, dass ich nicht anders konnte, als ihn zu bemitleiden. „Schließen wir einen Kompromiss. Wir sagen einfach, ich bin die erste Frau, die du versucht hast, zu verführen, ohne sie vorher zu manipulieren, die nein gesagt hat. Wie klingt das? Gut genug, um dein altes Ego zu besänftigen?"

„Nein. Ja." Damon schüttelte den Kopf, als würde er seine Gedanken sortieren. „Zu deiner Information," sagte er. „Ich habe noch nie versucht, eine Frau zu manipulieren, bevor ich sie verführt habe. Für wie geschmacklos hältst du mich?"

Ich war versucht, nicht zu antworten. Ich war versucht, ihm einen Blick zuzuwerfen, der ihm zu verstehen gab, dass er besser auf seine eigenen Fragen achtete. Ich war nicht in der Stimmung, ihn so leicht davon kommen zu lassen. Abzulehnen, was vielleicht die heißeste Einladung zu einer noch heißeren Nacht mit dem heißesten Kerl in diesem oder jedem anderen Universum sein musste, machte so etwas mit einer Frau.

„Falls du es vergessen haben solltest," erklärte ich. „Du hast gerade versucht, eine Frau zu verführen, ohne sie vorher zu manipulieren. Außer ich zähle nicht als Frau."

„Ja. Nein." Damon fuhr sich mit den Fingern durch die Haare. „Natürlich zählst du, aber-"

„Aber ich bin kein weiterer Name auf der Liste deiner Eroberungen. Vergiss es, Damon. Wie ich bereits gesagt habe, ich bin nicht interessiert. Und wenn ich auch nur ein klein wenig Menschenkenntnis besitze, dann bist du auch nicht interessiert. Nicht wirklich."

Er unterbrach mich nicht, um mir zu widersprechen, und genau das, mehr als alles andere, ließ mich wissen, dass ich die richtige Entscheidung getroffen hatte. Während ich mich an den Gedanken klammerte, drehte ich mich um und lief den Korridor hinunter.

Dieses Mal kam er mir hinterher. „Was meinst du damit, ich war nicht interessiert?", fragte er. „Ich habe es doch bewiesen, oder?"

Ich warf meine Antwort über meine Schulter. „Du bist einfach nur scharf auf mein Blut. Ich hasse es, dir das sagen zu müssen, aber das ist keine große Überraschung. Du kannst unmöglich an mir interessiert sein. Ich bin keine Kellnerin oder eine dieser Südstaatenschönheiten, die sich von einer Uniform beeindrucken lassen. Vielleicht sind diese Frauen nicht besonders wählerisch, wie sie verführt werden, aber ich möchte von mir behaupten, dass ich ein kleines bisschen mehr Klasse habe."

„Hast du kurz daran gedacht, dass vielleicht nicht ich versucht habe, dich zu verführen? Vielleicht hast du versucht, mich zu verführen?"

Ich stieß einen Lacher aus. Am Eingang zum Wohnzimmer blieb ich stehen, drehte mich um und trat ihm gegenüber, meine Fäuste an den Hüften. „Das ist typisch! Wirklich! Ich? Habe versucht, dich zu verführen? Glaubst du wirklich, ich wäre derart in Nöten?"

„Denkst du, ich wäre es?"

Ich verdiente die Retourkutsche und ich wusste es. Ich hatte nur nicht erwartet, dass sie so stechen würde. Ich weigerte mich, dass der Schauer, der mich durchfuhr, meine Unterlippe oder meine Hände zum Zittern brachte. Ich zog meine Schultern zurück und rückte das Kinn vor. „Na schön, gut. Jetzt, wo wir das geklärt haben, wirst du vielleicht lernen, deine Hände und andere Körperteile-" ich warf einen Blick seinen Mund - „Bei dir zu behalten."

„Mit Vergnügen."

„Gut."

„Gut."

„Wunderbar!" Ich stürmte in den Wohnraum. Ich hatte die Kissen mehr als einmal an diesem Nachmittag aufgeschüttelt, aber ich schüttelte sie einmal mehr auf und schlug sicherheitshalber noch auf eines ein, bevor ich es wieder zurückwarf. „Bist du bereit, mir dein Wort zu geben?", fragte ich ihn.

„Was? Dass ich mich von dir fernhalte? Dass ich dich nie wieder anfasse?" Damon lachte. „Das sollte nicht so schwer werden."

„Dann gibst du mir dein Wort?"

„Ja."

„Gut."

„Wunderbar."

„Großartig."

„Wirklich großartig." Damon marschierte einmal durch den Wohnraum. „Wirklich richtig großartig."

„Großartig."

Es war gut, dass in diesem Moment mein Telefon läutete, entschied ich. Denn am Ende bedeutete es, dass ich das letzte Wort hatte.

„Was zur Hölle war das denn?", hörte ich Damon noch sagen, während ich die Treppe hinauf stieg.

„Das, Bruderherz, war dein erster Beziehungsstreit," meinte Stefan belustigt.