Kapitel 28 – Runden des Entsetzens
If you love me, don't let go.
(X Ambassadors - Unsteady)
„Sarah! Christopher!" Ron schluckte schwer. „Was tut ihr denn hier?"
Sarah Granger sah ihren Schwiegersohn verunsichert an, wechselte einen Blick mit ihrem Mann und blinzelte. „Wir sind gerade auf Heimaturlaub und weil Hermine sich nicht mehr gemeldet hat, nachdem sie neulich bei uns war …" Sie hatte Christopher quasi vom Flughafen aus direkt hierher geschleppt, weil sie immer noch keinen einfachen Weg der Kommunikation mit Hermine gefunden hatten. Das Kind brauchte unbedingt ein Handy!
Ron holte gerade Luft, um zu antworten, aber Rose schnitt ihm das Wort ab, als sie aus ihrem Zimmer gestürmt kam. „Granny! Granny!", rief sie laut und Sarah sah ihr strahlend entgegen.
„Hallo, mein Liebling!", sagte sie und ging in die Hocke, um Rose in die Arme schließen zu können. Für einen kleinen Moment dachte sie, Rose wäre bereits geheilt. Sie war so lebhaft, so fröhlich … Aber dann sah sie, wie ihre Augen zuckten und presste die Lippen aufeinander und Rose ganz fest an sich.
„Was machs du hier, Granny?", riss Rose sie aus ihren Gedanken und wand sich aus der Umarmung. „Warum bis' du nich' in Aus… Aus…"
„Aus-tra-li-en", soufflierte Sarah.
„Ausdralinen", wiederholt Rose und runzelte dabei die Stirn. „Warum bis' du nich' in Ausdralinen bei die Gengurus?" Aber noch bevor Sarah darauf antworten konnte, fiel ihr etwas Wichtigeres ein: „Has' du mir was mitdebracht?"
Sie lachte leise und strich mit dem Daumen über ihre weichen Wangen und die roten Locken. Sie fühlten sich genauso an wie Hermines früher. Wie Daunenfedern. „Natürlich hab ich das …", sagte sie und genoss das Strahlen, das sich auf dem runden Kindergesicht ausbreitete.
„Da ihr mit unseren Methoden nicht so leicht zu erreichen seid", fuhr Christopher währenddessen an Ron gewandt fort (und ja, es klang ein leichter Vorwurf in seiner Stimme mit, den sie ihn vorher zu unterlassen gebeten hatte), „dachten wir, wir nutzen die Gelegenheit."
„Ähm …", murmelte Ron.
„Zeig mal, Granny!", sagte Rose in diesem Moment und zog an Sarahs Hand. „Komm mit in mein Simmer und dann …"
Sarah lachte wieder und stützte sich am Türrahmen ab, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. „Langsam, Rose! Dein Daddy muss erst mal verdauen, dass wir plötzlich vor der Tür stehen." Sie warf Ron einen zerknirschten Blick zu. „Wo ist Hermine eigentlich?"
Er schluckte wieder und wurde ein bisschen blasser. Seine Augen zuckten zwischen ihr und Christopher hin und her. „Ähm … kommt erst mal rein."
Eine halbe Stunde später, nachdem Rose ausführlich ihre Taschen durchsucht und ihre neuen Besenmodelle gezeigt hatte, saß Sarah mit ihrem Mann und ihrem Schwiegersohn in der Küche. Rose war auf ihren Schoß geklettert und malte leise singend in dem Malbuch, das sie ihr mitgebracht hatten.
„Also, wo ist Hermine?", fragte dieses Mal Christopher. Er klang weniger vorwurfsvoll als vorhin, dafür aber sehr bestimmt.
„Mummy is' nich' da", sagte Rose prompt und sah mit ernster Miene zu ihrem Großvater auf.
Der rang sich ein Lächeln ab. „Das hab ich gemerkt, Kleines." Dann wanderte sein Blick wieder zu Ron.
Der zog seinen Zauberstab aus der Tasche und sagte: „Muffliato!"
„Was bedeutet das?", fragte Sarah.
„Ich will nicht, dass sie hört, worüber wir reden."
Wieder tauschte sie einen Blick mit Christopher. „Was ist los, Ron?"
Er holte tief Luft, hielt sie kurz an und ließ sie dann langsam wieder entweichen. „Einiges … nichts Gutes, offensichtlich", murmelte er schließlich. Runzelte die Stirn. „Was meintest du vorhin damit, dass Hermine neulich bei euch gewesen ist?"
„Sie hat uns vor ein paar Wochen besucht, um …", begann Christopher, aber einem Impuls folgend legte Sarah ihm eine Hand auf den Arm und brachte ihn zum Schweigen. Irgendetwas stimmte hier nicht.
Ron verschränkte die Arme vor der Brust. „Sie hat sich Geld von euch geliehen, oder?", fragte er und es klang, als habe er gerade eins und eins zusammengezählt.
Sarahs Herz machte einen Satz, ihr Mund war auf einmal ganz trocken. „Sie sagte", begann sie, räusperte sich. „Sie sagte, es gäbe ein Buch, in dem ein Weg stünde, diese Unterlagen von eurem Lehrer zu entschlüsseln."
Ron schnaubte. „Das ist eine sehr geschönte Version …"
„Jetzt sag schon, was los ist", forderte Christopher und lehnte sich ein Stück nach vorn.
Rons Kiefer mahlten, dann schüttelte er den Kopf. „Nein, das kann sie euch selbst erzählen. Ich bring euch zu ihr." Er hob den Zauber auf, den Rose anscheinend schon kannte, denn sie reagierte nur, indem sie den Kopf hob und ihren Vater ansah. „Ich muss Grandma und Grandpa schnell … woanders hinbringen. Wartest du kurz hier, Rose?"
„Muss du schon gehen?", fragte Rose entsetzt und riss den Kopf zu Sarah herum.
„Erst mal, ja", sagte die und strich ihr über den Kopf. Rose schob die Unterlippe vor und jammerte. „Aber wir sind noch eine Weile hier, wir kommen dich nochmal besuchen. Okay?" Sarah nahm ihr Gesicht in die Hände und küsste sie auf die Stirn.
„Nich' gehen, Granny", greinte Rose leise.
Sarah seufzte. Einen Moment lang überlegte sie, Christopher allein zu Hermine zu schicken, aber die Sorge um ihre Tochter lag wie eine eiskalte Hand in ihrem Nacken. Hermine hatte neulich schon nicht gut ausgesehen. Was war mit ihr? Und was hatte es mit diesem Buch auf sich, von dem sie gesprochen hatte? Was hatte sie getan, das Ron ihnen nicht erzählen wollte? Sarah riss sich blinzelnd aus ihren Gedanken. „Wir kommen bald wieder, mein Liebling." Dann stand sie auf und setzte Rose auf den Stuhl. Die kreuzte die kleinen Arme vor ihrem rot gepunkteten T-Shirt und sah schmollend auf ihren Schoß.
Ron beugte sich zu ihr herunter, flüsterte ihr etwas ins Ohr und kitzelte sie dahinter, so dass sie die Schulter hochzog und leise quietschte. Er lachte, aber es klang nicht echt. „Ich bin sofort wieder da, Muffin."
Dann richtete er sich auf und hielt ihnen jeweils eine Hand hin. Sarah verzog das Gesicht, griff aber danach. Sie hasste es, zu apparieren. Selbst Langstreckenflüge waren ihr lieber als das. Aber sie musste zu Hermine, so schnell wie möglich.
Auch Christopher sah nicht begeistert aus, aber genauso wie sie überwand er sich und ergriff Rons andere Hand.
„Bis gleich, Rose", sagte der und im nächsten Moment quetschte die Apparation sie durch ein Nadelöhr.
Sarah schwankte, als sie auf der anderen Seite ankamen. Das Erste, was sie bemerkte, war Wind in ihren Haaren und der salzige Geruch der Nordsee. Sie schüttelte den Kopf und sah sich um. „Wo sind wir?"
„Schottland", entgegnete Ron. Dann deutete er auf ein kleines Cottage. „Hermine wohnt im Moment dort. Ich weiß nicht, ob sie da ist, aber ich …" Er schnalzte mit der Zunge. „Ich muss zurück zu Rose und ich … will sie gerade nicht sehen. Sagt ihr, sie soll mir einen Patronus schicken, sonst hole ich euch in einer halben Stunde wieder ab." Bevor Sarah oder Christopher etwas dazu sagen konnten, war er auch schon wieder verschwunden.
Sarah starrte auf die Stelle, an der ihr Schwiegersohn eben noch gestanden hatte, dann sah sie zu Christopher auf, der fassungslos schnaubte. „Was war denn das?", grollte er verstimmt.
Sie schluckte. „Lass es uns rausfinden." Drehte sich um und marschierte auf das Cottage zu.
Hermine schloss kurz die Augen, als der Kobold ihr die Menge des Goldes in ihrem Verlies nannte. Ron hatte den Dauerauftrag, den er für sie nach ihrer Kündigung eingerichtet hatte, nicht storniert. Er wollte sie zwar derzeit nicht sehen, aber er teilte immer noch sein Gehalt mit ihr.
Sie nickte und nannte dem Kobold die Summe, die sie abheben wollte. Es waren viele Zutaten, die Snape brauchte, sie hoffte sehr, dass sie reichen würden. Sonst musste sie sich schneller als geplant nach einem neuen Job umschauen; ins Ministerium konnte sie jetzt nicht mehr zurück, nicht mal mit einem neuen Zauberstab und der Lüge, dass ihr alter kaputt gegangen sei. Das Risiko war viel zu groß. Und vor allem konnte sie Holly nicht mehr in die Augen schauen.
Den ganzen Tag hatte sie gestern in den Büchern gelesen, die Snape ihr mitgebracht hatte. Sie wusste jetzt, dass sie mit der Verwendung von Schwarzer Magie eine Tür in sich aufgestoßen hatte, die sich nie wieder vollständig schließen würde. Dass ihr Körper zwar mit der Zeit wieder weniger Lebensenergie zur Verfügung stellen und das Summen nachlassen würde, dass aber nicht nur der Missbrauch ihrer Lebensenergie für Schwarze Magie das wieder ändern könnte, sondern auch alltägliche Dinge wie ein gutes Essen, aufrichtige Freude oder Sex. Alles, was einen sich intensiv lebendig fühlen ließ, würde ihren Körper jetzt dazu animieren, größere Mengen an Lebensenergie freizusetzen, als sie brauchte.
Sie bekam eine ungefähre Vorstellung davon, warum Snape war, wie er war.
Sie wusste jetzt auch, dass Nahrungskarenz und viel Bewegung vergleichsweise ineffektive Methoden waren, um das Summen zu reduzieren, wenn man sich auf ein so hohes Niveau der Lebensenergie geschraubt hatte, wie sie es anscheinend getan hatte. Im Moment müsste sie tagelang aufs Essen verzichten, bevor der Effekt spürbar wäre. Aber sobald sie ihre Lebensenergie wieder etwas runterreguliert hatte, würde es helfen, grundsätzlich ein bisschen weniger zu essen (und ein bisschen weniger zu schlafen) als sie es normalerweise tun würde, um das Niveau zu halten.
Bewegung war zwar effektiver als Nahrungskarenz, war aber ein zweischneidiges Schwert, denn auch Sport setzte Endorphine frei und Endorphine waren wiederum der Haupttrigger für die Freisetzung von Lebensenergie. Wenn es schlecht lief, hatte sie nach einer Runde Joggen zwar viel Lebensenergie verbraucht, aber dafür auch wieder neue getriggert.
Das Einzige, was sie vorher schon gewusst hatte, war, dass zu viel angestaute Lebensenergie wütend machte, auch wenn sie das angesichts all der neuen Erkenntnisse unfair fand. Wenn alles, das sie sich besonders lebendig fühlen ließ, Lebensenergie freisetzte, dann sollte ein Zuviel davon sie in ein andauerndes Hochgefühl versetzen, ein natürlicher Drogenrausch sein. Stattdessen war es Stress für ihren Körper und provozierte eine unangemessene Kampfreaktion.
Hermine hatte die Bücher irgendwann gegen zwei Uhr morgens mit pochenden Kopfschmerzen weggelegt und ein bisschen geweint, bevor sie eingeschlafen war. Sie versuchte, sich daran zu erinnern, dass all das nötig gewesen war, um Rose das Leben zu retten, aber so ganz wollte die Verzweiflung sich mit diesem Gedanken nicht vertreiben lassen. Das ständige Ausgleichen ihrer Lebensenergie würde für immer Teil ihres Lebens sein und so wie es im Moment aussah, hatte sie dafür nur die Wahl zwischen Selbstverletzung und Ausagieren (was nichts anderes war als weiterer Missbrauch ihrer Lebensenergie).
Zwar musste sie dafür keine verbotenen Zauber wirken, auch jeder normale Zauber ließ sich mit Lebensenergie ausführen, wie sie in letzter Zeit oft genug festgestellt hatte. Wenn das Summen stark genug war, funktionierte das sogar stablos. Der Zauberstab bündelte Energie, aber ab einem gewissen Maß an freigesetzter Lebensenergie musste nichts mehr gebündelt werden, um zu wirken. Nur der Wille dahinter musste stark genug sein.
Und es fühlte sich verboten gut an, ihre Lebensenergie zu nutzen.
Aber es war ein Teufelskreis, vor dem sie großen Respekt hatte. Schwarze Magie erzielte für gewöhnlich auf schnellerem Wege die besseren Ergebnisse als die Weiße; mit Weißer Magie hätte sie die Banne bei Borgin & Burke's jedenfalls nicht so schnell aufheben können. Die Verlockung, doch hier und da mal auf ihre Lebensenergie zurückzugreifen, würde mit zunehmender Gewöhnung daran nur größer werden.
Unwillkürlich presste Hermine die Finger ihrer rechten Hand gegen den aufgeschürften Handballen. Sie hatte die Verletzungen mit einem Illusionszauber belegt, aber der Schmerz tat immer noch seine Dienste. Dafür hatte sie heute Morgen die Schnitte auf ihren Beinen mit Diptam-Essenz versorgt. Sie hatten kaum noch wehgetan, waren quasi wirkungslos gewesen, und nun waren wenigstens nur ein paar zarte weiße Linien zurückgeblieben und keine richtigen Narben.
Als Hermine ihre Kopfschmerzen vom Vorabend zurückkehren spürte, schob sie die Gedanken beiseite und konzentrierte sich auf die Zutaten, die Snape aufgeschrieben hatte. Sie hatte seine Liste mit einem Zauber belegt, so dass seine Handschrift aussah wie ihre; sie wusste nicht, ob jemand in der Apotheke tatsächlich nach all den Jahren noch seine Handschrift erkennen würde, aber sie wollte kein Risiko eingehen.
Also schob sie dem Mann hinter der Theke nur die Liste zu und sah sich die Auslagen an, während er die Zutaten zusammensuchte. Bei den Schmerztränken blieb sie stehen und nahm zwei Phiolen ihres bevorzugten Trankes mit. Merlin wusste, sie konnte sie brauchen.
Mit sehr viel weniger Galleonen in der Tasche, als ihr lieb war, verließ sie eine Viertelstunde später die Apotheke und kehrte zurück zu den Apparationspunkten. Snape hatte ihr nicht gesagt, wann er die Zutaten bei ihr abholen würde. Sie sollte besser zu … in Moiras Cottage sein, wenn er kam.
Hermine verzog ein bisschen das Gesicht, als sie sich auf das Cottage konzentrierte. Es fiel ihr schwer, es als ihr Cottage anzusehen, von ihrem Zuhause wollte sie gar nicht erst anfangen. Sie schlief immer noch auf der Couch und versuchte, so wenig wie möglich zu verändern. Aber wenn Ron ihr nicht verzeihen konnte, was sie getan und wozu sie ihn infolgedessen gezwungen hatte, würde es ihr Zuhause werden müssen. Sie seufzte und ließ sich von der Apparation davontragen.
Als sie in Schottland erschien, entglitt ihr nicht nur die Tüte mit den Zutaten. „Mum? Dad?"
Ihre Eltern sahen gleichzeitig zu ihr auf, als sie Hermines Stimme hörten. Sie saßen auf der Bank vor der Tür, da wo Moira ihr so oft zugehört und Johannisbeertee mit ihr getrunken hatte, und sahen dort so falsch aus wie ein Elefant in der Antarktis.
„Mina!", rief ihre Mutter und als Hermine ihre Stimme hörte und realisierte, dass sie wirklich hier und keine Einbildung war, schluchzte sie und hörte damit auch so bald nicht wieder auf.
„Ron hat uns hergebracht und gesagt, du sollst ihm einen Patronus schicken, sonst kommt er uns gleich wieder abholen."
„Oh, okay", sagte Hermine tonlos und riss sich blinzelnd vom Anblick der Teebeutel in ihrer Hand los. Sie schluckte, zückte ihren Zauberstab und schickte ihren Otter auf die Reise.
„Was ist passiert, Mina?", fragte ihre Mutter und stand plötzlich hinter ihr, legte ihre Hände an Hermines Oberarme.
Die Geste war so zärtlich, dass sie beinahe wieder anfing zu weinen. Sie schluckte, atmete tief durch. „Ich habe einen Weg gefunden, Rose zu retten", sagte sie dann.
„Tatsächlich?", fragte ihr Vater vom Tisch aus erfreut.
Hermine warf ihm ein kleines, freudloses Lächeln zu. „Ja, tatsächlich."
„Das ist großartig", sagte ihre Mutter und klang deutlich weniger erfreut, „aber warum will Ron dich nicht sehen? Warum bist du nicht bei Rose?"
Mit schmalen Lippen sah Hermine ihre Mutter an. Es hatte keinen Zweck, etwas zu beschönigen oder zu verheimlichen. Also reckte sie ein bisschen das Kinn vor, drängte die Tränen und die Verzweiflung zurück und sagte: „Weil ich dafür Schwarze Magie verwendet habe, um meinen ehemaligen Lehrer wieder zum Leben zu erwecken, wofür ein Unschuldiger gestorben ist."
Ihre Mutter schlug eine Hand vor der Mund und sah sie entsetzt an.
„Was hast du getan?", fragte ihr Vater gleichzeitig.
Sie begegnete seinem Blick. „Was nötig war."
„Du hast jemanden umgebracht?", hauchte ihre Mutter.
Hermine seufzte und rieb sich die Stirn. „Ja. Ich wusste nicht, dass das passieren würde, aber …" Sie verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich hätte es wissen müssen. Es war meine Aufgabe, das zu wissen. Er ist meinetwegen tot und ich kann es nicht mehr ändern." Ihr Magen zog sich zusammen, als sie die Worte aussprach, sie blinzelte ein paar Tränen weg. Tränen machten ihren Fehler nicht ungeschehen und sie verdiente all das, was jetzt kommen würde.
Aber anscheinend wussten ihre Eltern daraufhin beide erst mal nicht, was sie sagen sollten. Ihre Mutter starrte sie an, blinzelte nicht mal. Sehr langsam ließ sie ihre Hand sinken und tastete damit nach der Kante der Arbeitsplatte.
„Setz dich, Mum", bat Hermine und führte sie zum Tisch zurück.
Schließlich fing ihr Vater sich: „Wofür hast du all das Geld gebraucht?"
„Für ein Buch, darüber hab ich euch nicht angelogen", begann Hermine, während sie weiter den Tee zubereitete. Sie wandte ihren Eltern den Rücken zu. „Aber es standen keine alten Zauber darin. Obwohl … vermutlich sind sie alt, aber … Sie sind nicht dafür geeignet, Verschlüsselungszauber aufzuheben." Sie schluckte und sammelte Kraft, um die Wahrheit auszusprechen: „In diesem Buch steht ein Wiederauferstehungsritual und ich habe es benutzt."
Ihr Vater holte scharf Luft. „Wenn wir gewusst hätten, wofür du …", murmelte er.
„Ich weiß", unterbrach sie ihn. „Deswegen hab ich es euch nicht gesagt." Wieder lag der entsetzte Blick ihrer Eltern auf ihr. Hermine schluckte. Seit besagtem Tag, an dem sie den Gedächtniszauber aufgehoben hatte, hatten ihre Eltern sie nicht mehr so angesehen. Damals wie heute standen (oder besser saßen) sie fassungslos vor den Dingen, die sie zu tun bereit war, um die zu schützen, die sie liebte. Nur dass es ihr dieses Mal selbst nicht anders ging. Sie war entsetzt von dem, was sie getan hatte. Und sie wünschte, sie könnte aufrichtig behaupten, dass sie es am liebsten rückgängig gemacht hätte. Aber das konnte sie nicht, denn dann würde Rose sterben. Hermine wandte sich wieder dem Tee zu, als sie die Blicke ihrer Eltern nicht mehr ertragen konnte. „Ich werde euch das Geld zurückzahlen. Alles davon. Es tut mir leid, dass ich euch so hintergangen habe, aber …" Sie seufzte. „Es ging um Rose. Ich konnte nicht anders …" Kaum mehr als ein Flüstern und für ein paar Sekunden zitterte ihr Kinn nun doch. Sie schloss die Augen, während sie die Tränen gnadenlos zurückkämpfte.
Als der Tee endlich fertig war, trug Hermine die Kanne hinüber zum Tisch und setzte sich zu ihren Eltern. „Ich hab leider keine Milch da", sagte sie leise.
Ihr Vater schnaubte und war davon selbst so überrascht, dass er sich über den Mund fuhr.
Ihre Mutter brauchte noch etwas länger, um sich aus ihrer Starre zu reißen. Sie tat es, indem sie ihren Blick durch die Küche wandern ließ. Hermine lächelte schmal. Das war etwas, das ihre Mutter ihr beigebracht hatte. Wenn Gefühle dich überkommen, konzentrier dich auf deine Umgebung. „Wem gehört dieses Haus?", fragte sie schließlich mit dünner Stimme.
Hermine schloss kurz die Augen; von einem schwierigen Thema zum nächsten, ihre Eltern hatten nichts verlernt. „Anscheinend mir." Wie sie es erwartet hatte, fand sie sich sofort wieder von fassungslosen Blicken getroffen. „Meine ehemalige Anleiterin hat hier gelebt. Sie ist kürzlich gestorben und hat es mir vermacht."
„Dir?", fragte ihr Vater.
Sie zuckte mit den Schultern. „Ich weiß auch nicht, was sie da geritten hat. Ich … Es fühlt sich nicht richtig an, hier zu sein. Aber da Ron mich derzeit nicht zu Hause haben will …"
„Wusste sie, was du getan hast?" Ihre Mutter.
„Ja und nein", sagte Hermine und schlang die Hände ineinander. Die Schürfwunden sandten brennenden Schmerz durch ihre Handflächen. Sofort wurde sie ein bisschen ruhiger. „Sie wusste, dass ich das Ritual durchführen wollte, aber …" Sie schloss die Augen, wappnete sich innerlich gegen die nächste Runde des Entsetzens. „Aber genauso wie ich dachte auch sie, dass derjenige, der das Ritual durchführt, sein Leben für das desjenigen gibt, der wiedererweckt werden soll."
Es dauerte zwei, drei Sekunden, bis ihre Eltern wirklich begriffen hatten, was Hermine gesagt hatte, dann keuchten sie, ihr Vater „Hermine!", ihre Mutter „Mina!".
„Ich weiß!", sagte Hermine laut. Sah erst ihren Vater, dann ihre Mutter flehentlich an. „Es ging um Rose", wiederholte sie leise. „Ich musste es tun."
Minutenlang saßen sie schweigend am Tisch und Hermine glaubte, sie würde den Verstand verlieren, wenn nicht bald jemand etwas sagte. Schließlich war es ihr Vater, der die Stille durchbrach: „Hast du auch was Stärkeres als Tee?"
Es war beinahe vier Uhr nachmittags, als Hermine mit ihren Eltern das Cottage verließ, um sie in ihr Hotel zurückzubringen. Sie hatte ihnen beinahe alles erzählt und die Enttäuschung auf ihren Gesichtern ausgehalten, so gut sie es konnte. Das Einzige, was sie ihnen verschwiegen hatte, war auch das, was sie Evie nicht hatte erzählen können: Was sie im Jenseits erlebt hatte. Genau genommen hatte sie ihren Eltern nicht mal erzählt, dass sie tatsächlich zeitweise tot gewesen war.
„Hast du noch Kontakt zu Onkel Marcus, Dad?", hatte sie irgendwann gefragt.
Er hatte die Schultern angespannt. „Warum fragst du?"
Hermine war seinem Blick ausgewichen. Sie wusste, wie angespannt das Verhältnis zwischen ihrem Vater und seinem Bruder war; er nannte ihn gern das schwarze Schaf der Familie. Aber er war auch jemand, der Dinge herausfinden konnte. „Ich ähm … ich muss wissen, wer der Mann war, den ich … der gestorben ist."
Ihr Vater hatte die Augen geschlossen, während ihm sichtbar die Farbe aus dem Gesicht gewichen war. „Schreib mir auf, was du über ihn weißt, ich werde erst mal sehen, was ich herausfinden kann", hatte er tonlos gemurmelt.
Also hatte sie das getan. Ihre Eltern hatten zwar wenig Ahnung von Magie, aber zumindest ihr Vater hatte viel Spaß an Computern und dem Internet entwickelt, etwas, das Hermine bisher fremd geblieben war. Aber vermutlich war das Internet ein guter Ort, um mit den Recherchen nach einem Muggel zu beginnen.
Hermine zog gerade die Tür hinter sich zu, als das leise Ploppen einer Apparation ihre Aufmerksamkeit erweckte. Snape stand in der Nachmittagssonne wie der Tod persönlich. Der Anblick ließ Adrenalin durch ihren Körper prickeln. Sie schluckte. „Mum, Dad", sagte sie, „das ist Professor Snape." Und als er ein paar Schritte auf sie zugekommen war, den Blick wachsam auf sie gerichtet, fügte sie hinzu: „Professor Snape, das sind meine Eltern, Sarah und Christopher Granger."
Ein paar Sekunden lang herrschte Schweigen; Hermine konnte ihren Eltern deutlich ansehen, wie schwer es ihnen fiel, die Dinge, die sie ihnen im Laufe des Tages erzählt hatte, mit dem lebendigen Mann vor sich in Einklang zu bringen. Schließlich fand ihre Mutter ihren Anstand wieder, riss sich blinzelnd aus ihrer Sprachlosigkeit und streckte die Hand aus. „F-Freut mich, Sie kennenzulernen."
Snapes Blick glitt hinab zu ihrer Hand. Er machte keinerlei Anstalten, sie zu ergreifen, und so ließ ihre Mutter sie langsam wieder sinken. Stattdessen tat er so, als wären ihre Eltern gar nicht da, und fixierte Hermine. „Die Zutaten?", fragte er.
Sie runzelte die Stirn. „Ich hab sie da. Ich bringe nur kurz meine Eltern in ihr Hotel."
Snape sah sie finster an. „Beeilen Sie sich."
„Natürlich", murmelte sie und hielt ihren Eltern ihre Hände hin. Wieder dauerte es einige Sekunden, bis sie es bemerkten und sie ergriffen. Insbesondere ihr Vater war sehr damit beschäftigt, dem bohrenden Blick Snapes standzuhalten. Hermine sah zwischen den beiden hin und her und als sie begriff, was Snape da tat – nämlich ein bisschen im Geist ihres Vaters herumschnüffeln – trat sie zwischen die beiden. „Lass uns gehen, Dad", sagte sie eindringlich.
„Was für ein unhöflicher Kerl", schimpfte ihr Vater, als sie kurz darauf in einer Seitenstraße neben dem Hotel apparierten.
Ihre Mutter hielt sich ein bisschen länger als üblich an Hermine fest. „Geht es?", fragte diese daher.
„Ja ja", murmelte sie und rieb sich die Stirn.
„Und du bist dir sicher, dass er Rose helfen kann?", fragte ihr Vater.
„Ja, bin ich", entgegnete Hermine.
„Er ist irgendwie unheimlich", sagte nun auch ihre Mutter leise.
Hermine seufzte. „Ich weiß, das war er früher schon und nachdem ich ihn ins Leben zurückgezwungen habe, ist es nicht besser geworden. Aber er ist nichtsdestotrotz brillant. Wenn er Rose das Leben rettet, könnte er auch Richard III.* persönlich sein und es würde mich nicht weiter kümmern." Die erneute Erwähnung dessen, was sie getan hatte, ließ beide den Blick senken. Hermine verzog das Gesicht. „Wie lange bleibt ihr in England?"
„Unser Rückflug geht in drei Wochen", sagte ihre Mutter, offensichtlich erleichtert über den Themenwechsel.
Hermine lächelte. „Das ist gut, dann … haben wir vielleicht noch ein bisschen Zeit miteinander."
„Ja." Ihre Mutter erwiderte das Lächeln gezwungen, dann umarmte sie sie, kürzer als sonst. „Bis bald, Hermine."
Sie schluckte. Hermine, nicht Mina. „Ja, bis bald, Mum." Sie umarmte auch ihren Vater und sah den beiden dann hinterher, wie sie die Seitenstraße verließen und um die Ecke bogen. Tränen brannten in ihren Augen und sie schloss sie für ein paar Sekunden, ehe sie sich wieder auf das Cottage konzentrierte und zu Snape zurückkehrte. Sein Anblick half ihr ungemein dabei, ihre Tränen unter Kontrolle zu bekommen.
„Was hat so lange gedauert?", grollte er.
„Die Diskussion Ihres unhöflichen Verhaltens und der Abschied von meinen Eltern. Das hat so lange gedauert", entgegnete sie und ging an ihm vorbei auf die Tür zu. Sie hatte gestern schweren Herzens die spärlichen Banne aufgehoben, die Moira über das Cottage gelegt hatte; da sie in einer Muggelgegend lebte, hatte sie sich mit Magie zurückgehalten. Für das, was Hermine jetzt hier tat, reichte das aber einfach nicht, und irgendwo musste sie wohl anfangen, dieses Haus zu ihrem eigenen zu machen. Entweder das oder sie musste es verkaufen und sich eine andere Unterkunft suchen, aber das erschien ihr noch frevelhafter. Die Magie prickelte über ihre Hand, als sie sie auf die Türklinke legte. Das alte Metall presste sich schmerzhaft gegen ihren Handballen.
Snape antwortete nicht auf ihre spitze Bemerkung, was ihr erst auffiel, als sie schon im Flur war. Sie warf einen schnellen Blick über ihre Schulter, den er gleichmütig erwiderte. Wie hatte er wohl den Tag gestern verbracht? Wo war er untergekommen? Und wo war das Labor, das er benutzen wollte? Hermine hätte ihn gern danach gefragt, aber so, wie sie ihn kannte, hätte er ihr die Fragen sowieso nicht beantwortet. Dass er jetzt nicht mehr viel älter war als sie, änderte nichts an seiner Geringschätzung ihrer Person. Also behielt sie ihre Fragen für sich.
Er folgte ihr ins Wohnzimmer wie ein Schatten, lautlos und auf dem Fuße. Die Papiertüte mit den Zutaten stand auf dem Tisch und als sie sich damit zu ihm umdrehte, sah sie, wie er seinen Blick durch das Zimmer gleiten ließ. Über ihr Nachtlager und die inzwischen wieder freie Stelle, an der die duplizierte Couch gestanden hatte, auf der er erwacht war. Schließlich landete er wieder bei ihr. Kühl und undurchschaubar. „Hier ist alles drin", sagte Hermine und hielt ihm die Tüte hin.
Er nahm sie ihr ab und sah hinein. „Gut", sagte er dann knapp und wandte sich um. Mit zügigen Schritten durchquerte er den Flur und disapparierte, kaum dass er das Haus verlassen hatte. Sie konnte entfernt das leise Ploppen hören.
Hermine sank ein Stück in sich zusammen und seufzte.
* Ich bin ein Noob, was Geschichte betrifft, deswegen muss ich hierfür meiner Beta Moana Nahesa danken!
