Doppelgänger
„Hey, Sienna, hast du kurz Zeit? Ich könnte deine Hilfe gebrauchen."
Elena winkte mir von der anderen Straßenseite zu. Ich kam gerade aus dem kleinen Coffeeshop gegenüber des Rathauses, wo ich mir einen Espresso geholt hatte, bevor ich mich gleich mit Matt zu unserer Nachhilfestunde treffen wollte.
Der Kaffee hier war ein Witz. Nicht einmal der Espresso war stark genug, um mich auch nur annähernd wach zu halten. Wenn ich noch länger hier blieb, würde ich mir wohl aus Italien welchen schicken lassen müssen.
Elena kam zu mir gelaufen. Außer Atem blieb sie vor mir stehen und rückte ihre Tasche zurecht. „In zwei Wochen ist doch diese Siebziger Jahre Party an der Schule..." Ich zuckte ahnungslos mit den Schultern. „Du kommst doch auch? Du musst kommen! Das wird lustig. Bring Damon mit, wenn du willst. Ich bin sicher, er hat noch irgendwas aus den Siebzigern in seinem Kleiderschrank. Genau wie Stefan. Immerhin waren die beiden live dabei." Sie lachte vergnügt. „Jedenfalls wollte ich dich fragen, ob du Lust hast, mit mir zusammen ein Kleid auszusuchen. Ich könnte eine zweite Meinung gebrauchen. Caroline und Bonnie sind voreingenommen, aber du kommst aus Italien. Wenn jemand etwas von Mode versteht, dann ja wohl ihr!" Sie hakte sich bei mir ein und zerrte mich bereits die Straße hinunter.
„Ja, gern, aber ich habe nicht viel Zeit. In einer Stunde treffe ich mich mit Matt zur Nachhilfe."
Elena sah mich überrascht an. „Ach ja, das hatte ich glatt vergessen. Keine Sorge, es wird nicht lange dauern. Es gibt da diesen neuen Second-Hand-Laden, da finden wir bestimmt etwas. Er ist gleich die Straße hinunter. Also? Kommst du?" Sie hüpfte erwartungsvoll von einem Bein aufs andere. Ich hatte sie noch nie so aufgekratzt erlebt. Sie schien sich wirklich auf diese Party zu freuen. Ich war kein großer Freund von Mottopartys, aber ich wollte sie auch nicht enttäuschen. Endlich hatte ich Freunde gefunden, ich wollte nichts falsch machen und sie vor den Kopf stoßen. Also nickte ich. „Klar, aber wenn es aus den siebzigern sein soll, dann muss es unbedingt aus Polyester sein."
Elena strahlte über das ganze Gesicht. „Unbedingt!", stimmte sie mir zu, schob ihren Arm wieder durch meinen und zog mich mit sich.
So gingen wir einen Block die Straße hinunter, bevor sie in eine schmale Gasse abbog, die ich fast übersehen hätte. Sie war eng und zu beiden Seiten standen überquellende Mülltonnen, die einen bestialischen Gestank verbreiteten. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass hier ein Geschäft sein sollte. Verwirrt drehte ich mich zu Elena um. „Bist du dir sicher?", fragte ich. Vielleicht hatte sie sich verlaufen.
„Oh ja, es ist nur noch ein kleines Stück."
Wir gingen weiter. Die Gasse wurde noch enger, die Mülltonnen wichen mehreren Stahltüren, die zu den Häusern auf beiden Seiten gehörten. Und dann hörte die Gasse auf. Wir standen vor einer hohen Backsteinmauer. Ich fuhr herum. Elena war in einigen Metern Entfernung stehen geblieben.
„Was ist los?", rief ich.
In diesem Moment öffnete sich die Metalltür zu meiner Linken und zwei Männer traten heraus. Sie trugen altmodische Wollhosen und Leinenhemden und drückten sich an die dunkle Hauswand. Bevor ich reagieren konnte, hatte mich einer von ihnen gepackt und drehte mir die Arme auf den Rücken. Was zum Teufel?
„Elena! Hilf mir!"
Ich wand mich in dem Griff des Mannes, schlug und trat um mich, versuchte mich, zu befreien. Aber er war viel zu stark.
„Elena! Was ist hier los?", schrie ich. Da verpasste mir der andere eine schallende Ohrfeige. Mein Kopf flog zur Seite und Blut tropfte aus meiner Nase.
„Los! Schafft sie weg von hier," sagte Elena und wandte sich ab von mir. Ihre Stimme klang jetzt tiefer und rauchiger als gerade eben noch. Ich sah ihr hinterher, wie sie die Gasse verließ, ohne sich noch einmal umzudrehen. Was ging hier vor sich? Warum ließ sie mich einfach zurück? Was hatte ich ihr getan? Dann prallte eine Faust gegen meine Schläfe und alles um mich herum wurde schwarz.
Caroline war auf dem Dachboden auf der Suche nach einem passenden Kleid für die Schulparty, als ihr Handy mehrmals hintereinander zu vibrieren begann. Sie zog es aus ihrer Hosentasche und blickte auf das Display.
MATT: Hey, Caroline, hat sich Sienna bei dir gemeldet? Wir waren zur Nachhilfe verabredet, aber sie ist nicht gekommen.
MATT: Sie geht auch nicht an ihr Handy.
BONNIE: Matt hat mir geschrieben, dass Sienna nicht an ihr Handy geht. Ist sie bei dir?
ELENA: Hast du Sienna gesehen? Sag ihr, sie soll Matt anrufen. Er macht sich Sorgen.
Caroline antwortete sofort.
CAROLINE: Ich habe sie seit heute Morgen nicht mehr gesehen. Bei mir geht sie auch nicht ans Handy. Habt ihr schon Stefan gefragt? Vielleicht ist sie bei Damon.
STEFAN: Hier ist sie nicht. Ich habe sie auch heute Morgen das letzte Mal gesehen. Hat jemand im Grill nachgesehen?
JEREMY: Ich komme gerade von da. Sienna war nicht da.
STEFAN: Vielleicht ist sie bei Alaric. Die beiden stecken zur Zeit oft zusammen.
CAROLINE: Jemand sollte Damon anrufen. Vielleicht ist sie bei ihm.
BONNIE: Gute Idee, mach du das.
MATT: aufgerichteter Daumen und Smiley
ELENA: aufgerichteter Daumen und Herzchen
CAROLINE: Feiglinge!
Danach blieb ihr Handy stumm. Sie hatte kein gutes Gefühl. Irgendetwas stimmte hier nicht. Sienna würde nicht so einfach verschwinden. Oder? Caroline lief unruhig auf dem Dachboden hin und her. Tolle Freunde hatte sie da! Überließen ihr wieder die unangenehmen Aufgaben. Sie konnte sich nichts Schlimmeres vorstellen, als ausgerechnet Damon Salvatore anzurufen, aber ihr blieb nichts anderes übrig. Sie musste wissen, was mit Sienna war. Und er war der Einzige, den sie noch nicht gefragt hatten. Der Himmel wusste, woher sie seine Nummer hatte, aber sie war in ihrem Handy gespeichert. Caroline atmete tief ein, wappnete sich davor, gleich seine verhasste Stimme zu hören, und tippte dann auf seinen Namen auf dem Display.
Es läutete eine gefühlte Ewigkeit, bis er endlich abnahm. „Hey, Blondie, was verschafft mir die Ehre deines Anrufes?"
„Hey, Damon," stieß sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
„Ich hoffe, du hast einen guten Grund, warum du mich beim Schmieden meiner Weltherrschaftspläne störst?" Im Hintergrund erklang ein dumpfes Poltern.
Caroline schloss die Augen, zwang sich, ruhig zu bleiben. Sie wollte gar nicht wissen, was er am anderen Ende der Leitung tat.
„Sienna ist verschwunden..."
„Was?", unterbrach er sie sofort. Seine Stimme klang alarmiert.
„Sie ist zu Matts Nachhilfestunde nicht erschienen. Seit heute morgen hat sie keiner mehr gesehen. Sie ist nicht zufällig bei dir?" Sie biss sich auf die Zunge.
„Nein. Habt ihr Alaric schon gefragt?"
„Stefan ist gerade dabei."
„Okay, Blondie, du bewegst jetzt sofort deinen Arsch hierher und bringst die Hexe mit. Wir brauchen einen Lokalisierungszauber. Jetzt gleich!" Damit hatte er aufgelegt.
Caroline stöhnte gequält. Und sie hatte gedacht, ihr Kontrollzwang wäre schlimm. Sie tippte eine weitere Nachricht an ihre Freunde.
CAROLINE: Bei Damon ist sie auch nicht. Stefan, hast du Alaric erreicht?
STEFAN: Er hat sie auch nicht gesehen.
CAROLINE: Bonnie, du sollst mit mir sofort zu Damon kommen. Er will einen Lokalisierungszauber versuchen.
BONNIE: kotzender Emoji. Da kann er lange darauf warten!
CAROLINE: Bitte, Bonnie. Er klang wirklich besorgt. Tu es für Sienna.
BONNIE: Okay, ich mach mich gleich auf den Weg. Wir treffen uns dort.
CAROLINE: Okay.
