Dankeschön für die Reviews! Und da mein Jammern anscheinend geholfen hat: Bitte bitte? XD
Kapitel 30 – Eine Woche
You build a house of cards
but it's going to fall.
You think I don't see who you really are?
I got news coming:
I've seen it all from the start.
(Ruelle – Secrets and Lies)
„Nein!"
„Rose, bitte!"
„Nein!"
Ron schloss die Augen und holte tief Luft, zählte langsam bis zehn und blinzelte. Rose saß immer noch in Unterwäsche auf dem Boden, die Arme vor der Brust verschränkt und die Unterlippe vorgeschoben. Seit beinahe zwanzig Minuten versuchte er nun schon, ihr ein T-Shirt und eine Hose anzuziehen, aber sie weigerte sich beharrlich. Zwischenzeitlich hatte sie auch ihre Besenmodelle durch die Gegend geworfen und frustriert geschrien, als die nicht wie geplant gegen die Wand geflogen waren, sondern vorher eine Kurve gedreht hatten. Stattdessen lehnte Ron sich jetzt dagegen und ließ das T-Shirt, das er in den Händen hielt, sinken.
Zum ersten Mal erlebte er Hermines Position in diesem Konflikt. Seitdem Rose das Wort Nein gelernt hatte, hatte sie sich immer wieder mal geweigert, sich an- oder umziehen zu lassen, aber bisher war er immer derjenige gewesen, der dazugekommen war und den Tag gerettet hatte. Sie hatte ihn bisher so selten gesehen, dass sie ihre Sturheit meistens schnell vergessen hatte, wenn er sie gefragt hatte, ob sie sich nicht doch anziehen wollte, damit sie miteinander spielen konnten. Diesen Bonus hatte er inzwischen verloren. Nachdem sie eine Woche lang mit ihm allein gewesen war, war er einfach nichts Besonderes mehr.
„Mummy soll mich ansiehn", sagte sie in diesem Moment leise und ihre Schmolllippe bebte verdächtig.
„Ich weiß", entgegnete er genauso leise, legte endgültig das T-Shirt beiseite und breitete die Arme aus. „Kuscheln?"
Rose zog die Nase hoch. „Nein. Ich will Mummy!"
Er stieß scharf die Luft durch die Nase und presste die Lippen aufeinander. Aber bevor er endgültig die Geduld verlieren konnte, hörte er im Wohnzimmer das Flohfeuer in die Höhe lodern. „Ron?" Seine Mutter. Sein Herz begann schneller zu schlagen.
„Ich komme!", rief er über seine Schulter. Er hatte sich für heute mit seinen Eltern verabredet, um die Geschichte zu üben, die er gestern mit Hermine abgesprochen hatte. Wenn er seiner Mutter sagte, dass Hermine ihn betrogen hatte, würde alles andere mehr oder weniger an ihr vorbeigehen, egal wie nervös oder verdächtig er sich verhielt. Und sein Vater würde damit beschäftigt sein, seine Mutter zu beruhigen, womit er vermutlich auch eine Panikattacke bekommen könnte, ohne dass es den beiden auffallen würde. Bei Harry und Ginny hingegen durfte er sich kein verdächtiges Verhalten erlauben, die beiden waren viel zu aufmerksam. Insbesondere Harry, wenn der wirklich so viel ahnte, wie Ron vermutete. Heute würde er üben, morgen kam es drauf an.
Jetzt wandte er sich Rose zu. „Grandma wartet schon auf uns, sie ist im Kamin. Willst du mit ihr reden?"
Rose haderte sichtlich mit sich. Aber nach ein paar Sekunden kam sie doch schwankend auf die Beine und lief in Unterhemd und Unterhose an ihm vorbei ins Wohnzimmer. „Gran'ma!", rief sie so laut, dass seine Mutter es wohl auch ohne Kamin gehört hätte.
Ron schüttelte schnaubend den Kopf, dann stand auch er auf und folgte ihr langsam.
„… bist du denn noch gar nicht angezogen?", hörte er Molly fragen.
„Mummy soll mich ansiehn", sagte Rose wieder.
„Und warum macht sie das nicht?" In diesem Moment trat Ron in ihr Sichtfeld. Sie sah zu ihm auf. „Warum zieht Hermine sie nicht an?"
Ron rieb sich den Nacken. „Sie ist nicht da."
„Wo ist sie denn?"
„Mummy is' nich' da, son so viel lange nich', Gran'ma", plapperte Rose und hielt sechs Finger hoch, vier an der linken, zwei an der rechten Hand, wobei sie den linken Zeigefinger eingeknickt hatte und nicht den Daumen. Ron lächelte.
Wurde aber schlagartig wieder ernst, als der Blick seiner Mutter ihn traf. „Wo ist Hermine, Ron?"
In den Tagen, nachdem Snape ihr das Gift vorbeigebracht hatte, hörte Hermine nichts von ihm. Als würde er gar nicht existieren, als hätte sie ihn niemals von den Toten zurückgeholt. Nur das immer wieder in ihr aufsteigende Summen erinnerte sie daran, dass das alles wirklich passiert war.
Er hatte recht gehabt, sie gewöhnte sich etwas an das Gift. Mit jedem Mal, das sie es nahm, wurde der Schmerz weniger und ging schneller vorbei. Nur die Übelkeit hielt sich hartnäckig, aber da sie ohnehin nicht so viel essen sollte, kam ihr das gerade recht. Sie verzichtete so gut es ging komplett auf Magie, schlief wenig und merkte nach drei Tagen langsam, wie das Summen weniger wurde.
Sie nutzte die Zeit, um damit anzufangen, Moiras Sachen zu sortieren. Bei einem Spaziergang fand sie einen kleinen Spendenladen im Dorf und fragte, ob jemand vorbeikommen konnte, um ein paar Kisten voll Kleidung und einige der alten Möbel aus dem Keller abzuholen, die sie nicht behalten wollte. Hermine fühlte sich schäbig und als sie danach zurück ins Cottage kam, kauerte sie sich auf die Couch und weinte.
Am Mittwoch bekam sie einen Heuler von Molly, in dem sie sie ganze sieben Minuten und zweiundvierzig Sekunden lang anschrie, wie sie Ron das hatte antun können. Und ob sie überhaupt nicht an Rose gedacht hatte, als sie das getan hatte. Dass Hermine eine Möglichkeit gefunden hatte, Rose zu helfen, erwähnte sie mit keinem Wort. Hermine stand mit vor der Brust verschränkten Armen im Flur und ließ das Geschrei über sich hinwegrollen wie eine meterhohe Welle. Am Ende zitterte sie, als hätte man sie tatsächlich gerade durch kaltes Wasser gezogen, und konnte sehr lange nicht mehr damit aufhören.
Am Donnerstag kam ein Brief von Ginny, in dem sie ihr ähnliche Fragen stellte wie Molly, nur ein bisschen taktvoller. Hermine schob ihn ans letzte Ende der Arbeitsplatte und ignorierte ihn.
Am Freitag besuchte Evie sie zusammen mit Ethan und während er ähnlich begeistert wie Rose durch den Garten tobte, hatte Hermine die Möglichkeit, ihrer Freundin ihr Leid zu klagen. Sie fühlte sich auch dabei schäbig, denn sie hatte sich ja selbst für diesen Weg entschieden und sollte genau das tun, was Snape gesagt hatte: sich zusammenreißen und die Konsequenzen mit Fassung tragen. Aber die Trennung von Rose und Ron, der Zorn ihrer Familie und Freunde, das Summen der Schwarzen Magie, das Gift, das Sortieren von Moiras Sachen und die Ungewissheit, wann Snape den Trank fertigstellen würde – das alles machte sie dünnhäutig und zerrieb ihre Selbstbeherrschung zu Staub.
Evie machte ihr keine Vorwürfe, im Gegenteil. Sie war überraschend verständnisvoll und als Hermine ihr gestand, wie wenig sie in den letzten Tagen gegessen hatte, beschloss sie kurzerhand, ihnen etwas zu kochen. „Und du wirst essen, Hermine! Dann musst du eben eine Dosis mehr von diesem Gift nehmen, immer noch besser als zu verhungern."
Hermine hätte ihre Äußerung gern als übertrieben abgetan, aber sie war in den letzten Wochen wirklich erschreckend dünn geworden. Schon bevor sie sich auf die Schwarze Magie eingelassen hatte, hatte sie weniger gegessen als sonst. Die Sorge um Rose hatte ihr gründlich den Appetit verdorben. Der Stress der letzten Wochen und der Einfluss des Essens auf ihre Lebensenergie hatten es nicht besser gemacht. Sie hatte einige ihrer Sachen kleiner zaubern müssen, um sie weiterhin tragen zu können.
Evie blieb bis spät in den Abend und als Ethan auf der Couch eingeschlafen war, half sie Hermine dabei, einige der Möbel zu verändern und endlich ihr Nachtlager nach oben ins Schlafzimmer zu verlegen. „Du kannst doch nicht für immer auf der Couch schlafen", sagte sie leise.
„Ich will hier gar nicht schlafen, Evie", sagte Hermine schwach.
Sie seufzte. „Ich weiß." Und dann legte sie ihre Hand auf Hermines und drückte sie ein bisschen, bevor sie mit dem Kopf zur Treppe nickte. Hermine war sie nur widerwillig hinaufgestiegen.
Die erste Nacht in Moiras Bett verbrachte sie weinend. Es sah nicht mehr aus wie Moiras Bett, es sah nicht mal mehr aus wie Moiras Schlafzimmer. Aber sie wusste, dass es das Bett war, in dem Moira gestorben war, und auch die neue Matratze, die Evie aus einem alten Buch über die artgerechte Haltung von Ziegen erschaffen hatte, änderte nichts an dem beklemmenden Gefühl. Gegen halb vier Uhr morgens zog sie wieder auf die Couch um und beschloss, das kleine Gästezimmer zu ihrem Schlafzimmer zu machen.
Am Samstagmorgen brauchte sie das erste Mal nichts von Snapes Gift, um das Summen aushalten zu können. Die weitestgehend durchwachte Nacht hatte offenbar gereicht. Sie saß mit juckenden Augen vor einer Tasse schwarzem Tee, als es an der Tür klopfte. Mit gerunzelter Stirn stand Hermine auf und als sie sah, wer vor der Tür stand, begann ihr Herz zu rasen und sie schluckte hart. „Harry …"
Er runzelte die Stirn, als er sie sah. Sein Blick glitt über ihr blasses Gesicht und die dunklen Ringe unter ihren Augen, so wie ihr eigener vorhin, als sie aus der Dusche gestiegen war. Sie sah miserabel aus und das entging auch ihm nicht. „Darf ich reinkommen?"
„Ähm … klar." Sie trat zur Seite und senkte den Blick, beobachtete seine Schuhe dabei, wie sie an ihr vorbeiliefen, während sie langgezogen ausatmete und den Aufruhr in sich zu beruhigen versuchte. Pass auf, dass er keine Beweise findet, hallten Rons Worte durch ihren Kopf. „Hat Ron dir gesagt, wo du mich findest?", fragte sie, als sie ihm in die Küche gefolgt war.
„Ja", sagte er knapp. „Aber selbst wenn er nichts gesagt hätte, hätte ich dich gefunden. Ich bin Auror. Leute zu finden, ist mein Job."
Sie lächelte schwach. „Weiß Ginny auch, wo ich bin?" Auf dem Brief, den sie ihr geschickt hatte, hatte keine Adresse gestanden; die Eule hatte sie so gefunden.
„Ja. Aber ich denke nicht, dass sie so bald herkommen wird." Er verzog das Gesicht.
Hermine nickte langsam. Und als die Stille sich unangenehm zwischen ihnen ausbreitete, fragte sie: „Möchtest du auch einen Tee?"
„Nein, danke. Mich würde mehr interessieren, warum du das getan hast."
Sie sah hinab auf ihre Hände und ließ die Haare vor ihr Gesicht fallen. Jedem, der ihr diese Frage bisher gestellt hatte, hatte sie einfach die Wahrheit erzählen können. Dass sie keinen anderen Weg gesehen hatte, weil … Rose. Aber Harry konnte sie nicht die Wahrheit erzählen. Harry musste sie belügen und sie musste es gut genug machen, damit es ihm nicht auffiel.
Sie nahm sich ein paar Sekunden, um sich reinzudenken in die andere Situation. In den Seitensprung, von dem Ron ihnen erzählt hatte. Warum hätte sie so etwas getan? Sie schloss die Augen. Das hätte sie nicht. Sie wäre niemals auch nur auf den Gedanken gekommen, Ron zu betrügen. Nicht mal während der Krise vor Roses Geburt hatte sie darüber nachgedacht. So war sie einfach nicht. Aber jetzt musste sie so sein, wenn sie nicht auch Harry in die Lage bringen wollte, sich zwischen einem Gesetzesbruch und ihrer Verhaftung entscheiden zu müssen.
„Hermine?"
Sie zuckte zusammen und riss den Kopf hoch. „Ich …" Sie brach ab und schluckte, schüttelte den Kopf. „Ganz ehrlich, ich weiß es nicht. Es gibt keinen guten Grund dafür."
Harry musterte sie lange, neigte ein bisschen den Kopf zur Seite. Hermine versuchte, seinem Blick standzuhalten, aber ihr stiegen Tränen in die Augen, also wandte sie ihn ab. Der alte Stuhl, auf dem er saß, knackte, als er aufstand. Und dann saß er plötzlich neben ihr auf der Küchenbank und zog sie in seinen Arm.
Einen Moment lang versteifte Hermine sich, hielt die Luft an. Und dann ließ etwas in ihr los und sie sank in die Umarmung, schlang ihre Arme um Harrys Oberkörper und begann leise zu weinen. „Es tut mir so leid", flüsterte sie.
„Ich weiß, ich seh es", entgegnete er und strich über ihren Rücken.
„Er wird mir das nie verzeihen."
Harry seufzte. „Nein, vermutlich nicht."
Sie machte sich aus der Umarmung los und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. „Kannst du mir verzeihen?"
Er sah sie an. Sein Blick zuckte zwischen ihren Augen hin und her und seine Lippen wurden schmaler, als er sie aufeinander presste und … Hermines Herz machte einen Satz, als sie sah, was Ron gemeint hatte. Dieser Blick … Harry ahnte wirklich was und vermutlich sogar noch mehr, als Ron vermutete. Vermutlich wusste er sehr genau, was sie direkt unter seiner Nase getan hatten und es war viel zu spät, um ihn vor der Entscheidung zwischen richtig und falsch zu bewahren. Mehr Tränen stiegen ihr in die Augen und folgten heiß den Spuren, die ihre Vorgänger hinterlassen hatten.
Harry schluckte, dann nickte er. „Ja", sagte er.
Sie atmete tief aus, einige Sekunden lang einfach sprachlos, weil sie mit dieser Antwort nicht gerechnet hatte. Weil sie diese Antwort nicht verdient hatte. Aber sie hatte sie bekommen und mit diesem einen Wort hatte Harry noch mehr Öl in das schlechte Gewissen gegossen, das wie ein Dämonsfeuer in ihrer Brust loderte. „Danke", hauchte sie trotzdem und senkte den Blick. „Glaubst du …", begann sie, brach aber ab und räusperte sich. „Glaubst du, Ginny wird mir das auch verzeihen können?" Sie zog die Nase hoch.
Harry stand auf und riss ein Stück Küchenpapier von der Rolle. „Ich hoffe, dass Ginny irgendwann an den Punkt kommen wird", sagte er und reichte es ihr.
„Danke", murmelte sie und schnäuzte sich.
„Aber ich wäre dir schon dankbar, wenn du dabei ein bisschen helfen und ihren Brief beantworten würdest."
Hermine verzog das Gesicht.
„Und vielleicht überlegst du dir für sie etwas Besseres als es gibt keinen guten Grund dafür." Er hatte sich wieder auf die andere Seite des Tisches gesetzt und sah sie jetzt intensiv an. „Sie tut sich schwerer mit so was als ich."
Sie schluckte. „Das werde ich", versprach sie. „Und ich … werde auch dich nicht wieder enttäuschen, Harry."
Er nickte knapp.
Dann seufzte sie tief und fuhr sich mit gespreizten Fingern durch die Haare. „Ich hab mein komplettes Leben gegen die Wand gefahren."
„Nein, hast du nicht. Du hast einen Weg gefunden, um Rose zu retten. Ich … will mir nicht vorstellen, was du dafür tun musstest."
„Nein, willst du nicht", sagte sie leise und wich seinem Blick aus.
„Wie genau funktioniert das nun eigentlich? Rose zu retten, meine ich."
„Ähm …" Hermine runzelte die Stirn. „Der Trank wird … eine Verbindung herstellen, über die ihr jemand die Magie … quasi absaugen kann."
Harry zog die Augenbrauen hoch. „Das klingt … grenzwertig irgendwie."
„Ist es", sagte Hermine und schluckte wieder. Drei, vier, fünf Sekunden zogen vorbei, dann sagte sie: „Aber wenn es Rose das Leben rettet, ist mir grenzwertig recht."
„Ja", entgegnete er und sah hinab auf den Tisch. „Ich hoffe, es funktioniert."
„Das hoffe ich auch …"
Weil sie Harry nicht hatte erzählen können, warum sie derzeit auf Magie zu verzichten versuchte, und Evie keine Zeit hatte, machte sich Hermine später selbst daran, das kleine Gästezimmer im Obergeschoss aufzuräumen und zu ihrem Schlafzimmer zu machen. Sie stand mit ihrem Zauberstab in der Hand an der Tür und schüttelte den Kopf, weil ihr das Herz bis zum Hals schlug.
„Es sind nur ein paar kleine Zauber", sagte sie leise. Aber es waren die ersten paar kleinen Zauber seit mehreren Tagen und jetzt, wo das Summen endlich weniger wurde, wollte sie nichts tun, dass es wieder anfachte. Sie musste die richtige Magie nutzen und war sich nicht sicher, ob sie sie sofort wiederfinden würde.
Um ein bisschen Zeit zu schinden, ließ Hermine ihren Blick über das Zimmer wandern. Es war mehr ein Abstellraum als ein echtes Gästezimmer. Einige der Kartons, die hier gestanden hatten, hatte sie schon in den Keller gebracht. Hermine hatte nur flüchtig hineingesehen, hauptsächlich war Kleidung darin gewesen. Eine Art Kleidung, die Moira niemals getragen hätte. Muriel hingegen schon. Hermine hatte im Laufe der Woche Fotoalben gefunden und angesehen. Muriel war eine große, schlanke Frau gewesen, sie hatte Moira fast um einen ganzen Kopf überragt und noch dazu ein Faible für hochhackige Schuhe gehabt. Sie hatte Röcke und Kleider gemocht, aus ihren langen Haaren aufwändige Flechtfrisuren gebunden und viel gelacht. Jedenfalls tat sie das auf den Bildern.
„Ich hoffe, ihr habt euch wiedergefunden", hatte Hermine leise gesagt, als sie ein Bild gefunden hatte, auf dem die beiden Arm in Arm gestanden und in die Kamera gewunken hatten.
Sie holte tief Luft und wandte sich wieder dem Zimmer zu. Hier waren noch mehr Möbel untergebracht als im Keller. Sie fragte sich ernsthaft, woher Moira so viele Möbel hatte. Und warum sie sie nie weggegeben hatte. Hatten sie auch Muriel gehört? Hatte sie ihre eigene Wohnung gehabt, vor der Moira nach ihrem Tod genauso gestanden hatte wie Hermine jetzt vor Moiras Haus?
Hermine festigte den Griff um ihren Zauberstab und wandte sich einer kleinen Kommode aus Nussbaumholz zu. Sekundenlang starrte sie sie an, dann räusperte sie sich, deutete darauf und sagte: „Reducio!" Die Kommode schrumpfte zusammen, bis sie sich gerade noch für ein Puppenhaus geeignet hätte – und das unter dem Einfluss Weißer Magie. Hermine atmete auf und lachte leise.
Mit etwas mehr Zuversicht macht sie sich daran, auch die restlichen Möbel, die hier untergebracht waren, zu schrumpfen und in einen Karton zu räumen. In einer Ecke des Zimmers fand sie sogar ein Bett, das sie sich für die nächste Nacht herrichtete.
Erst als sie zufrieden damit war, wie das Zimmer aussah, spürte sie das Summen in ihren Händen. Der kleine Moment der Freude rächte sich prompt. Sie seufzte und ging nach unten, um etwas von Snapes Gift zu nehmen, bevor sie noch anfing, unbeabsichtigt ihre Lebensenergie zu missbrauchen.
„Mummy!"
Es war wie ein Déjà-vu und Hermine riss überrascht die Augen auf, ehe sie wie von allein in die Hocke ging, um Rose in die Arme zu schließen. „Was macht ihr denn hier?", fragte sie an ihre Eltern gewandt, die vor der Tür standen. „Seid ihr allein?"
Ihre Mutter lächelte bemüht. „Ja, sind wir. Ron hat uns gefragt, ob …" Sie brach ab. „Rose hat dich vermisst und er hat uns einen Portschlüssel organisiert, um mit ihr herzukommen."
Hermine nickte. Ron hatte also einen Weg gefunden, Rose zu ihr zu bringen, ohne dass er sie mit ihr allein lassen oder selbst dabei sein musste. „Kommt doch rein", sagte sie und hob Rose kurzerhand auf den Arm, weil sie nicht den Eindruck machte, als wollte sie sich allzu bald wieder von Hermine lösen.
„Kann Mora mit uns zu die Ferde gehen, Mummy?", fragte sie.
„Ähm … Nein, Mäuschen, das kann Moira leider nicht mehr machen." Sie schluckte. „Moira ist gestorben."
Rose seufzte und schob die Unterlippe vor. „Immer noch? Die ist doch jetzt son so lange gestoben …"
„Ja, immer noch, Mäuschen", sagte Hermine dumpf. „Wenn man mal gestorben ist, kann man damit nicht mehr aufhören."
Ihr Vater zog die Augenbrauen hoch, sagte aber nichts und Hermine wandte schnell den Blick ab.
„Ich will aber die Ferde gucken …"
„Wenn du noch weißt, wo die waren, können wir zusammen hingehen. Was hältst du davon?"
„Oke", sagte sie, als müsste sie sich mit dem Trostpreis zufriedengeben.
„Wo ist der Tee, Mina?", fragte ihre Mutter, als sie ihnen in die Küche folgte.
„Im zweiten Schrank von rechts", entgegnete Hermine und setzte sich mit Rose auf dem Schoß an den Tisch. „Wie geht es euch?", fragte sie vorsichtig.
Anscheinend hoffte ihr Vater, dass seine Frau die Frage beantworten würde, aber Hermines Stimme war so leise gewesen, dass ihre Mutter sie über das Klappern der Tassen gar nicht gehört hatte. Also räusperte er sich und nickte. „Gut gut", sagte er. „Wir haben Susan und Ralph besucht, sie haben einen neuen Hund, einen Neufundländer. Riesiges Tier. Hätte mich beinahe umgeworfen."
„Funländer", sagte Rose leise, als müsste sie das Wort ausprobieren. Ihr Blick hing an den Lippen ihres Großvaters.
Der lächelte, zum ersten Mal, seitdem er hier war. „Neufundländer", wiederholte er.
Ihre Stimme war kaum zu hören, als sie flüsterte: „Neufunländer."
„Na, fast", sagte Hermine und küsste sie auf die Stirn. Es tat so gut, Rose auf dem Schoß zu haben, ihre Stimme zu hören und zu sehen, dass es ihr gut ging, dass es in ihren Augen brannte. In den letzten Tagen hatte sie es sich weitestgehend verboten, an Rose zu denken. Es zerriss sie, nicht bei ihr sein zu können. Nicht zu wissen, wie es ihr gerade ging. Nicht diejenige zu sein, die sie ins Bett brachte oder sie tröstete, wenn ihr der Kopf wehtat.
„Die Küche sieht gut aus", sagte ihre Mutter, als sie mit den Tassen zum Tisch kam und sie vor ihnen verteilte. An ihr vorbei konnte Hermine sehen, dass sie den Gasherd eingeschaltet und einen Teekessel aufgesetzt hatte.
„Danke, Mum." Sie lächelte wacklig.
„Also wirst du hier wohnen bleiben?", fragte ihr Vater.
Hermine schluckte. „Ja, vorerst schon."
„Findest du nicht, dass das ein bisschen weit weg ist von deiner Familie?"
„Christopher", sagte ihre Mutter leise und warf ihm einen strengen Blick zu.
„Es ist nicht weit für Magier", entgegnete Hermine. „Du hast doch eben selbst gemerkt, wie schnell ihr hier wart. Kamin und Apparation dauern auch nicht länger."
„Kamin gehn is' lustich", sagte Rose und kicherte.
„Apparieren nicht so sehr, hm?", fragte Hermine, drückte sie ein bisschen an sich.
Sie kräuselte die Nase. „Nein, 'parieren is' doof."
„Find ich auch", stimmte Hermines Mutter zu und die beiden warfen sich einen verschwörerischen Blick zu.
„Hm", machte ihr Vater.
Hermine seufzte leise. Sie hatte das Bedürfnis, sich bei ihm zu entschuldigen, bis er ihr verzieh, was sie getan hatte, und wieder so mit ihr umging, wie er es immer getan hatte. Ohne die stumme Missbilligung in seinem Blick und in seiner Stimme. Aber hatte sie es verdient, dass man ihr verzieh? Sie hatte jemanden umgebracht. War das nicht unverzeihlich?
Das Pfeifen des Teekessels riss sie aus ihren Gedanken. „Möchtest du auch Tee, Mäuschen, oder lieber einen Saft?"
„Saft!", sagte Rose sofort.
„Im Schrank neben dem Herd", sagte Hermine, als ihre Mutter sie fragend ansah.
„Apfel oder Orange, Rosie?"
„Ähm …", machte Rose und sah zur Decke, während sie überlegte. „Beide!", entschied sie dann.
„Wie, beide?", fragte Hermine.
„Gemisst!" Sie strahlte von einem Ohr bis zum anderen, offensichtlich sehr zufrieden mit ihrer Lösung.
„Na, ob das schmeckt …", murmelte Hermine.
Während ihre Mutter den Saft für Rose in ein Glas füllte, zog ihr Vater einen gefalteten Zettel aus seiner Hemdtasche und legte ihn auf den Tisch. „Das ist alles, was ich online über Michael Peter Dashwood rausgefunden habe. Er war ziemlich mitteilungsbedürftig. MySpace, LiveJournal, sogar Facebook …"
Hermine schluckte und nahm den Zettel, faltete ihn mit zitternden Fingern auseinander und fand darauf viele Zeilen in der schwer zu lesenden Schrift ihres Vaters. „Danke, Dad", sagte sie und legte ihn zurück auf den Tisch. „Ich werd mir das später in Ruhe durchlesen."
Er nickte. „Seinen Internetprofilen nach war er ein guter Kerl, aber das hat ja nicht viel zu heißen …"
„Einmal Apfel-Orangen-Saft für die Dame", unterbrach Sarah das Gespräch der beiden und ersparte Hermine eine Antwort. Sie war sich auch nicht sicher, ob sie dazu etwas hätte sagen können, ohne zusammenzubrechen.
Sie hatten tatsächlich die Pferde besucht (Rose hatte sich bemerkenswert gut an den Weg dorthin erinnern können) und waren danach in den Garten gegangen, als Hermine das Ploppen einer Apparation vor dem Haus hörte. „Ich bin gleich zurück", sagte sie an ihre Eltern gewandt und ging nach vorn. „Professor Snape!"
Er wandte sich zu ihr um, den Mund verzogen, als hätte er einen üblen Geruch in der Nase. „Miss Granger …"
„Haben Sie etwa den Trank fertig?", fragte sie mit großen Augen.
„Sonst wäre ich wohl kaum hier", sagte er ölig.
Sie stieß einen freudigen Laut aus und presste sich die Hand vor den Mund, als sie ihn die Augen verdrehen sah. „Das ist großartig! Meine Eltern sind gerade mit Rose da, wir könnten …"
„Nein", unterbrach er sie mit scharfer Stimme. „Das Ganze ist ein bisschen komplizierter, als Sie sich das denken. Ich komme morgen wieder." Er wirbelte auf dem Absatz herum.
„Nein, warten Sie!", sagte sie eilig. „Ich … Sie können bleiben, ich kann …" Sie wurde unterbrochen von Roses lauter werdender Stimme.
Snape erstarrte.
„Ich hab ein Kefer gefunden, Mummy, guck mal!" Rose lief so schnell, dass sie beinahe über eine kleine Erhebung im Boden stolperte. Als sie bei Hermine angekommen war, öffnete sie ihre verschwitzte Hand und zeigte ihr einen etwas mitgenommen aussehenden Marienkäfer.
„Das ist toll, Mäuschen, aber ich glaube, es geht ihm nicht besonders gut in deiner Hand."
„Warum nich'?" Sie zog die Nase hoch und wischte sich mit dem freien Handgelenk darüber, während sie auf ihre Hand schielte.
„Ihm ist es zu eng und zu warm in deiner Hand, er kann da nicht atmen. Willst du ihn nicht lieber auf ein Blatt setzen, damit er weiterfliegen kann?"
„Nein!", jammerte Rose. „Ich will ihn behalten, Mummy!"
In diesem Moment streckte der Käfer seine Flügel aus und flog davon.
„Nein! Bleib hier! Mummy, er soll hierbleiben!", rief sie.
„Das wird er nicht tun, Mäuschen. Er gehört in die Freiheit." Sie begann zu weinen und Hermine kniete sich auf den Boden und zog sie in ihre Arme. Über Roses Schulter hinweg warf sie Snape einen Blick zu, der sie mit steinerner Miene beobachtete. Erst als sie seinen Blick einfing, blinzelte er und kräuselte ein bisschen die Nase.
„Ich komme morgen her", wiederholte er, nickte ihr zu und disapparierte.
Rose sah sich nach der Stimme und dem Ploppen um. „Wer war das?", fragte sie mit tränennassen Wangen.
„Jemand, der dich gesund machen kann", murmelte Hermine nachdenklich und strich ihr die Haare aus dem verschwitzten Gesicht, bevor sie sie auf die Wange küsste.
