Blutleer

Heathens – Blondfire

Sobald sie vor dem Haus ankamen, erinnerte sich Caroline wieder an die Besitzer, die hier bis letzten Sommer noch gewohnt hatten. Die Familie war nach New York gezogen. Deshalb boten sie das Haus, eine große Villa im Südstaatenstil, zum Verkauf an. Bis jetzt hatten sie aber noch keinen Käufer gefunden. Das Haus stand seit einem knappen halben Jahr leer.

„Irgendwie habe ich mir ein Vampirnest immer anders vorgestellt. So mit Särgen und in einer modrigen Gruft. Ganz bestimmt nicht in einer Luxusvilla," sagte Bonnie auf dem Rücksitz.

„Den Trick hat sie von mir. Immobilienanzeigen in der Zeitung," knurrte Damon und stellte den Motor ab. „Da es keinen Besitzer gibt, muss man auch von niemanden hereingebeten werden."

„Also ist sie sowas wie eine alte Flamme von dir?" Diesmal versuchte Bonnie ihr Glück. Doch sie bekam die gleiche Antwort wie Caroline, nämlich keine.

Die beiden Mädchen folgten Damon den kurzen Weg von der Einfahrt zur Veranda, die um das gesamte Haus führte. Dank seiner Vampirkräfte war es ein Kinderspiel für ihn, die Türklinke mitsamt dem Schloss herauszureißen. Die beiden schweren Holztüren schwangen auf. Lautlos betraten sie eine riesige Eingangshalle aus glänzendem weißen Marmor. Von der Decke hing ein gigantischer Kronleuchter, der in der untergehenden Sonne funkelte wie aus tausend Diamanten. Im ganzen Haus herrschte Stille.

Bonnie pfiff beeindruckt beim Anblick der luxuriösen Einrichtung. „Also Geschmack hat sie."

„Sienna? Sienna, bist du hier?", rief Caroline in die Stille. Ihre Stimme hallte durch den hohen Raum.

Damon bedeutete ihr, leise zu sein. Er blieb mitten in der Halle stehen und neigte den Kopf. „Ich höre was. Ein Herzschlag. Er kommt von oben." Kaum hatte er die Worte ausgesprochen, war er auch schon verschwunden. Caroline konnte verschwommen erkennen, wie er die Treppe hinauf stürmte und verschwand.

Bonnie hatte schneller reagiert. Sie war ebenfalls schon die halbe Treppe hochgelaufen. Caroline folgte ihr eilig.

Am Ende der Treppe gab es eine kleine Galerie und einen langen Gang, der zu beiden Seiten abging. Die Bilder und Möbel entlang des Korridors waren mit weißen Laken verhangen, die Fensterläden waren geschlossen und ließen kaum Licht herein. Genau wie es Vampiren gefiel.

„Sienna... hey... Sienna..."

Damons Stimme kam aus einem der Zimmer zu ihrer Linken. Sie folgten ihr, bis sie auf eine Tür stießen, die offen stand.

Gefolgt von Bonnie betrat Caroline zögernd den Raum. Es musste eines der zahlreichen Schlafzimmer sein, aber das Bett war verschwunden. Möglicherweise hatten es die Besitzer mitgenommen. Die wenigen Möbel im Raum waren mit weißen Tüchern verhangen. Auch hier waren die Fensterläden geschlossen. Orange-rotes Sonnenlicht drang in langen Streifen durch die Facetten und ließ den Raum wie die Tasten eines Klaviers erscheinen.

Caroline stieß einen erschrockenen Schrei, als eine dunkle Gestalt direkt an ihr vorbei gegen die nächste Wand flog. Mit einem Stöhnen sank der Mann zu Boden und sackte in sich zusammen. Caroline fuhr herum, als sie ein tiefes, furchteinflößendes Knurren zu ihrer Linken hörte. Es war Damon, der dieses Geräusch von sich gab, bevor er sich auf den zweiten Mann stürzte. Sein Opfer hatte keine Zeit, sich zu wehren. Ohne zu zögern stieß ihm Damon seine Faust in die Brust und riss sein Herz heraus. Es pumpte noch, als er es achtlos zu Boden warf. Der Mann klappte zusammen und Damon schleuderte ihn zur Seite. Nicht einmal eine Sekunde später packte er den Kopf des ersten Vampirs, der noch immer benommen am Boden lag, und drehte ihn mit einem Ruck zur Seite. Das widerliche Knacken, als sein Genick brach, richtete ihr sämtliche Nackenhaare auf. Aber Damon hatte noch nicht genug. Das Geräusch, als er dem anderen Vampir die Kehle durchbiss, war noch viel schrecklicher. Caroline wurde übel, sie wandte sich hastig ab, um das viele Blut und das widerwärtige Schmatzen der Eingeweide nicht sehen und hören zu müssen. Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Damon hatte völlig die Kontrolle verloren und befand sich auf seinem privaten Rachefeldzug. Was, wenn er sich nicht in den Griff bekam und blind vor Wut alles und jeden tötete, der ihm in den Weg kam? Es war nichts Menschliches mehr an ihm. Wie sollte er in diesem Zustand noch unterscheiden, wer Freund und wer Feind war? Er könnte sie alle umbringen, weil er sich nicht zurückhalten konnte.

Bonnie schien das Gleiche zu denken wie sie, denn sie rief panisch: „Damon, hör auf! Bitte! Hör auf!"

Der Einzige, der ihn womöglich stoppen könnte, wäre Stefan, und er war nicht hier.

„Damon, wir müssen Sienna helfen. Deswegen sind wir hier. Deswegen bist du hier. Hilf ihr!" Bonnies Worte schienen zu ihm durchzudringen. Er stieß den toten Vampir von sich und richtete sich auf. Sein Gesicht war voller Blut, von seinen Fangzähnen tropfte Blut auf den Boden und seine Augen glühten vor Wut. Sein Blick wanderte von ihr zu Bonnie, aber Caroline bezweifelte, dass er in seinem Rausch überhaupt etwas wahrnahm. Doch dann blieb sein Blick an etwas in der Mitte des Raumes hängen. Er gab ein gequältes Stöhnen von sich. Innerhalb eines Wimpernschlags waren die Fangzähne verschwunden, genau wie die Adern in seinem Gesicht. Plötzlich stand Sorge in seinem Blick.

Caroline hörte ein leises Schluchzen und fuhr herum. Sie zuckte erschrocken zusammen. Mitten im Raum stand ein antiker Stuhl. Darauf saß zusammengesunken eine Frau. Man hatte sie an Händen und Füßen an den Stuhl gefesselt und ihre dunklen Haare hingen ihr strähnig ins Gesicht. Sie schien bewusstlos zu sein. Auf dem Boden war überall Blut.

„Oh mein Gott," hörte sie Bonnie sagen. „Ist das Sienna?"

Caroline stürzte zu Damon, der bereits vor dem Stuhl kniete und die Fesseln an ihren Handgelenken löste.

„Oh nein, ist sie...?" Caroline konnte es nicht aussprechen. Sie wollte nicht glauben, dass sie zu spät waren. Noch nicht. Nein. Nein. Nein. Bitte nicht.

Doch Damon schüttelte den Kopf. „Sie lebt noch, ich kann ihr Herz schlagen hören, aber es ist sehr schwach. Sie hat viel Blut verloren." Er beugte sich zu ihr, nahm ihren Kopf in beide Hände und hob ihn behutsam hoch. „Sienna, kannst du mich hören? Bitte mach die Augen auf."

Bonnie hatte inzwischen die Fesseln an ihren Füßen gelöst. Sienna sank leblos in sich zusammen. Damon fing sie in seinen Armen auf, hob sie aus dem Stuhl und legte sie vorsichtig auf den Boden. „Sienna, wach auf. Bitte. Komm schon. Sienna. Sienna!" Caroline hörte die Angst und die Verzweiflung in seiner Stimme, die ausdrückte, was sie fühlte. Zärtlich und unglaublich vorsichtig strich er mit zitternden Fingern die Haare aus ihrem Gesicht und blickte sie voller Sorge an. Sienna war kalkweiß, ihre Lippen schimmerten blau.

„Komm schon. Tu mir das nicht an."

Panisch flogen seine Augen über ihr Gesicht auf der Suche nach einem Lebenszeichen. Caroline hatte ihn noch nie so hilflos und ängstlich erlebt.

Plötzlich begannen Siennas Lider zu flattern. Mühsam schlug sie Augen auf, aber sie schien Damon nicht zu erkennen, denn sie zuckte erschrocken vor ihm zurück. Damon atmete erleichtert aus, bevor er mit einer Hand ihre Wange umfasste. „Sht, alles wird gut. Du bist in Sicherheit."

„Damon?", flüsterte Sienna kaum hörbar.

„Ja, ich bin hier. Ich bin hier." Ein erstaunlich süßes Lächeln erschien auf seinem Gesicht, während sein Daumen ihre Wange streichelte. Caroline fühlte, wie sich ihr Herz in ihrer Brust zusammenzog. Er empfand wirklich etwas für Sienna.

Sienna begann zu husten. Neues Blut tropfte auf den Parkettboden. Damon zog sie in seine Arme und hielt sie fest gegen seine Brust gedrückt. Er wiegte sie sanft in seinen Armen, bis der Anfall vorüber war. Erst jetzt sah Caroline, wie blass ihre Freundin war. Ihre Haut war fast durchscheinend, die Wangen eingefallen und die Lippen blau. Sie entdeckte Einstichwunden an ihren Ellenbogen und ihrem Hals, die mit Blut verkrustet waren.

„Sie wollte mein Blut," keuchte Sienna. „Sie sagte, es wäre besonders."

Damon hielt inne und sah auf sie herab. „Sht, nicht reden. Darum kümmern wir uns später. Erst mal musst du gesund werden. Du hast viel Blut verloren. Ich kann dir helfen. Bitte, Sienna. Lass mich dich heilen."

Sienna holte tief Luft. Es sah aus, als würde es ihr unendlich viel Kraft kosten. Sie schloss die Augen, dann nickte sie.

Mit angewidertem Gesicht beobachtete sie, wie Damon sich ins Handgelenk biss und es gegen Sienna Lippen presste. Nach einem kurzen Zögern umklammerte sie sein Handgelenk und zog es näher an sich heran. „So ist es gut," flüsterte er. „Trink." Als sie anfing, stärker daran zu saugen, entzog er ihr seinen Arm. Geradezu liebevoll wischte er ihr sein Blut von den Lippen. „Du wirst wieder gesund werden. Versprochen." Er gab ihr einen keuschen Kuss auf die Stirn.

Caroline zog erschrocken die Luft ein, als sie bemerkte, dass Sienna wieder das Bewusstsein verloren hatte.

„Was hast du getan?", fragte sie angsterfüllt.

Damon hob sie wieder in seine Arme. Er warf Caroline nur einen kurzen Blick zu. „Es geht ihr gut. Mein Blut wird sie heilen. Sie ist stärker als sie aussieht." Damit trug er sie aus dem Raum.

„Wow," meinte Bonnie. Ihre Stimme klang belegt. „Er hat wohl doch ein Herz. Ich fasse es nicht."

Caroline nickte. „Ja, ich glaube, ich kann ihn jetzt nicht mehr hassen."

Die beiden sahen sich hilflos an.

„Hauptsache, Sienna wird wieder gesund."

„Lass uns gehen. Dieser Ort ist unheimlich."

Caroline warf einen letzten Blick auf den Stuhl, die Fesseln und das Blut auf dem Boden, bevor sie sich beeilte, aus diesem Mörderhaus zu kommen. Damon hatte recht gehabt. Fast wären sie zu spät gekommen. Caroline wollte gar nicht erst darüber nachdenken, was passiert wäre, wenn sie auf Stefan und ihre Mom gewartet hätten.