In der Warteschleife
Waiting – Norah Jones
Caroline und ihre Freunde hatten sich in der Küche der Salvatore Villa versammelt, wo sie alle darauf warteten, dass Damon endlich zu ihnen kam und ihnen versicherte, es wäre alles in Ordnung. Caroline war noch nie in der riesigen Küche gewesen, sie hatte nicht mal gewusst, dass sie existierte. Irgendwie hatte sie immer gedacht, Damon würde sich nur von Bourbon und Blut ernähren, aber diese Küche machte jedem Sternerestaurant Konkurrenz. Es gab einen offenen Kamin mit einem wuchtigen Abzug, den das Familienwappen der Salvatores zierte. Obwohl die Küche altertümlich aussah, gab es alle Annehmlichkeiten des modernen Lebens. Einen großen Gasherd mit einer Kochinsel, einen Backofen an der gegenüberliegenden Wand, sogar eine Mikrowelle. Und eine Stereoanlage auf der Anrichte.
Caroline konnte sich beim besten Willen keinen der beiden Brüder hinter dem Herd vorstellen. Sie ließ ihren Blick über ihre Freunde gleiten, die an dem langen Holztisch saßen und Poker spielten. Bonnie und sie hatten Matt und Jeremy verständigt, nachdem Damon Sienna auf den Rücksitz seines Wagens gelegt und überstürzt davon gerast war. Auf der Fahrt hatten sie Stefan und Elena angerufen. Sie waren sich alle einig gewesen, hierher zu kommen und auf Neuigkeiten zu warten. Stefan war der Einzige, der es gewagt hatte, nach Damon zu sehen. Das war vor Stunden gewesen. Caroline sah zu ihm, wie er gedankenverloren die Spielkarten in seiner Hand sortierte. Als er zu ihnen in die Küche zurückgekehrt war, hatte er nicht viel gesagt. Sienna würde schlafen. Damon war bei ihr und passte auf sie auf. Das war alles. Seitdem horchte sie immer wieder auf Geräusche aus dem oberen Stockwerk, aber es blieb gespenstisch still. Sie hoffte, dass es Sienna gut ging. Damons Gesichtsausdruck, als er Sienna in seinen Armen gehalten hatte, ging ihr nicht mehr aus dem Kopf. Er hatte Angst gehabt. Angst um Sienna. Ausgerechnet Damon, dem alles und jeder egal war. Sie hatte den Ausdruck in seinen Augen gesehen und gewusst, er hätte die ganze Stadt niedergebrannt, um sie zu retten. Jetzt fürchtete sie sich vor seiner Rache, die wahrscheinlich genauso schrecklich werden würde.
Caroline trommelte nervös auf die Tischplatte. Wie konnten ihre Freunde nur so ruhig bleiben? Aber sie hatten auch nicht gesehen, was sie gesehen hatte. Sie sah zu Bonnie. Ihre Freundin hob den Kopf und formte alles in Ordnung? Mit den Lippen.
Caroline nickte. Beim Anblick des Blutflecks auf Bonnies Top bekam sie schon wieder eine Gänsehaut. Damon hatte Sienna sein Blut trinken lassen. Wie eklig war das denn bitte? Und gleichzeitig war es das Intimste, was sie je gesehen hatte. Als wären sie jetzt für immer miteinander durch sein Blut verbunden. Was natürlich völliger Blödsinn war... Caroline wusste von Stefan, dass Vampirblut einen Menschen heilen konnte, solange er nicht bereits an der Schwelle des Todes stand. Eine neue Panikattacke drohte, sie mitzureißen. Sie waren doch rechtzeitig gekommen? Er hatte sie gerettet. Sie hatte gesehen, wie Sienna seinen Arm gegriffen und getrunken hatte. Das war doch ein gutes Zeichen, oder? Damon war hundertfünfzig Jahre alt und stark, also war es sein Blut auch. Es hatte bestimmt geholfen. Warum kam er dann nicht endlich zu ihnen herunter und erlöste sie von ihrem Elend? Caroline seufzte.
„Sie wird es schaffen. Ganz bestimmt." Stefan stand plötzlich hinter ihr und legte ihr die Hände auf die Schultern.
„Ich weiß." Sie kämpfte gegen die Tränen an. „Aber wenn wir nur ein wenig später gekommen wären... wenn Damon auf mich gehört hätte... ich wollte auf dich und meine Mum warten... dann wäre Sienna..."
„Hör auf." Er drückte ihre Schultern. „Das bringt doch nichts, Caroline. Damon hat endlich einmal das Richtige getan und das hat er dir zu verdanken. Ohne dich hätten wir vermutlich ein Dutzend Leichen über die ganze Stadt verteilt. Du hast es geschafft, dass er nicht durchgedreht ist, und dafür bin ich dir sehr dankbar."
Caroline schniefte. „Ja, du hast recht. So habe ich es noch gar nicht gesehen."
„Mach dir nicht so viele Sorgen. Du wirst sehen, es wird alles gut werden. Sienna wird wieder gesund werden und dann gehen wir alle zusammen auf diese gräßliche Party."
Caroline lachte und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. „Abgemacht."
Stefan schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln, bevor er sich wieder setzte und seine Spielkarten aufnahm.
Caroline starrte ins Feuer, das in dem protzigen Kamin brannte, und lauschte auf die leisen Stimmen ihrer Freunde, auf das Knistern des Feuers, auf das Rascheln der Spielkarten. Sie konnte froh sein, solche Freunde zu haben. Und sie wusste, dass ihre Freunde immer für sie da sein würden. Sogar nach der High-School, wenn sie vielleicht alle nicht mehr in Mystic Falls wohnten. Eine Weile hing sie ihren Gedanken nach und konnte sich endlich ein wenig entspannen.
Dabei hätte sie fast versäumt, aufzublicken, als jemand an ihr vorbei zum Kühlschrank ging. Caroline schreckte instinktiv aus ihrer Trance auf. Hoffnungsvoll drehte sie den Kopf und stieß einen kleinen Schrei aus.
Damon stand nur ein paar Meter von ihr entfernt vor dem Kühlschrank, aus dem er wahllos Lebensmittel holte und sie auf der Anrichte neben sich stapelte.
Caroline öffnete bereits den Mund, um ihn mit Fragen zu bombardieren, doch dann entschied sie sich, sich lieber noch einen Moment zurückzuhalten und zu versuchen, anhand seines Gesichtsausdrucks herauszufinden, wie es um Sienna stand. Sofern das überhaupt möglich war. Sie warf einen kurzen Blick in die Runde und erkannte, dass ihre Freunde genau das Gleiche taten. Keiner bewegte sich. Ihr Gespräch war schlagartig verstummt. Spielkarten regungslos in der Hand starrten sie alle zu Damon. Der hatte inzwischen einen Teller aus dem Schrank geholt und klatschte gerade zwei Toastscheiben darauf. Dunkle Schatten lagen unter seinen Augen, seine Wangen wirkten eingefallen und seine Schultern hingen herab, als würde er die ganze Welt auf ihnen tragen. Von seinem sonst so arroganten, vorlauten Auftreten war nichts mehr übrig. Er trug noch immer das gleiche T-Shirt und die Jeans, die er in der Villa getragen hatte. Als er sich umdrehte, um aus einer Schublade ein Messer zu holen, konnte sie den großen Blutfleck auf seiner Brust erkennen. Siennas Blut. Ihr lief ein Schauer über den Rücken. Und auch seine Jeans war mit Blutflecken übersät. Warum hatte er sich nicht umgezogen? Das war irgendwie gruselig und erinnerte sie nur an den schrecklichen Anblick von Sienna, wie sie sie halbtot an diesen Stuhl gefesselt gefunden hatten. Er sah aus, als bräuchte er eine Woche Schlaf und dringend einen Freund.
Bevor sie es sich anders überlegen konnte, erhob sich Caroline von ihrem Stuhl. Der Damon, den sie kannte, wäre mit irgendeinem dummen Spruch in die Küche spaziert und hätte sich über sie alle lustig gemacht. Oder sie beleidigt.
Doch er schien mit seinen Gedanken so weit weg, dass er sie noch gar nicht bemerkt hatte.
Erst als sie ihn leicht an der Schulter berührte, sah er von seinem Teller auf.
„Caroline?", fragte er verwundert. „Du bist noch hier?" Ihr entging nicht, dass er sie bei ihrem richtigen Namen genannt hatte und nicht wie üblich nur Blondie.
„Damon," sagte sie vorsichtig. „Wir sind alle hier." Sie machte einen Schritt zur Seite, damit er ihre Freunde hinter ihr sehen konnte. Die anderen hoben verlegen die Hände zum Gruß. Anhand ihrer Gesichter konnte sie erkennen, dass sie ebenfalls nicht wussten, was sie sagen sollten.
„Oh," war seine einzige Reaktion, bevor er sich wieder dem Toast widmete, Erdnussbutter und Marmelade aufschraubte und anfing, sie unbeholfen auf dem Toast zu verteilen. Er hatte das noch nie gemacht, stellte Caroline fest.
Stefan kam ihr zur Hilfe, klopfte seinem Bruder auf den Rücken. „Hey, alles klar?"
Damon nickte und machte eine nichtssagende Handbewegung.
„Was machst du da?"
„Sienna sollte was essen... ich dachte, ich mach ihr ein Sandwich... aber ich weiß nicht, was sie mag... essen Italiener Erdnussbutter?"
Damon starrte unschlüssig auf das Sandwich vor ihm.
„Hier, trink erst mal was. Du siehst grauenhaft aus." Stefan drückte ihm ein Glas in die Hand. Er leerte es in einem Zug und nahm Stefan die Flasche ab, um noch einen weiteren, großen Schluck zu nehmen.
„Das kann ich übernehmen... wenn du willst," mischte sich Caroline ein. „Vielleicht wäre eine Suppe für den Anfang besser. Etwas leichtes..."
Damon sah sie mit großen Augen verwundert an, als hätte sie gerade eine geniale Idee verkündete.
„Ja! Ja, das ist gut! Suppe! Wieso bin ich da nicht drauf gekommen?"
Damon toastete ihr mit der Flasche zu, machte auf dem Absatz kehrt und war schon halb aus der Küche.
Alle Anwesenden gaben ein erschrockenes Keuchen von sich. Sie hatten alle seit Stunden auf ein Lebenszeichen von Sienna gewartet und jetzt wollte er sie weiter im Ungewissen lassen? Das würde sie nicht zulassen.
„Damon," rief Caroline hastig.
Er blieb im Türrahmen stehen, wartend.
„Bitte sag uns, wie's Sienna geht. Wir machen uns alle große Sorgen, aber wir wollten euch nicht stören. Wir sind schon seit Stunden hier. Bitte sag uns die Wahrheit. Wir sind ihre Freunde..."
Er nickte, drehte sich zu ihnen um. „Sie ist noch sehr schwach, aber sie war kurz wach. Ich hab ihr gesagt, was passiert ist, und jetzt kann sie es gar nicht erwarten, Katherine in den Arsch zu treten." Er zuckte mit den Schultern, trank aus der Flasche. „Und sie hat mich nicht umgebracht, weil ich ihr mein Blut gegeben habe, was soviel heißt wie, dass sie noch nicht klar bei Verstand ist. Denn sonst hätte sie mir mit bloßen Händen das Herz herausgerissen."
Caroline schüttelte mehrmals den Kopf. Sie verstand nur die Hälfte von dem, was er sagte. Aber sie vermutete, dass dieses wirre Gerede wohl seine Art war, ihr zu sagen, dass es Sienna besser ging. „Sagst du ihr, dass wir alle an sie denken und für sie da sind?", sagte sie. Und als sie die Dankbarkeit in seinen Augen sah, fügte sie hinzu: „Und für dich auch."
„Machst du jetzt diese Suppe oder waren das nur leere Versprechungen?", gab er zurück und marschierte aus der Küche. Doch es war nicht schnell genug gewesen. Vor Caroline hatte er die Überraschung und die Verbundenheit in seinem Blick nicht verbergen können.
„Aber..." Die Enttäuschung traf Caroline wie ein Schlag ins Gesicht. So hatte sie sich diese Unterhaltung nicht vorgestellt. So... einseitig. Wieso hatte sie das Gefühl, genauso schlau wie vorher zu sein? Stattdessen hatte sie sich von Damon überreden lassen, eine verdammte Suppe zu kochen. Wer glaubte er eigentlich, wer er war? Nur weil er ihrer Freundin das Leben gerettet hatte, konnte er sie noch lange nicht rumkommandieren. Sie war doch nicht sein Hausmädchen!
Andererseits wertete sie die Tatsache, dass sie wieder wütend auf ihn sein konnte, als gutes Zeichen. Wenn sie wütend sein konnte, dann war sie nicht mehr so panisch und besorgt.
„Hast du nicht gesagt, er hätte sich geändert?" ätzte Jeremy, der mit Matt das Kartenspiel am Laufen hielt.
„Wenn er uns nicht hier haben will, dann soll er es gefälligst sagen," stimmte Matt zu.
„Hey, ihr wisst doch, wie Damon ist..." versuchte Stefan zu beschwichtigen.
„Ja, er ist ein Arsch!" gab Jeremy zurück.
„Glaubt er wirklich, dass er Sienna mit einem Erdnussbutter-Sandwich rumkriegen kann?" Bonnie schüttelte ungläubig den Kopf.
„Und sie kann sich gar nicht wehren, weil sie so schwach ist."
„Hey, Leute, ihr seid gemein!" rief Caroline, die plötzlich wieder Mitleid hatte. Keiner von ihren Freunden war in dem leerstehenden Haus dabei gewesen. Seine Sorge war echt gewesen, daran hatte sie keinen Zweifel. Und Sienna war so erleichtert gewesen, als sie ihn erkannt hatte. „Helft mir lieber, diese blöde Suppe zu kochen! Ich hab nämlich keine Ahnung."
„Warum hast du es dann vorgeschlagen?" stöhnte Matt.
„Ich kann das übernehmen," bot sich Bonnie an. „Aber ich brauche deine Hilfe, Stefan. Du kennst dich besser in deiner Küche aus als ich.
„Das kann Elena übernehmen. Sie kennt sich genauso gut aus. Ich werde mal nach Damon sehen. Er steht gerade ein klein wenig neben sich."
„Ich komme mit!" beeilte sich Caroline zu rufen.
Stefan hob zweifelnd eine Augenbraue. „Caroline," seufzte er. „Ihr beide hasst euch. Ich glaube nicht, dass Damon dich im Moment in seiner Nähe haben will. Und wenn du ehrlich bist, dann ist es dir auch lieber, wenn er nicht in deiner Nähe ist. Also..."
„Aber ich habe mich noch gar nicht bei ihm bedankt," unterbrach sie ihn hastig. „Was er heute getan hat, war... ich weiß auch nicht... so nicht-Damon-mäßig. Er hat Sienna das Leben gerettet und dafür sollte ihm jemand danken."
„Denkst du nicht, dass dieser jemand Sienna sein sollte?" argumentierte Stefan.
„Ja, schon, aber... es kann doch nicht schaden, wenn es noch jemand macht. Vielleicht merkt er dann ja, was für tolle Freunde er haben könnte, wenn er nicht immer so ein Ekel wäre. Vielleicht ändert er sich - für Sienna."
„Du bist ein unverbesserlicher Optimist, Caroline," meinte Stefan mit einem Lächeln. „Aber ich habe schon so oft gehofft, dass Damon wieder zu dem wird, der er vor seiner Verwandlung war, und zu mir zurückkehrt. Nur um nach ein paar Wochen oder Monaten oder Jahren festzustellen, dass er wieder in sein altes Muster der Selbstzerstörung zurückfällt. Inzwischen habe ich die Hoffnung endgültig aufgegeben."
„Lass sie doch, Stefan," mischte sich Matt ein. „Ich wette, es dauert keine fünf Minuten, bis Damon sich wieder daneben benimmt und Caroline eines besseren belehrt."
Stefan hob in einer angedeuteten Friedensgeste die Hände. „Also gut, aber sag hinterher nicht, ich hätte dich nicht gewarnt."
Caroline schenkte Bonnie noch ein dankbares Lächeln, die bereits einen Topf mit Wasser auf den Herd gestellt hatte und mit Elenas Hilfe den Kühlschrank plünderte.
