Kontrollverlust
Radioactive – Imagine Dragons
Caroline folgte Stefan durch die Empfangshalle und die Bibliothek ins Wohnzimmer. Damon war nirgendwo zu sehen. „Meinst du, er ist wieder nach oben gegangen?"
„Nein, ich glaube, ich weiß, wo er ist. Komm mit." Stefan war sich ziemlich sicher, wo er seinen Bruder finden würde. „Willst du es dir nicht noch einmal überlegen? Es wird dir vermutlich nicht gefallen, Car."
Sie verschränkte die Arme vor der Brust und reckte das Kinn vor. „Keine Chance."
„Okay." Stefan nickte, bevor er ihr bedeutete, ihm zu folgen.
Erst als sie sah, wohin er ging, geriet ihre Entscheidung ins Wanken. Es war der Keller. Caroline war noch nie hier unten gewesen. Zum Glück. Der Keller entsprach schon eher ihrer Vorstellung von einer Vampirhöhle als die riesige Villa darüber. Sie liefen durch dunkle, gemauerte Gänge und an schweren Holztüren vorbei, die sie an Gefängnistüren erinnerten. Bestimmt gab es hier Ratten und noch alles andere an Getier, das sich in der Dunkelheit herumtrieb. Caroline zwang sich, sich auf Stefan zu konzentrieren, der vor ihr lief, und starrte stur auf einen Punkt zwischen seinen Schulterblättern. Plötzlich blieb er vor einer der Kerkertüren stehen und sie wäre fast in ihn hineingerannt. Sie blieb eilig stehen. Stefan zog die Tür mit einer Leichtigkeit auf, als würde sie nichts wiegen, und trat in den Raum dahinter. Misstrauisch spähte sie um die Ecke. Es war tatsächlich eine Gefängniszelle. Für Vampire. In die Wände waren schwere Eisenringe eingelassen, an denen dicke Eisenketten angebracht waren. Bei dem Anblick richteten sich Carolines Nackenhaare auf. Sie machte einen zögernden Schritt in die Zelle. Stefan war irgendwo in den dunklen Schatten verschwunden. Sie hörte das Rasseln von Ketten. Eine Sekunde später tauchte Damon im Licht der einzelnen Glühbirne auf, die von der Decke hing. Er schleifte mehrere der Eisenketten über den Boden zu den Ringen an der Wand. Auf halben Weg hielt er kurz inne, warf eine leere Blutkonserve auf den Boden und fuhr mit dem fort, was auch immer er vorhatte. Mit Schrecken entdeckte Caroline das gute Dutzend leerer Plastikbeutel, das bereits das gleiche Schicksal wie die Blutkonserve in seiner Hand geteilt hatte. Damon verband die Ketten in seiner Hand mit den Ringen an der Wand und zerrte prüfend daran. Seine Bewegungen waren geradezu getrieben, so als müsse er die Energie irgendwie los werden. Caroline wagte sich einen weiteren Schritt vor. Doch Stefan kam ihr zuvor, packte seinen Bruder bei den Schultern und drehte ihn zu ihnen herum. Caroline erschrak, stolperte rückwärts. Damons Lippen waren rot verfärbt und Blut tropfte aus seinem Mundwinkel.
„Damon, was wird denn das?" Wollte Stefan wissen. Seine Stimme klang beschwichtigend, als wolle er ein wildes Tier davon abhalten, sich auf ihn zu stürzen.
„Ich werde sie austrocknen, genau wie sie es mit Sienna getan hat, und dann werde ich ihr die Kehle herausreißen." In Damons Augen stand pure Mordlust.
„Wem?"
„Katherine."
„Katherine? Katherine hat das getan?" Staunte Stefan.
Damon schnappte sich eine neue Blutkonserve, die auf einem Felsvorsprung gelegen hatte, zusammen mit einem ganzen Stapel weiterer Beutel. „Ja, genau. Sie hat sich als Elena ausgegeben, hat Sienna in einen Hinterhalt gelockt und sie ausbluten lassen. Und dann hat sie sie halbtot zurückgelassen, um mir eine Botschaft zu schicken. Diese miese, selbstsüchtige..." Er schlug mit der Faust gegen die Wand. Von der Wucht des Einschlags fielen mehrere Steine zu Boden. „Und ich werde ihr genau das gleiche antun. Ich werde ihr jeden Knochen im Leib brechen. Diesmal ist sie zu weit gegangen."
Stefan hielt ihn an den Schultern fest, als er erneut gegen die Wand schlagen wollte. „Sei vernünftig, Damon. Allein hast du keine Chance gegen Katherine. Das weißt du. Sie ist viel älter und stärker als jeder von uns. Und sie ist gerissen. Wir brauchen einen Plan. Du wirst dich nur selbst umbringen, wenn..."
„Verflucht, Stefan, Sienna wäre fast gestorben! Und es ist meine Schuld!" Damon befreite sich aus Stefans Griff, sank gegen die Wand und rutschte zu Boden.
„Seit wann hast du denn ein Gewissen? Das ist ja mal was ganz neues."
„Fahr zur Hölle!"
„Oder liegt es vielleicht daran, dass du nicht gern teilst. Du willst sie für dich, habe ich recht? Damit du überall damit prahlen kannst, altes Blut getrunken zu haben."
Mit einem wütenden Brüllen stürzte sich Damon auf seinen Bruder. Die beiden gingen zu Boden, rollten durch den Staub, Fäuste flogen und trafen auf Knochen.
„Aufhören!" Schrie Caroline, die ernsthaft befürchtete, dass die beiden sich umbrachten. Auch wenn das nicht möglich war.
Die beiden schlugen minutenlang aufeinander ein, bevor sie endlich außer Atem neben einander liegen blieben. Caroline wünschte sich, der Boden würde sich unter ihr auftun und sie verschlucken. Sie wollte nicht hier sein, sie wollte mit diesem Bruderstreit nichts zu tun haben. Da sie keine Geschwister hatte, wusste sie nicht, ob diese Prügelei ernst war oder ob die Brüder nur Druck ablassen mussten.
Damon hielt sich den Unterkiefer. „Du hast noch immer einen fiesen rechten Haken, Stefan."
„Und du kämpfst noch immer nicht fair, Damon." Aus Stefans Nase tropfte Blut.
Sobald sich ihr Atem beruhigt hatte, halfen sie sich gegenseitig auf und fürs erste schien das Testosteron im Keller unter Kontrolle. Stefan klopfte sich den Schmutz von der Jeans und wischte sich das Blut aus dem Gesicht. Damon schüttelte den Kopf wie ein nasser Hund und streckte sich. „Es geht doch nichts über eine gute alte Prügelei unter Brüdern."
Plötzlich fiel sein Blick auf Caroline. „Was macht Blondie denn hier?" Er hatte noch immer diesen wilden Ausdruck in den Augen, der ihr gar nicht gefiel. Caroline bemerkte, wie Stefan sich schützend vor sich stellte. „Sie wollte sich bei dir bedanken. Weil du Sienna gerettet hast."
„Wollt ihr mich verarschen?" fauchte er. Bevor Caroline wusste, wie ihr geschah, stand Damon direkt vor ihr. Sie wollte davon laufen, aber ihre Beine gehorchten ihr nicht mehr. Außerdem wäre er viel schneller als sie und sie hätte keine Chance. Stattdessen stand sie starr vor Schreck vor ihm wie ein Reh im Scheinwerferlicht. Er packte blitzschnell ihren Hals, drückte zu und hob sie hoch. Sie zappelte hilflos mit den Füßen und wand sich in seinem Griff. Sie bekam keine Luft mehr. Ihre Lungen brannten wie Feuer. Sie wollte schreien, aber sie konnte es nicht, weil er ihr die Luftröhre abdrückte.
„Bitte..." krächzte sie hilflos. Ihre Hände klammerten sich an sein Handgelenk, versuchten, seinen Griff zu lösen.
„Damon! Hör auf!" rief Stefan und seine Stimme klang nicht mehr so ruhig wie gerade noch. Er wollte seinen Bruder zur Seite stoßen, aber Damon bewegte sich keinen Zentimeter, starrte sie nur mit diesen eiskalten Augen an.
„Wenn sie nicht gewesen wäre und mich die ganze Zeit mit ihrem moralischen Gequatsche aufgehalten hätte, dann würde Sienna jetzt nicht halbtot in meinem Schlafzimmer liegen, sondern wir hätten sie schon viel früher gefunden." Seine Hand um ihren Hals verstärkte sich. Caroline fühlte, dass sie gleich ohnmächtig werden würde. Vor ihren Augen tanzten helle Lichtpunkte.
„Lass sie los, Damon. Oder ich breche dir das Genick."
Er hörte seinem Bruder gar nicht zu, sondern starrte Caroline weiter mit diesem tödlichen Blick an. „Fünf Minuten später und sie wäre tot gewesen und das ist deine Schuld."
„Das ist nicht Katherine, Damon. Das ist Caroline, unsere Freundin. Lass deine Wut nicht an ihr aus. Sie kann nichts dafür. Hast du mich verstanden? Sie ist nicht Katherine," versuchte Stefan weiter, zu ihm durchzudringen.
Caroline lief die Zeit davon. Ihr Herz raste in ihrer Brust, während es verzweifelt versuchte, das letzte bisschen Sauerstoff in ihrem Blut durch ihren Körper zu pumpen. So hatte sie sich ihren Tod nicht vorgestellt. So sinnlos und im Affekt. Und kampflos. Damon würde sie umbringen, weil er sich nicht mehr unter Kontrolle hatte, und sie konnte nichts dagegen tun. Sie würde nur ein weiterer Name auf seiner langen Liste an Opfern sein.
„Verdammt, Damon, das reicht jetzt!" brüllte Stefan, packte den Kopf seines Bruders und riss ihn ruckartig zur Seite. Das widerliche Knacken jagte Caroline einen Schauer über den Rücken. Zeitgleich erschlaffte seine Hand um ihren Hals und er sackte leblos zu Boden.
Stefan war sofort bei ihr und fing sie auf, als ihre Knie nachgaben. Caroline brach in Tränen aus und warf sich in seine Arme. Sie konnte das Schluchzen nicht unterdrücken, als der Schock sie überwältigte. Stefan drückte sie fester an sich. „Schon gut, es ist vorbei. Alles in Ordnung. Dir kann nichts mehr passieren."
„Er wollte mich umbringen, Stefan!" stieß sie zwischen zwei heftigen Schluchzern hervor.
„Ich weiß, Caroline. Ich weiß." Er strich ihr beruhigend übers Haar. „Damon ist gerade nicht er selbst."
„Wie hatte ich nur jemals denken können, er wäre kein Monster! Ich habe ihm nichts getan und er... er wollte mich umbringen."
„Ich lass nicht zu, dass er dir etwas antut. Versprochen."
„Wieso tut er das? Warum lässt er niemanden an sich heran? Ich dachte wirklich, wir könnten miteinander auskommen. Du hättest ihn in der Villa sehen sollen. Er war so besorgt, aber gleichzeitig so besonnen und absolut furchtlos. Du hättest sein Gesicht sehen sollen, als er Sienna befreit hat. Er war so menschlich. Warum kann er nicht immer so sein? Warum behandelt er mich nicht wie er Sienna behandelt?"
„Ich weiß es nicht, Caroline. Irgendetwas, was wir nicht verstehen, verbindet die beiden. Aber ich weiß, dass Damon immer zerstört, was ihm zu nahe kommt. Normalerweise bin das ich. Diesmal warst du es. Irgendwie bist du ihm unter die Haut gegangen, also hat er um sich geschlagen. Vielleicht solltest du dich erst mal von ihm fern halten, bis er sich wieder beruhigt hat."
Caroline nickte und blickte niedergeschlagen auf Damons leblosen Körper auf dem Boden. „Ist er... ist er tot?"
„Ja, aber das ist er schon seit hundertfünfzig Jahren. Er wird bald wieder zu sich kommen und dann wird er ziemlich angepisst sein. Wir sollten also schnell von hier verschwinden." Stefan legte den Arm um ihre Schultern und führte sie aus der Zelle. „Du hast nichts falsch gemacht, Caroline. Lass dir das nicht von ihm einreden. Ohne deine Vernunft hätten wir jetzt ein viel größeres Problem und deine Mum müsste wieder ungeklärten Todesfällen nachgehen."
„Du hast recht." Zum Glück war Stefan bei ihr gewesen, sonst würde sie jetzt nicht auf ihren eigenen beiden Beinen den Keller verlassen. Der Schrecken steckte ihr noch in allen Knochen und sie war froh, als sie wieder zu ihren Freunden in die Küche zurückkehren konnte. Bonnie musterte sie besorgt, aber sie schüttelte nur den Kopf. Ihr waren Carolines gerötete Augen und die tränennassen Wangen natürlich nicht entgangen.
„Alles in Ordnung, Car?" erkundigte sich Matt, der gerade ein paar Holzscheite im Kamin nachlegte.
„Ja, mir geht's gut. War nur alles ein bisschen viel."
„Das wird schon wieder," sagte Stefan. Sie war dankbar, dass er die Geschehnisse im Keller für sich behielt. Er ging zu Elena und sprach leise zu ihr.
„Die Suppe ist fertig. Willst du sie mit mir nach oben bringen?" Bonnie goss mit einer Kelle die Suppe in den Teller und stellte ihn auf ein Tablett.
Caroline suchte Stefans Blick, aber der nickte ihr aufmunternd zu.
„Du wolltest doch Sienna die ganze Zeit sehen. Jetzt kannst du es," meinte er, was wohl soviel hieß wie Damon würde noch eine Weile außer Gefecht sein.
Elena stellte noch ein Glas Orangensaft auf das Tablett. „Du musst uns dann unbedingt Bericht erstatten. Wir sollten nicht alle auf einmal neben ihrem Bett auftauchen. Wenn jemand nach ihr sehen sollte, dann du. Mit deinem Optimismus kannst du sie bestimmt am besten aufmuntern. Und sag ihr auf jeden Fall schöne Grüße von uns."
„Okay, wenn ihr meint..." Caroline half Bonnie mit dem Tablett und dann machten sie sich auf den Weg ins obere Stockwerk.
