Suppenbekenntnisse

Yellow – Coldplay

Das Klirren von Geschirr direkt neben meinem Ohr weckte mich aus einem traumlosen Schlaf. Ich wusste nicht, wie lange ich geschlafen hatte, aber es fühlte sich wie nicht mehr als zehn Minuten an. Meine Lider waren bleischwer, aber ich zwang mich, sie dennoch zu öffnen. Hoffentlich bekam ich nicht wieder eine kostenlose Karussellfahrt. Ich blinzelte ein paar Mal, machte mich für das Schwindelgefühl bereit. Alles blieb ruhig. Das Bett schwankte nicht und auch meine Umgebung blieb an Ort und Stelle. Wow, das war schon mal ein Fortschritt. Ich öffnete den Mund, um Damon die frohe Botschaft zu überbringen, doch er saß gar nicht an meinem Bett.

Stattdessen blickte ich in die besorgten Gesichter von Caroline und Bonnie.

„Was macht ihr denn hier?", wunderte ich mich.

„Hey, du bist wach," rief Caroline freudig. „Wir haben dich doch nicht geweckt, oder? Das wollten wir nicht. Aber wir haben dir Suppe gemacht." Mein Blick folgte ihrem Finger, der auf das Tablett auf dem Nachttisch deutete. Also daher war das Klirren gekommen.

„Oh, vielen Dank. Das ist lieb von euch." Ich setzte mich vorsichtig auf. Immer noch kein Schwindel. Ich war begeistert.

„Wie geht's dir?", fragte Bonnie, die hinter Caroline stand, die Damons Platz auf dem Stuhl eingenommen hatte.

„Besser. Ich bin noch etwas benommen, als hätte ich den schlimmsten Kater meines Lebens, aber ich habe keine Schmerzen. Und dieses Beruhigungsmittel ist der Wahnsinn!"

Caroline warf mir einen verwirrten Blick zu. „Wir haben dir nichts gegeben. Das muss Damon gewesen sein."

„Vielleicht hat er mich auch einfach betrunken gemacht," scherzte ich, aber keine von ihnen lachte. Kein Beruhigungsmittel. Interessant. Dann musste sein Blut diese Wirkung auf mich haben.

Caroline beeilte sich, das Tablett in meinen Schoss zu platzieren. „Hier, du solltest sie essen, solange sie heiß ist. Bonnie hat sie gemacht."

Ich griff nach dem Glas mit Orangensaft und trank es gierig aus. Eigentlich hatte ich gar keinen Hunger, sondern war nur völlig ausgetrocknet. Aber ich wollte Bonnie nicht enttäuschen. Ich nahm den Löffel, tauchte ihn in die goldgelbe Suppe und schob ihn in den Mund. Die Suppe schmeckte köstlich. Cremig und dennoch würzig mit einer ganz eigenen Note.

„Hmmm," machte ich. „Lecker."

Bonnie lächelte geschmeichelt und strich sich ihr Haar zurück. „Danke. Ist ein Rezept meiner Grams."

Ich sah sie fragend an. „Grams?"

„Meiner Großmutter," erklärte sie.

„Ah! Meine Nonna hat die besten Canoli der Welt gemacht."

„Nonna heißt Großmutter auf italienisch?", vermutete Bonnie.

Ich nickte, während ich weiter die Suppe in mich hineinlöffelte. Caroline und Bonnie beobachteten mich freudestrahlend. Sie schienen wirklich erleichtert, dass es mir besser ging. Nur Caroline sah immer wieder ängstlich über ihre Schulter, als ob sie befürchtete, jeden Moment erwischt zu werden. Als dürfte sie nicht hier sein. Was total lächerlich war. Ich freute mich über ihren Besuch. Dank der Suppe fühlte ich mich schon kräftiger.

Bonnie wirkte deutlich entspannter. Und als ich Caroline genau ansah, konnte ich erkennen, dass ihre Augen gerötet waren und ihre Wimpern noch feucht. Sie hatte geweint.

Ich legte den Löffel zur Seite und griff nach ihrer Hand. „Es geht mir gut," versicherte ich ihr mit einem Lächeln.

„Du hast uns einen Riesenschrecken eingejagt. Zum Glück hat uns Matt sofort verständigt, als du zur Nachhilfestunde nicht gekommen bist. Ich hab gleich gewusst, dass da etwas nicht stimmt."

„Wir haben uns aufgeteilt und die ganze Stadt auf den Kopf gestellt. Dann hat uns einer von Jeremys Klassenkameraden gesagt, dass er dich mit Elena vor dem Coffeeshop gesehen hat. Aber Elena war die ganze Zeit bei Stefan. Da war uns klar, dass du entführt wurdest," erklärte Bonnie.

„Und wie habt ihr mich gefunden?"

„Wir waren in dieser Gasse. Da war Blut auf dem Boden. Zwei Minuten später war Damon hinter einer Metalltür verschwunden, die in eine ziemlich heruntergekommene Bar führte. Dann hat er diesen Typen gefoltert, bis er verraten hat, wo du festgehalten wurdest. Es war kein schöner Anblick," meinte Bonnie und rümpfte die Nase.

„Wir wollten ihn aufhalten, aber er war völlig außer Kontrolle. Irgendwie hat er gewusst, dass wir keine Zeit verlieren durften. Tut mir leid," fügte Caroline mit einem verlegenen Lächeln hinzu.

„Nein, mir tut es leid, dass ich euch soviel Ärger bereite."

„Ja, das ist jetzt schon das zweite Mal, dass du uns so einen Schrecken einjagst. In Zukunft werden wir besser auf dich aufpassen müssen."

Ich hatte die Suppe aufgegessen und schob das Tablett von mir.

„Ich fühl mich schon gleich viel besser. Danke für die Suppe."

„Na bitte! Ich hab gleich gesagt, dass eine Suppe das richtige ist. Damon wollte dir ein Erdnussbuttersandwich machen. Kannst du dir das vorstellen?" Caroline verzog angewidert das Gesicht.

„Ich mag Erdnussbutter," meinte ich, ohne nachzudenken.

Die beiden blickten mich unschlüssig an.

„Wo ist Damon?", erkundigte ich mich, weil ich erwartet hatte, dass er hier sein würde, wenn ich aufwachte. Nicht Caroline und Bonnie.

„Oh, äh, er ist unten in der Küche mit den anderen und isst mit ihnen. Ich bin sicher, er ist bald zurück," sagte Caroline und ihre Wangen verfärbten sich. Bonnie warf ihr einen verwunderten Blick zu. Ich wurde das Gefühl nicht los, dass mich meine Freundin gerade anlog.

„Geht es ihm gut?", hakte ich nach.

„Ja, klar. Du kennst doch Damon. So leicht ist er nicht kleinzukriegen. Freust du dich nicht, uns zu sehen?", lenkte Caroline ab.

„Doch, natürlich, tut mir leid. Es ist schön, euch zu sehen. Und er sollte wirklich etwas essen. Er war ganz blass."

Bonnies Augenbrauen verschwanden in ihrem Haaransatz. „Machst du dir etwa gerade Sorgen um Damon?" Sie klang, als hätte ich gerade behauptet, dass die Erde eine Scheibe wäre.

Ich zuckte verlegen mit den Schultern.

„Sienna, hat dir Damon eigentlich erzählt, was passiert ist?", wollte Caroline wissen und sah mich eindringlich an.

„Du meinst, dass er mir sein Blut gegeben hat, um mich zu heilen. Ja, das hat er mir gesagt."

„Dann weißt du also, dass er – "

„Ein Vampir ist?" Ich nickte.

„Aber – "

„Ich weiß es schon eine ganze Weile."

Die beiden starrten mich mit großen Augen und offenem Mund an.

„Dann gibt es in Italien also auch Vampire?", staunte Caroline.

Ich nickte wieder. „Bitte seid mir nicht böse, aber können wir ein anderes Mal darüber reden? Ich bin noch ganz benommen. Vielleicht sollte ich noch etwas schlafen." Das war nicht mal gelogen. Außerdem hatte ich keine Lust, jetzt über meine Familie und mein Erbe zu sprechen. Viel lieber wollte ich herausfinden, was Katherine mit meinem Blut vorhatte.

„Oh!", machte Caroline. „Bitte entschuldige. Wir sollen dir ganz liebe Grüße von den anderen ausrichten. Sobald du dich besser fühlst, werden sie dich besuchen kommen. Und von Alaric soll ich dir sagen, dass er vorbeischaut, sobald er in der Schule fertig ist."

„Danke, das ist lieb." Ich kuschelte mich tiefer unter die Decke. „Ihr seid alle so nett zu mir."

„Alle denken an dich, Sienna. Werd bitte schnell wieder gesund." Bonnie drückte meine Hand.

„Ich geb mir Mühe." Erschöpft schloss ich die Augen.

Auf der Treppe erklangen Schritte und Caroline und Bonnie hatten es plötzlich ziemlich eilig.

„Wir kommen dich morgen wieder besuchen," flüsterte Caroline noch, schnappte sich das Tablett und rannte förmlich zur Tür. Dort stieß sie beinahe mit Damon zusammen, der gerade um die Ecke bog. Caroline schrie erschrocken auf, machte einen Sprung zur Seite und stürmte wortlos an ihm vorbei.

„Was habt ihr denn hier zu suchen?", fragte er und blickte Caroline mit einem Stirnrunzeln hinterher.

„Die Suppe, schon vergessen?", sagte Bonnie unfreundlich. „Und übrigens, gern geschehen." Sie folgte Caroline auf den Flur.

„Elende Teenager." Damon schüttelte den Kopf und durchquerte sein Schlafzimmer. Ich gab weiter vor, zu schlafen, und beobachtete ihn hinter halb geschlossenen Lidern. Er stellte das Glas in seiner Hand auf die Kommode, zog sich das blutverschmierte T-Shirt über den Kopf und warf es auf den Boden. Unbemerkt von ihm, ließ ich genüsslich meinen Blick über seinen nackten, muskulösen Oberkörper gleiten. Ich stellte mir vor, wie ich die kleine Kuhle oberhalb seines Schlüsselbeins küsste und meine Finger über seine Bauchmuskeln wanderten. Bei dem Gedanken schlug mein Herz schneller.

„Übrigens, ich weiß, dass du nicht schläfst," bemerkte er plötzlich und drehte sich zu mir um. „Ich kann sehen, wie du blinzelst. Und dein Herz schlägt viel zu schnell." Er grinste mich wissend an.

Ich wurde dunkelrot und zog mir hastig die Decke über den Kopf.

„Also gibst du es endlich zu, dass du mich unwiderstehlich findest?", hörte ich seine Stimme durch die Bettdecke. „Wenn ich dich nochmal küssen soll, dann musst du es nur sagen."

Als Damon begann, seinen Gürtel zu öffnen und seine Hose auszuziehen, kniff ich die Augen noch fester zusammen, trotz der Decke über meinem Kopf.

„Wir haben einen Waffenstillstand, schon vergessen?", wies ich ihn hin.

„Ich wusste nicht, dass der Rummachen beinhaltet," sagte er und ich hörte, wie seine Jeans auf den Boden fiel. Die Versuchung war geradezu übermächtig. Ich musste mich zwingen, nicht zu blinzeln und einen kurzen Blick zu riskieren. Denn dann wäre meine Selbstbeherrschung dahin.

„Definitiv!", erklärte ich vehement. „Auf jeden Fall Rummachen."

„Was für ein Jammer." Seine Stimme klang, als käme sie aus dem Badezimmer. Ich öffnete meine Lider einen Spaltbreit und spitzte über die Bettdecke. Er war nirgendwo zu sehen, nur seine Kleider, die auf dem Boden lagen. Gleich darauf wurde das Wasser aufgedreht und ich konnte wieder ruhig atmen. Während er unter der Dusche stand, wurde mein Seelenfrieden von Bildern gequält, wie das Wasser an seiner nackten Brust abperlte ... Verdammt, jetzt reiß dich zusammen. Aber mein Kopf hatte andere Pläne. Selbst in meinem geschwächten Zustand und mit ungefähr zwei Litern Blut weniger konnte mein Herz immer noch wie wild schlagen und mein Verstand die heißesten Phantasien erzeugen. Irgendwann war mir so warm, dass ich am liebsten aus dem Bett gesprungen wäre. Stattdessen zwang ich mich, ruhig zu atmen und an etwas anderes zu denken. Warum hatte Katherine mein Blut gewollt? Warum hatte sie mich nicht getötet, als sie die Gelegenheit dazu gehabt hatte? Vielleicht war das auch der Grund, warum mein Vater diese Stadt in seinen Aufzeichnungen erwähnt hatte. Weil er etwas herausgefunden hatte, was mit unserem Blut zu tun hatte, bevor er verschwunden war. Es wäre eine mögliche Erklärung.

Die Dusche wurde abgestellt. Nur mit einem Handtuch um die Hüften kehrte Damon zu mir ins Schlafzimmer zurück. Sein Haar war noch feucht und hing ihm strähnig in die Stirn, Wassertropfen glitzerten auf seinen Schultern.

„Du machst das mit Absicht, oder?", beschwerte ich mich.

„Was genau meinst du?", fragte er unschuldig.

Ich machte eine Handbewegung, die seinen perfekten Körper von Kopf bis Fuß einschloss, und hob die Augenbrauen.

„Das ist immer noch mein Schlafzimmer, da kann ich tun und lassen, was ich will."

„Dann hättest du mich nicht hierher gebracht," maulte ich. „Du kämpfst mit unfairen Mitteln. Ich bin viel zu schwach, um mich zu wehren, und du nutzt das rücksichtslos aus."

„Du kämpfst auch nicht fair, sonst hättest du dich von Katherine nicht ausbluten lassen." Er warf mir einen düsteren Blick zu. Es sollte wohl belustigt klingen, aber seine Augen sagten etwas ganz anderes. Er hatte sich Sorgen gemacht. Um mich. Ich war sprachlos.

„Ich wollte dir noch etwas zeigen," wechselte er das Thema und für eine Sekunde befürchtete ich, er würde gleich das Handtuch fallen lassen. Aber er ging zu seinem Nachttisch und nahm das Buch, das als oberstes auf dem Stapel lag, herunter. Es war ein schweres, in Leder gebundenes Buch. Staub wirbelte auf, als er es mir hinhielt.

„Was ist das?", wollte ich wissen.

„Sieh's dir an. Ich hab's in der Bibliothek gefunden."

Behutsam, mit spitzen Fingern, öffnete ich den Einband und blätterte neugierig in den vergilbten Seiten. Es sah aus wie eine Art Kompendium. Ich hielt meinen Blick starr auf das Buch gerichtet, während Damon zu der Kommode ging und sich endlich etwas anzog. In einem grauen T-Shirt und einer dunkelblauen Jeans fiel er neben mich auf das Bett. Er nahm mir das Buch wieder ab und blätterte darin, bis er die richtige Seite gefunden hatte. „Schon mal gesehen?" Er drehte das Buch zu mir um und deutete auf eine Abbildung.

Es war ein Stammbaum. Meiner Familie. Ich gab ein überraschtes Geräusch von mir, als ich die vertrauten Namen las. Mein Vater hatte mich unsere Vorfahren so oft aufsagen lassen, dass ich sie in- und auswendig kannte. Meine Finger folgten den Namen auf der verzweigten Abbildung bis zum letzten Eintrag.

„Das ist der Name meines Vaters." Ich deutete darauf. „Wie kann das sein? Wieso ist das in eurer Bibliothek?"

Ich blätterte nach vorne und nach hinten. Auf den Seiten war nicht nur mein Stammbaum abgebildet, sondern auch der von Lucas Familie und der anderen Jägerfamilien in Venedig.

„Wow, ich weiß nicht, was ich sagen soll," sagte ich ehrlich.

Damon legte seine Finger unter mein Kinn und lenkte meinen Blick wieder zu ihm.

„Was denkst du? Ich weiß, dass du über etwas nachdenkst. Du kriegst immer diesen Gesichtsausdruck, wenn du über etwas nachdenkst, dass du nicht teilen willst."

„Was für einen Gesichtsausdruck?"

„Deine Nase kräuselt sich."

„Was? Tut sie nicht!"

„O doch."

Ich wusste nicht, ob er es ernst meinte oder nicht. „Ich hab über gar nichts nachgedacht."
„Lügnerin." Sein Daumen strich über meine Unterlippe. „Sag es mir."

Sein Blick fing meinen ein und hielt ihn fest, und mein Herz fing an zu klopfen. „Kannst du das lesen? Das ist doch italienisch, oder?"

Ich nickte. „Ja, das sind die Stammbäume und eine Art Lebenslauf aller Jägerfamilien in Italien, einschließlich meiner. Mein Vater hat mich gezwungen, sie alle auswendig zu lernen. Wir haben eine ähnliche Zeichnung in unserer Bibliothek. Er war der erste, der in den Geschichtsbüchern auftauchte." Ich deutete auf den Namen Nicola Conti ganz oben auf der Seite. „1574, das Jahr deckt sich mit dem, was ich weiß. Er heiratete Francesca und sie bekamen zwei Kinder, Clara und Matteo. Und so weiter und so fort." Ich folgte den Namen und Linien, bis zum Ende der Seite. „Es stimmt alles, die Namen und die Daten. Allerdings endet dein Buch mit meinem Vater. In unserem steht mein Name am Ende des Stammbaums." Mein Finger strich gedankenverloren über den Namen meines Vaters. Ich fragte mich, ob es ein Zeichen war, dass er laut dieser Auflistung noch am Leben war. Bisher stand nur sein Geburtsdatum unter seinem Namen.

Damon lehnte sich zu mir und beugte sich über mich. Der Geruch seines Duschgels stieg mir in die Nase. „Was ist damit? Was bedeutet das?" Er zeigte auf ein kleines Symbol, das manchmal hinter den Namen auftauchte. Es sah aus wie eine Doppelhelix, durch deren Mitte ein Schwert verlief. Ich machte ein überraschtes Geräusch. Zum einen, weil es mir bisher gar nicht aufgefallen war, zum anderen, weil ich es noch nie gesehen hatte. „Ich weiß es nicht, aber ich bin mir sicher, dass dieses Symbol in unseren Bücher nicht auftaucht. Das wäre mir bestimmt aufgefallen und ich hätte meinen Vater danach gefragt."

„Vielleicht ist es ein bestimmter Hinweis, nur für Vampire, der nachträglich hinzugefügt wurde. Eine Art Markierung, dass dieser Jäger über eine bestimmte Fähigkeit verfügt," überlegte Damon.

Ich ließ meinen Blick über den Stammbaum und die Verteilung der Symbole gleiten. „Das ist es!", rief ich. „Du hast recht. Es ist ein Merkmal. Und es wird weitervererbt. Sieh mal, wenn beide Elternteile das Symbol tragen, dann haben es auch ihre Nachfahren. Aber wenn es einem Elternteil fehlt, dann haben es auch die Kinder nicht." Ich deutete auf die entsprechenden Stellen auf der Zeichnung. „Damon, das ist kein Stammbaum, das ist eine Vererbungstafel."

Er sah mich mit einer Mischung aus Bewunderung und Sorge an. „Jetzt müssen wir nur noch herausfinden, um was es sich genau handelt, das da vererbt wird."

Ich blätterte zu den Stammbäumen der anderen Familien. Nur bei Lucas Familie fand ich das gleiche Symbol. Bei den anderen fehlte es. Aber auf der Seite des letzten Stammbaums fand ich am unteren Ende eine handschriftliche Notiz. Jemand hatte das Symbol gezeichnet und daneben zwei Worte geschrieben.

Sanguis mortiferus.

„Ich glaube, das ist lateinisch," sagte Damon. Ich musste die Worte wohl vor mich hingemurmelt haben.

Ich nickte, mit den Gedanken noch bei dem Symbol. „Ja, es bedeutet soviel wie tödliches – "

„Blut," fiel er mir ins Wort.

Das weckte meine Aufmerksamkeit. „Du kannst Latein?", staunte ich und sah ihn an.

Er zuckte mit den Schultern. „Nicht wirklich, aber ich habe ein paar Worte von Bonnie aufgeschnappt. Sanguis kommt in ihren Zaubersprüchen ziemlich häufig vor."

Ich hob überrascht die Augenbrauen und vergaß für einen Moment das Buch. „Zaubersprüche? Bonnie?" In dieser Stadt gab es mehr Geheimnisse als Einwohner wie mir schien.

Er seufzte, bevor er mir das Buch abnahm. „Ach ja, hatte ich völlig vergessen. Bonnie ist eine Hexe." Er sagte das so, als wäre es die normalste Sache der Welt und ich zu ignorant, um es nicht bemerkt zu haben.

„Was?" Hatte er gerade Hexe gesagt? Ich musste mich verhört haben.

„Habt ihr keine Hexen in Venedig?"

„Möglich... ich bin noch nie einer begegnet." Mein ganzes Leben hatte sich immer nur um Vampire gedreht. Für irgendwelche anderen übernatürlichen Wesen hatte ich mich nie interessiert.

„Na ja, jetzt bist du sogar mit einer befreundet." Damon widmete sich wieder dem Buch.

„Was ist nur los mit dieser Stadt?" Ich schüttelte den Kopf. „Vampire, Hexen, Jäger... Wer lebt denn noch hier, ohne dass ich es weiß? Werwölfe? Dämonen?"

„Nicht, dass ich wüßte..." Damon grinste.

„Kein Wunder, dass mein Vater so ein Interesse an dieser Stadt hatte. Hier wimmelt es nur so vor Übernatürlichem." Ich fuhr mir fassungslos durch die Haare. Im Laufe meines Lebens hatte ich schon jede Menge Außergewöhnliches erlebt, aber was mir hier in den letzten Tagen passiert war, war geradezu lächerlich.

„Apropos Vater," meinte Damon. „Wie gut kanntest du deine Mutter?"

Ich drehte mich zu ihm herum. „Warum?"

„Weil neben Tomaso Conti das Symbol steht. Stellt sich die Frage, ob deine Mutter es auch hatte. Und ob logischerweise – "

„Ich es geerbt habe."

Er nickte.

„Ich habe meine Mutter nie kennengelernt. Keine Ahnung, wer oder was sie war. Erst müssen wir herausfinden, was es mit dem Sanguis mortiferus auf sich hat. Dann können wir möglicherweise Rückschlüsse ziehen, ob ich es besitze oder nicht. Vielleicht steht etwas davon in deinen Büchern. Ganz offensichtlich hast du die Vampirausgabe erwischt, während ich nur die Jägerversion kenne." Entschlossen warf ich die Bettdecke zurück. Nach der Suppe fühlte ich mich wieder kräftig genug, um es mit der gesamten Welt – oder besser gesagt der Treppe nach unten – aufnehmen zu können. Mir war nicht mehr schwindlig. Bis auf ein leichter Kopfschmerz ging es mir gut.

„Sienna!" Damon hatte das Buch zur Seite geworfen und sich erschrocken aufgesetzt, sobald ich die Füße aus dem Bett schwang und aufsprang. „Wo willst du hin?"

Na, bitte, geht doch. Alles bestens.

„Runter in die Bibliothek. Nachforschungen anstellen."

Meine Freude währte nur eine Sekunde, bevor meine Knie einknickten und ich mit einem Aufschrei unsanft auf dem Boden neben dem Bett landete. „Verdammt!" Ich rappelte mich verdutzt wieder auf. Wie peinlich.

„Sienna, was machst du denn?" Damon war sofort an meiner Seite, schob seinen Arm unter meinen Achseln hindurch und hob mich wieder auf die Beine. Jetzt hatte er mich schon wieder gerettet. Allmählich wurde es langweilig. Noch bevor ich ein Wort des Protestes herausbringen konnte, hatte er mich wieder ins Bett befördert.

„Es geht mir gut," nörgelte ich. „Wir müssen in die Bibliothek... wir müssen herausfinden..."

„Hör auf!", unterbrach er mich mit strenger Miene. „Du musst dich ausruhen, sonst gar nichts. Wenn es dir morgen besser geht, werden wir uns darum kümmern. Die Bücher laufen uns nicht weg."

„Aber..."

„Ende der Diskussion." Damit legte er sich wieder neben mich, diesmal noch näher, sodass sich unsere Hüften berührten. Und bevor ich mich versah, hatte er seinen Arm um meine Schultern geschlungen und mich an seine Brust gezogen.

„Hey! Waffenstillstand!" Ich versuchte, ihn wegzudrücken, aber er presste mich nur noch fester an sich.

„Scheiß auf den Waffenstillstand," flüsterte er mir ins Ohr. „Wenn du dich von Katherine täuschen und dir zwei Liter Blut absaugen lässt, dann gelten andere Gesetze."

Ich gab auf. Er war die ganze Zeit so fürsorglich zu mir gewesen, dass ich wirklich etwas dankbarer sein sollte. Außerdem war es schön, zumindest für eine kleine Weile, umsorgt zu werden. Mein Vater hatte mich nie verhätschelt, sondern immer gefordert, dass ich die Zähne zusammenbiss und weitermachte. Selbst jetzt, nachdem er verschwunden war und die Notiz hinterlassen hatte, schien er mir sagen, zu wollen, dass ich nicht aufgeben durfte.

„Es ändert nichts daran, wer wir sind," flüsterte ich niedergeschlagen. Und ohne länger nachzudenken, gab ich mich meinen Gefühlen hin und legte meinen Kopf an seine Schulter. Ich schlang einen Arm um seine Mitte und atmete tief seinen Geruch ein. Seine Wärme umhüllte mich wie eine lang verloren geglaubte Decke. Endlich konnte ich mich entspannen.

Ich betrachtete seine Hand mit dem Siegelring, die auf meinem Arm ruhte, während er mich festhielt. „Der Ring funktioniert wirklich," meinte ich nachdenklich und schob meine Finger zwischen seine. „Ich habe noch nie vorher ein fétiche gesehen. Ich dachte immer, es wäre so ein Mythos wie Knoblauch oder das fehlende Spiegelbild."

„Sie sind selten, aber es gibt sie," meinte Damon. Seine Stimme vibrierte in seiner Brust. Ich schloss die Augen. „Woher hast du ihn?", fragte ich schläfrig.

„Eine Hexe hat ihn mit einem Zauber belegt. Eine sehr mächtige Hexe. Der Zauber funktioniert mit jedem Gegenstand, aber es sollte natürlich etwas sein, das du immer bei dir tragen kannst."

Ich nickte, während ich gegen den Schlaf ankämpfte. „Zum Glück hast du ihn."

Ich sah ihm dabei zu, wie er die Decke bis zu seinen Hüften zog und dann seine Hände hinter dem Kopf verschränkte. Nachdem er es sich bequem gemacht hatte, sagte er: „Aber nur damit du es weißt, wenn du meine Lippen auf irgendeinem Teil von dir haben möchtest, bin ich mehr als bereit, Zugeständnisse zu machen."

Mein Unterkiefer klappte herunter.

„Und meine Bereitschaft, mich zu fügen, schließt meine Hände, meine Finger und andere Körperteile von mir ein."

„O mein Gott," fiel ich ihm ins Wort. „Deswegen musst du dir keine Sorgen machen. Ich werde niemals deine ... deine Dienste verlangen."

„Dienste?" Er drehte den Kopf zu mir. „Das hört sich wirklich schmutzig an."

Ich ignorierte seine Bemerkung. „Du und ich werden nie wieder etwas in der Art machen, wie wir es schon getan haben."

„Nie wieder?"

„Nie wieder?"

„Dann würdest du also sagen, es ist ... unmöglich?"

„Ja. Es ist absolut unmöglich."

Damon lächelte, und es war sein echtes Lächeln. Mit diesem jungenhaften Funkeln in seinen Augen. Und ich hasste das Stocken, das ich in meiner Brust fühlte, als ich es sah. Hasste, dass es mich Damon nicht als Vampir, sondern als Mensch sehen ließ. „Aber bist du nicht der Meinung, dass nichts unmöglich ist?" Er schnurrte förmlich.

Ich starrte auf ihn hinunter, völlig sprachlos. „Ich möchte dir gerade das Herz durchbohren."

„Ganz bestimmt möchtest du das," antwortete er und schloss die Augen.

„Wie auch immer," murmelte ich und sah ein, dass ich fürs Erste mit ihm leben musste. Zumindest für diese Nacht. Ich rutschte nach hinten, schob meine Beine unter die Decke. Ich ließ mich mit genug Kraft zurückfallen, dass ich das Bett zum Wackeln brachte.

„Alles in Ordnung da drüben? Hört sich an, als hättest du dir weh getan."

„Halt die Klappe."

Er lachte.

Mit meinem Rücken zu ihm starrte ich auf das Buch auf dem Nachttisch. Es war nicht dick genug, um ihm damit ernsthaft wehzutun. Ich seufzte. Einen Augenblick später ertönte ein leises Klicken und der Raum wurde dunkel. Er hatte die Nachttischlampe auf seiner Seite des Bettes ausgeschalten.

Seine Seite des Bettes?

Wir hatten keine Seiten.

Ich zog die Decke bis unters Kinn.

„Ich werde Alaric anrufen und ihm sagen, dass er morgen vorbei kommen soll. Vielleicht kann er uns mit diesem Jägersymbol weiterhelfen." Ich bekam noch mit, dass er nach seinem Telefon auf dem Nachttisch griff, dann war ich eingeschlafen.