Kakophonie der Gefühle

I'm on fire – Heather Nova

Jetzt war ich mit Damon alleine. Er war inzwischen aufgestanden und schenkte sich gerade einen Bourbon ein.

Ich beobachtete ihn unsicher. „Geht's dir gut?"

„Ja, alles bestens. Es könnte mir gar nicht besser gehen. Heute Abend werden wir Katherine endlich heimzahlen, was sie dir und mir angetan hat."

Ich ging zu ihm, nahm ihm das Glas aus der Hand und leerte es in einem Zug. „Es tut mir leid," sagte ich wieder.

„Hör auf, das andauernd zu sagen. Es war nicht deine Schuld." Er nahm sich ein neues Glas, schenkte es randvoll.

„Ob du es glaubst oder nicht, ich hatte Angst um dich. Ich dachte wirklich, du würdest sterben."

Er wich meinem Blick aus, nahm einen Schluck aus seinem Glas.

„Damon." Meine Stimme klang fast flehend. Ich wollte, dass er mir vergab. Was natürlich lächerlich war, weil ich nichts dafür konnte. Wenn er nicht so überstürzt gehandelt hätte, sondern auf seinen Bruder gewartet hätte, dann wäre es vielleicht nicht so weit gekommen. Aber ich konnte ihm beinahe ansehen, wie sehr es ihn ärgerte, dass er nicht unbesiegbar war.

Ohne einen weiteren Gedanken zu verschwenden, streckte ich meine Arme nach ihm aus, und er packte mich bei den Unterarmen, direkt unterhalb des Ellenbogens, und zog an. Sekunden später stand ich eine Handbreit, vielleicht zwei, von Damon weg.

Und zum ersten Mal waren seine Augen nicht tot. Sie standen in Flammen.

Und sie waren direkt. Auf. Mich. Gerichtet.

Ich starrte zurück, nicht sicher, was ich erwartete ... oder was ich tun sollte. Ein Teil von mir dachte, dass er zurückweichen würde, und ein Teil von mir hoffte sehnlichst, dass er es nicht tat. Ein Teil von mir, der sich fragte, wie es wohl wäre, ihn zu küssen, und ein Teil von mir, der dachte, ich sollte mich schleunigst aus dem Staub machen, weil Damon so anders war als jeder Mann, den ich bisher getroffen hatte. Und ich war ehrlich genug zu mir selbst, um zuzugeben, dass ich, so sehr ich ihn auch wollte, überhaupt nicht mit ihm umgehen konnte.

Letztendlich küsste er mich nicht. Aber er zog sich auch nicht zurück. Und ich auch nicht. Also standen wir da, keine Ahnung wie lange, er sah auf mich hinunter, ich sah zu ihm auf, die Luft zwischen uns geladen, schwer, elektrisch.

Ich steckte da jetzt drin, gefangen von allem, was Damon war, und allem, was er nicht war, trotz all meiner Zweifel. Ich wartete darauf, dass er etwas unternahm, aber er tat es nicht. Er sah mich nur weiter mit seinen blauen Augen an, Emotionen, die er kaum zeigte, brodelten unter der Oberfläche. Ich sehnte mich nach ihm. Es bereitete mir körperliche Schmerzen, als ich mich an die Frage erinnerte, die er vorhin gestellt hatte. Die Frage, mit der alles angefangen hatte.

Endlich hatte ich die Worte – oder in diesem Fall das Wort – um ihm zu antworten. „Überwältigend," sagte ich, genau in dem Moment, als er anfing, die Decke von meinen Schultern zu streifen.

Er erstarrte, die Decke und seine Hände verharrten irgendwo in der Mitte meines Rückens. „Wovon redest du?"

„So hat es sich angefühlt. Als du mein Blut getrunken hast. Ich dachte, es wäre schmerzhaft und ich würde mich schwach und ausgeliefert fühlen. Aber das war es nicht. Es war wie ein Rausch, als würden sich all unsere Gefühle vermischen. Ich konnte alles spüren. Deine Wut, deinen Hass, deine Enttäuschung. Und deine Sehnsucht."

„Sienna."

Ich machte einen Schritt auf ihn zu, bis meine Brüste leicht seine Brust streiften. Ich hatte keine Ahnung, was ich hier tat. Ich hatte in meinem ganzen Leben noch nie den ersten Schritt gemacht, und Damon war nicht irgendein Kerl. Ich flog blind, aber das spielte im Moment keine Rolle. Nichts spielte eine Rolle, außer ihn irgendwie zu berühren.

Ich wollte, dass er die Kraft meiner Arme um sich spürte, die Weichheit meines Körpers an seinem. Und ich wollte seine warme Stärke an meinem eigenen spüren.

Außer, dass er überhaupt nicht warm war.

„Damon, du bist ja eiskalt!" Ich zerrte die Decke aus seinen Händen und warf sie um seine Schultern, wickelte ihn komplett ein. Dann rieb ich mit meinen Händen über seine Arme unter der Decke, hoch und runter, und versuchte, wieder etwas Wärme in ihn zurückzureiben.

„Es geht mir gut," sagte er und wollte zurückweichen.

„Dir geht's eindeutig nicht gut. Ich habe noch nie jemanden angefasst, der so kalt war wie du gerade."

„Es geht mir gut," beharrte er wieder, und diesmal machte er einen Schritt zurück. Mehrere sogar.

Alles in mir hielt inne. „Es tut mir leid. Ich wollte nicht in deine Privatsphäre eindringen..." Ich brach ab, weil ich nicht wusste, was ich noch sagen sollte. Ich wusste nicht, was ich getan hatte, das so falsch war.

„Sienna..." Seine Stimme schweifte ebenfalls ab. Und in diesem Moment sah er anders aus als die anderen Male. Er war nicht souverän, war nicht amüsiert, war nicht mal so stoisch ruhig wie im Wald, als ich ihn angeschrien hatte.

Nein, genau jetzt sah er ... verletzlich aus.

Ein Verlangen stand in seinen Augen, eine Sehnsucht, die nichts damit zu tun hatte, dass er mich wollte, und alles damit zu tun hatte, dass er mich brauchte. Meinen Trost brauchte. Meine Berührung brauchte. Ich konnte ihn genauso wenig verleugnen wie ich von einem Turm springen und mit eigener Kraft fliegen konnte. Also folgte ich ihm, machte die Schritte, die meinen Körper wieder mit der Härte seines Körpers zusammenbrachten. Dann umfasste ich sein Gesicht mit beiden Händen, strich mit meinen Daumen über seine lächerlichen Wangenknochen und mit meinen Fingern über seine Wange.

Sein Atem geriet ins Stocken – ich hörte es in seiner Brust, fühlte es an meinem Körper. Und obwohl mein Herz dreimal so schnell schlug, wich ich nicht zurück. Ich konnte es nicht. Ich war geblendet, fasziniert, bezaubert.

Alles, woran ich denken konnte, war er.

Alles, was ich sehen konnte, war er.

Alles, was ich riechen und hören und schmecken konnte, war er.

Und nichts hatte sich je so richtig angefühlt.

„Kann ich dich etwas fragen?" Ich trat noch näher zu ihm, unfähig, mich zu stoppen. Nicht gewillt, mich zu stoppen.

Eine Sekunde lang dachte ich, er würde zurückweichen, aber er tat es nicht. Stattdessen öffnete er die Decke und wickelte sie um mich, sodass seine Arme um meine Taille lagen und wir beide darin geschützt waren. „Na klar."
„Warum hast du mich in der Schule nicht getötet? Was hat dich davon abgehalten?"

„Du." Die Antwort kam schnell und ehrlich. „Ich wusste es nur noch nicht."

Und einfach so schmolz ich dahin. Einfach so berührte dieser Mann – dieser dunkle, beschädigte, niederschmetternde Mann – einen Teil von mir, von dem ich mir nicht sicher war, dass er überhaupt noch existierte. Ein Teil von mir, der glauben wollte. Hoffen wollte. Lieben wollte.

Ich wollte nach ihm greifen, wollte ihn packen – wollte ihn festhalten – aber ich konnte nicht. Ich war erstarrt, zu Tode erschrocken, dass ich zu viel wollte. Zuviel brauchte, in einer Welt, wo manche Dinge von einem Moment zum nächsten einfach verschwanden.

„Sienna." Er sagte meinen Namen so sanft, halb Flüstern, halb Gebet, während er geduldig darauf wartete, dass ich ihn ansah.

Aber ich konnte nicht. Nicht jetzt. Noch nicht. „Hast du je-" Meine Stimme brach und ich holte tief Luft, stieß sie langsam aus. Nahm noch einen Atemzug und stieß auch diesen aus. Dann versuchte ich es erneut. „Hast du je etwas so sehr gewollt, dass du Angst davor gehabt hast, es dir zu nehmen?"

„Ja." Er nickte.

„Als ob es direkt vor dir wäre, nur darauf wartet, dass du die Hand ausstreckst und es nimmst, aber du hast eine solche Angst davor, was passieren wird, wenn du es verlierst, dass du nie danach greifst?"

„Ja," sagte er wieder, seine Stimme leise und tief und beruhigend auf eine Art, die sich bis in mein Innerstes grub.

Ich hob meinen Kopf, bis sich unsere Blicke begegneten, und dann flüsterte ich: „Was hast du getan?"

Endlos lange Sekunden sagte er gar nichts. Er tat gar nichts. Er sah mich nur mit einem Ausdruck in seinen Augen an, der genauso mit Narben übersät und gebrochen war wie der Rest von ihm. Und sagte: „Ich hab beschlossen, es mir trotzdem zu nehmen."

Dann beugte er sich zu mir herunter und presste seine Lippen auf meine.

Es war kein leidenschaftlicher Kuss, kein forscher Kuss, ganz sicher kein wilder Kuss. Es war nur das Streifen eines Mundes über einen anderen, so sanft wie eine Schneeflocke, so zart wie eine Eisblume.

Aber für mich jedenfalls war er genauso mächtig. Oder sogar noch stärker. Und dann – plötzlich – waren seine Hände an meinen Oberarmen, hielten mich fest. Seine Finger drückten leicht zu, zogen mich näher an ihn, während sein Mund auf meinem verrückt spielte. Lippen, Zunge, Zähne, es war eine Kakophonie der Gefühle – ein Aufruhr aus Lust, Verzweiflung, Verlangen, alles in einander verschlungen – als er mich nahm. Und nahm und nahm und nahm ... und mir noch viel mehr zurückgab. Es war gut, dass er mich festhielt, weil in meinem Kopf drehte sich alles und meine Knie wurden weich, als seine Zunge das erste Mal über meine strich. Genau wie eine dieser Heldinnen aus einem Roman. Ich war schon mal geküsst worden. Aber kein Kuss hatte mich je so etwas fühlen lassen. Ich drängte mich gegen ihn, versuchte, meine Arme nach oben und um seinen Hals zu schlingen, aber seine Hände waren wie ein Schraubstock um meine Oberarme, hielten mich fest. Hielten mich still, sodass alles, was ich tun konnte, war, zu nehmen, was er mir gab.

Und er gab mir eine Menge, den Kopf geneigt, sein Mund, der sich über meinen bewegte. Mein Kopf wurde noch leichter, meine Knie noch weicher, und ich hätte schwören können, dass sich der Boden unter meinen Füßen bewegte. Und immer noch ging der Kuss weiter.