Ablenkung

The Scientist – Corinne Bailey Rae

Das Gefühl war das gleiche wie vorhin in der Küche, als er mein Blut getrunken hatte. Ich fühlte mich leicht, schwerelos. Das wenige Blut, das noch in meinen Adern floss, rauschte in meinen Ohren. Unter meiner Haut kribbelte es, während mein Verlangen nach ihm so stark wurde, dass ich ihm am liebsten sämtliche Kleider vom Leib gerissen hätte. Ich wollte ihn, oh Gott, ich wollte ihn so sehr. Seit er mich in der Schule geküsst hatte, konnte ich an nichts anderes denken. Egal, wie oft ich mir einredete, dass es nicht so war.

„Du versuchst, mich abzulenken, damit ich vergesse, dass ich dich fast umgebracht habe," stellte ich fest, nachdem ich mich von ihm trennen musste, weil ich keine Luft mehr bekam.

„Das ist nicht die eigentliche Frage, oder? Die eigentliche Frage ist, ob ich es geschafft habe?" Er drehte sich leicht, sodass sein Knie meines streifte. „Oder soll ich mich splitterfasernackt ausziehen?"

„Du erwartest von mir, dass ich schwindle." Zu spät erkannte ich, dass ich die Decke um seine Schultern so fest umklammerte, dass die Nähte spannten. Ich ließ sie hastig los, bevor Damon es bemerkte und lesen konnte wie ein Neonschild, das direkt über meinem Kopf aufleuchtete.

„Weißt du was?", fragte ich. „Ich will nicht länger schwindeln. Die Antwort lautet ja." Ich sah Damon direkt in die Augen, als ich das sagte, und war froh, ihn unvorbereitet zu erwischen. Er stand so still wie eine Statue und ich wusste, es war, weil er sich nicht vorstellen konnte, was ich als Nächstes tat.

„Es würde mich höllisch ablenken," gestand ich. „Bitte. Freut es dich, das zu hören?"

„Es freut mich sogar sehr."

„Weil es bedeutet, dass du endlich gewonnen hast? Oder weil es bedeutet, dass ich mich mit der Tatsache abgefunden habe, dass ich auch nichts anderes bin als ein weiteres schwaches weibliches Wesen, das dir beim kleinsten Anreiz sofort zu Füßen liegt und dahinschmelzt?"

Damon beugte sich vor. Er war nur Zentimeter von mir entfernt, aber er berührte mich nicht. Er hob auch nicht seine Stimme. Sie war so leise wie das Flüstern des Lichts, das seinen Kiefer liebkoste und die Bartstoppeln an seinem Kinn so genau abgrenzte, dass ich sicher war, ich könnte jedes einzelne Haar zählen.

„Weil es bedeutet, dass ich dich wirklich gern ablenken würde, während ich splitterfasernackt bin." Er ließ einen Finger meinen linken Arm hinaufwandern, den ganzen Weg bis zu meiner Schulter. Dann ließ er ihn über die Vorderseite meines T-Shirts wieder herabgleiten. „Weil es bedeutet, dass es eine noch viel größere Ablenkung wäre - und auch viel mehr Spaß - wenn du auch splitterfasernackt wärst."

„Hab ich's doch gewusst!" Ich holte tief Luft. Damons Berührung war federleicht, selbst als sie über meinen Bauch strich, aber ich hatte keinerlei Zweifel daran, dass er genau wusste, was er tat. Und was er tat, machte mich ganz verrückt. Er ließ seine Hand wieder nach oben gleiten und dieses Mal hielt er direkt unterhalb meines Rippenbogens inne und strich mit der flachen Hand über den Stoff.

Ich schloss die Augen und schluckte die Gefühle, die durch mich hindurch schossen, hinunter. „Spaß hin oder her, es ändert nichts." Ich öffnete die Augen. Damon war auf Haaresbreite näher gerückt, nah genug, um einen Arm um meine Taille zu schlingen. Er zog mich noch näher und seine Hand verirrte sich unter mein T-Shirt.

Seine Finger waren kühl auf meiner viel zu heißen Haut. Sie tanzten gemächlich meinen Rücken hinauf. „Das ändert schon etwas." Ich spürte Damons Worte mehr, als ich sie hörte. Ich fühlte, wie das Lächeln seine Lippen nach oben zog und wie seine Wange meine streifte. Sie war rau wie Sandpapier und ich rieb meine dagegen. Gleichzeitig legte ich ihm beide Arme um den Hals. „Was möchtest du noch ändern?"

Ich wollte alles ändern. Ich wollte eine Welt ändern, in der man mir eingetrichtert hatte, dass alle Vampire Monster waren. Ich wollte eine Welt ändern, in der mich meine engsten Freunde und meine eigene Familie belogen und hintergangen hatten. Und meine Feinde plötzlich ehrlich und gut waren.

Ich wollte mich selbst in eine Frau verwandeln, die erst an Leidenschaft dachte und dann an ihre Pflicht. Eine Frau, die ihren Gefühlen nachgab. Aber weil ich wusste, dass ich nichts davon tun konnte, begnügte ich mich damit, meinen Kopf zu heben und Damon zu küssen.

Das allein war genug, um etwas zu verändern. Ich fühlte, wie sich Damons Muskeln unter meinen Händen zusammenzogen, und ich hörte ihn Luft holen, kurz bevor er den Kuss vertiefte.

Ich wusste ja schon, dass er gut küssen konnte. Wie hätte ich das auch vergessen können? Ich wusste schon, sobald sich sein Mund auf meinen senkte, dass er nach Kaffee und glühend heißen Sex und dem Versprechen so vieler unglaublicher Vertraulichkeiten schmecken würde, die ich mir gar nicht alle ausmalen konnte. Ganz allein, umgeben von Antiquitäten und dem knisternden Feuer im Kamin und dem Stakkato unserer angestrengten Atmung, vertiefte sich sein Kuss auf eine neue Ebene von Vertrautheit, die über die bisherigen kompetenten, talentierten, mich aus den Socken hauenden Küsse hinausging. Sogar über dem einem Feuerwerk ähnlichen Kuss von vorhin, der sich in meine Lippen eingebrannt und eine sowieso schon ziemlich unanständige Kollektion von Fantasien noch bildlicher gemacht hatte.

Eine davon geschah genau jetzt, während ich darüber nachdachte.

Als Damon eine Reihe von hauchzarten Küssen meinen Hals entlang platzierte, legte ich den Kopf in den Nacken und seufzte.

„Schön, oder?" Seine Stimme war so verträumt wie sein Kuss.

„Wirklich schön. Aber ich habe schon immer gewusst, dass es das sein würde." Es war die Wahrheit, und ich beschloss, dass es keinen Sinn machte, es abzustreiten. Ehrlich gesagt beschrieb wirklich schön nicht mal im Ansatz die Gefühle in meinem Inneren oder die Flammen, die über jeden Zentimeter meines Körpers tanzten. Aber wirklich schön würde reichen müssen. Für den Moment. Vielleicht für immer.

Als ob Damon genau spüren konnte, was ich gerade dachte, glitt seine Hand über meine Rippen und nach unten aus meinem T-Shirt. Er lehnte sich weit genug zurück, um mich verwundert anzusehen. „Also, es ist wirklich schön und du hast schon immer gewusst, dass es das sein würde, und jetzt hören wir auf, weil ...?"

Ich nutzte die Gelegenheit, um zurückzuweichen. Weg von der Versuchung und der Einladung, die noch immer in Damons Augen funkelte. „Wir hören jetzt auf, weil ich noch immer ich bin und du bist noch immer du."

„Und das bedeutet?"

Wenn er doch so klug war, warum sah er es nicht so deutlich wie ich? Ich griff nach meinem Kaffee auf dem Beistelltisch und umklammerte die Tasse mit meinen Fingern, aber selbst die Wärme der Tasse war nicht genug um die Hitze von Damons Körper an meinem zu ersetzen.

„Was bedeutet, dass ich nicht Cinderella bin." Ich warf ihm einen Blick zu, und als es so aussah, als ob er immer noch nicht verstanden hatte, versuchte ich es noch einmal. „Was bedeutet, wenn der Ball vorbei ist, wirst du noch immer ein Vampir sein und ich eine Jägerin."

Seine Hand strich über meinen Arm. „Und wer sagt denn, dass der Vampir und die Jägerin nicht zu ihrer eigenen Musik tanzen können?" Seine Finger bewegten sich auf und ab. „Ein Mädchen aus deiner Welt und ein Vampir aus meiner-"

„Genau!" Ich rückte noch weiter ab von ihm, bevor ich mich selbst davon überzeugt hatte, dass das Hier und Jetzt viel wichtiger war als der ganze Rest von meinen morgigen Tagen zusammen. „Genau so denkst du darüber. Wir und sie. Nur bin ich kein wir, ich bin sie. Ich werde nie ein wir sein. Ewiges Leben und Blut trinken und-"

„Und jetzt sagst du, ich wäre voreingenommen?" Damon war überrascht. Er lehnte sich gegen das Sofa, auf eine Antwort wartend.

„Ich sage nicht ... na ja, ich will sagen ..." Das war nicht ich, die da sprach. Es war das Koffein. Der Schlafmangel. Die Nervenenden, die noch immer klirrten wie die Glöckchen am gesamten Schlittengespann des Weihnachtsmanns. Seufzend gab ich auf. „Was ich sagen will - wir können nicht. Mein Blut ist tödlich und Katherine hat mindestens zwei Liter davon. Sie ist irgendwo da draußen." Ich warf einen vielsagenden Blick in Richtung Haustür. „Und mein Vater ist verschwunden und ... verdammt ..." Mit einem Stöhnen hörte ich auf, um den heißen Brei herumzureden. „Okay, ich gebe es zu. Es wäre meine Pflicht. Es wäre meine Pflicht, dich zu töten. Und jetzt, mit diesem bescheuerten Gen, wäre es so einfach. Aber ich will dich nicht töten. Ich will dich schützen. Und ich werde dich schützen, weil, verdammt noch mal, du einfach so verflixt fantastisch bist! Ich kann den Gedanken nicht ertragen, wie schnell alles vorbei sein könnte. Außerdem, wenn du tot bist, wen kann Sheriff Forbes dann noch anhimmeln?"

Ich hatte nicht wirklich erwartet, dass er antwortete, aber Damon wirkte nachdenklich. „Du würdest auf die Chance verzichten, mit mir ins Bett zu gehen, nur um sicher zu stellen, dass du mich nicht umbringst? Das würdest du tun? Für mich?"

In seiner Stimme schwang echte Verwunderung. Es zerriss mir förmlich das Herz. Er tat mir nicht direkt leid, aber ich bedauerte, was wir beide opfern mussten. „Was nicht heißt, dass es nicht großartig wäre," sagte ich in der Hoffnung, dass wir uns beide besser fühlten.

„Besser als großartig." Damon seufzte ergeben, und etwas sagte mir, das er so nah wie möglich dran war, zuzugeben, dass ich recht hatte. „Zumindest geben wir es zu. Zumindest geben wir zu, dass es großartig wäre."

„Besser als großartig."

„Zu einem anderen Zeitpunkt, an einem anderen Ort ..."

„In einem anderen Universum!" Ich lachte. „Natürlich könnten wir für faire Verhältnisse sorgen, wenn du kein Vampir wärst."

Damons Augen funkelten und seine Lippen verzogen sich zu einem Lächeln, das mein Herz umklammerte. Zur Hölle mit ihm! Selbst wenn ich versuchte, mir etwas auszureden, von dem ich nichts lieber täte, als es mir einzureden, musste er wie ein Herzstillstand verursachender, atemberaubender Held aus einem Liebesroman aussehen.

„So kurz davor war ich noch nie," sagte er. „Mir zu wünschen, ich wäre kein Vampir."