1. Ein unerwarteter Gast
Es war der 18. April 1989, ein Dienstag. Vor genau elf Jahren, ebenfalls an einem Dienstag, wurde jenes außergewöhnliche Mädchen geboren, dass an diesem Tag, genau 4015 Tage nach ihrer Geburt, eben jenen Geburtstag feierte.
Es war ein Tag, der begann wie jeder andere. Nun, fast, denn als Stefanie an diesem Tag erwachte, wusste sie sofort, dass es ein besonderer werden würde.
Das erste Licht des Morgens fiel bereits durch die dank der Katze ein wenig verschobenen Vorhänge, die vor dem großen, bodentiefen und ein wenig altmodischen Rundfenster hingen, und kitzelten sie in ihrem Gesicht. Sofort breitete sich ein Lächeln auf ihren Lippen aus.
Heute war der Tag! Ihr elfter Geburtstag. Und immerhin wurde man als junges Mädchen nur einmal elf.
Sie setzte sich auf und ließ ihren Blick erst einmal prüfend durch ihr Zimmer schweifen. Nein, in der Nacht hatte niemand heimlich Geschenke hineingeschmuggelt. Aber sie war nicht enttäuscht deswegen – im Gegenteil, eigentlich gehörte es zu ihren heimlichen Leidenschaften Geschenke auszupacken wenn der, der es ihr geschenkt hatte, auch zusah.
Mit einem einzigen Satz sprang sie aus ihrem Bett und schon wirbelte sie durch ihr Zimmer, riss hier eine Schranktüre auf, kramte dort in einer Schublade und fand schließlich ihre Lieblingsschuhe unter dem Bett. Sie gehörte eigentlich zu jener Sorte Menschen, die der Ruf verfolgte sehr ordentlich zu sein, aber am Vorabend war sie mit ihrer Mutter im Kino gewesen und danach hatte sie sich schon glücklich geschätzt, dass sie es überhaupt noch in ihren Pyjama geschafft hatte.
Allein die Erinnerung ließ Stefanie schmunzeln und im Geiste ging sie noch einmal jedes herrliche Detail des gestrigen Abends durch. Ein Kinobesuch an sich stellte schon einen seltenen Luxus da, aber dann noch alleine mit Mama hinzugehen, ohne nervige Geschwister, das war dann noch mehr eine Rarität.
Immer noch erfüllt mit Erinnerungen zog sie sich an und setzte sich dann abwartend auf die Bettkante. Zu gerne hätte sie ihr Zimmer verlassen und wäre zu den Pferden gegangen, oder hätte sich im Haus beschäftigt, aber sie wusste, dass sie an ihrem Geburtstag besser in ihrem Zimmer wartete, bis jemand kam um sie zu holen – sonst würde sie sich noch die ganze Überraschung verderben.
Zum Glück dauerte es nicht lange, bis sanft an die Türe geklopft wurde.
„Stefanie?" Das war die Stimme ihrer Mutter. „Bist du schon wach."
„Ja, Mama!"
Die Türklinke wurde nach unten gedrückt und in der schmalen Spalte zwischen Tür und Türrahmen erschien das jung gebliebene Gesicht ihrer Mutter. Genau wie ihr eigenes Haar war auch das der Mutter in einem herbstlichen Braun, aber im Gegensatz zu Stefanies Haar war es widerspenstig und lockig… und kurzgeschnitten. Stefanie trug ihr Haar mädchenhaft lang und ganz davon abgesehen war es, wie das ihres Vaters, von Natur aus seidenglatt.
„Und du bist ja schon angezogen." Ihre Mutter lächelte und ihre von Natur aus außergewöhnlich weißen Zähne blitzten auf.
Stefanie hüpfte lachend auf und nahm die Hand, die ihre Mutter ihr anbot, um sich willig mit nach draußen ziehen zu lassen.
„Leider ist es immer noch zu kalt um auf der Terrasse zu decken, aber ich glaube es ist trotzdem schön geworden. Jetzt kannst du deine Augen aufmachen."
Dass sie ihre Augen geschlossen hielt, bis ihre Mutter es ihr erlaubte sie zu öffnen war Tradition und etwas, an das sie sich immer hielt.
Als sie ihre Lieder hob, erweiterte ihr Sichtfeld sich auf den gedeckten Eichentisch. Die Farben der Tischdekoration spiegelten sich in Stefanies blau-grünen Augen wieder und mit einem Strahlen in eben diesen Augen ließ sie sich nur zu gerne von ihrem Vater einen Kuss auf die Stirn geben und auch von ihren Geschwistern gratulieren. Ihr älterer Bruder Christoph, der schon 13 war, und ihre jüngere Schwester Marie, die gerade erst 8 wurde, drückten ihr dann auch ihr gemeinsames Geschenk in die Hand und ihre Mutter wies sie mehr oder weniger streng an damit zu warten, bis sie alle gegessen hatten.
„Und, wie fühlt man sich mit stolzen 11 Jahren?", erkundigte ihr Vater sich, während er sich eine Tasse Tee einschenkte.
Stefanie hatte gerade noch einen Bissen Brot im Mund und musste ihn erst hinunter schlucken ehe sie fähig war zu antworten.
„Großartig. Obwohl ich streng genommen erst um 21 Uhr elf Jahre alt sein werde."
Ihre Mutter lachte auf. „So penibel musst du in deinen jungen Jahren aber wirklich noch nicht sein."
Nach dem Frühstück lief Stefanie mit ihrer kleinen Schwester nach draußen zu den Pferden, die ihrer Großmutter gehörten, die im Nachbarhaus wohnte. Manchmal durften sie auf ihnen reiten, aber ihre Großmutter ließ das nur selten zu, und wenn, dann war sie dabei und schrieb ihnen jeden Handgriff vor. Ihre Mutter hatte ihnen das Reiten schon vor Jahren beigebracht, zumindest in den Ansätzen, aber sie sagte nichts gegen die Ansicht ihrer eigenen Mutter, dass sie noch zu jung waren um alleine zu reiten. Dafür gab sie zu, dass sie eine etwas merkwürdige Frau war, die Kindern zu wenig Selbstständigkeit zusprach. An diesem Tag aber würde ihre Großmutter sie wahrscheinlich nicht einmal bemerken, denn sie lag krank in ihrem Bett.
Und dagegen hatte Stefanie wenig. Sie mochte ihre Oma zwar, aber manchmal war es ihr lieber wenn sie nicht da war. Einmal hatte sie ihnen und ein paar Freunden verboten zu reiten und gemeint sie wären sowieso zu klein um alleine aufzusteigen und da war sie plötzlich, wie von Zauberhand, auf einem Pferd gesessen. Sie wusste nicht wie sie dort hinaufgekommen war, aber ihre Oma war unglaublich wütend geworden und hatte sie sofort heruntergeholt und ins Haus geschickt. Und das vor ihren Freunden!
Zu Mittag rief ihre Mutter sie hinein zum Essen und am Nachmittag sollte es dann die Geburtstagstorte geben. Und natürlich die Geschenke. So war es immer, wenn jemand Geburtstag hatte.
Das Tolle an Geburtstagen war, dass alle nach der Pfeife des Geburtstagskindes tanzten. Es musste keinen Finger rühren, den täglichen Abwasch verrichtete man ohne es, nicht einmal das eigene Bett musste es machen. Dafür wurde es rund um die Uhr verwöhnt. Und so ging es auch Stefanie an diesem Tag. Sie ließ sich gerne von ihrer Mutter fragen ob sie noch etwas Saft wollte, oder ob sie nach dem Essen in den Park gehen wollte.
Ihr Vater musste leider zwischen Mittagessen und Nachmittagskaffee weg, er wurde ins Krankenhaus gerufen, für eine dringende Operation.
Von Beruf her war er Chirurg und musste oft weg. Kein Tag, an dem er immer zuhause war. Auch Stefanies Mutter arbeitete im Krankenhaus, aber nicht als Ärztin oder Krankenschwester sondern im Labor. Dort hatte sie wesentlich angenehmere Arbeitszeiten als ihr Mann.
Man entschloss sich noch auf das Familienoberhaupt zu warten, ehe die Torte angeschnitten wurde, aber Stefanie konnte es nicht lassen sie schon zuvor zu inspizieren. Ihre Mutter hatte sich alle Mühe gegeben und selbst übertroffen: Auf der mit Lebensmittelfarbe grün angefärbten Tortenoberfläche, die mit Marzipanzaun eingezäunt und mit Zuckerblumen bestückt war, standen zwei Marzipanpferde, die so liebevoll gestaltet waren, dass Stefanie laut aufschrie, als sie sie sah.
„Mama, du musst ewig dafür gebraucht haben!"
„Für dein erfreutes Gesicht nehme ich zehn solcher Ewigkeiten in Kauf", lächelte ihre Mutter und begann Kaffee aufzubrühen. Ihr Mann hatte sie gerade angerufen um ihr mitzuteilen, dass er auf dem Weg war.
„Hol bitte Marie und Christoph, Papa ist gleich hier."
Die beiden Geschwister waren ihr Geschenk immer noch nicht losgeworden, aber man konnte ihnen ansehen, dass sie es kaum erwarten konnten, es Stefanie zu geben. Und diese auch nicht. Als endlich die Tür zu hören war, saßen die Kinder bereits ungeduldig um den gedeckten Tisch und starrten auf die Torte vor ihnen. Außerdem stapelten sich vor Stefanies Platz Geschenke und ihre Mutter goss gerade Kakao und Kaffee in Tassen.
„Und, wie war es?", rief sie in Richtung Türe und noch ehe er antworten konnte trat der Vater schon in den Raum.
„Anstrengend. Ein schrecklicher Motorradunfall. Diese jungen Leute können es auch nicht lassen… aber gut, besser wir reden an einem Feiertag wie diesen nicht über so hässliche Sachen, sondern denken nicht mehr daran." Er lächelte seine Tochter liebevoll an. „Tut mir Leid, dass du so lange warten musstest. Oma muss ich leider entschuldigen, sie fühlt sich immer noch nicht gut genug um herzukommen."
Stefanie nickte und ihre Eltern setzten sich. „Dann lass uns mit den Geschenken anfangen", schlug die kleine Marie vor und hielt ihr zum gefühlt hundertsten Mal das längliche Geschenk vor die Nase.
„Ist ja gut." Stefanie lachte und nahm es entgegen, ehe sie begann das leicht schimmernde Geschenkpapier herunterzureißen. Darunter befand sich eine Barbiepuppe, um die Marie immer herumgeschlichen war. Offenbar hielt sie es für eine gute Idee sie Stefanie zu schenken, um sie ‚gratis' zu bekommen.
„Danke", entglitt es ihr, da sie sich keineswegs zu jung für Barbiepuppen fand. Sie spielte zwar nicht mehr mit ihnen, aber sie zog sie gerne an und aus und außerdem wusste sie, dass Marie sehr viel von dieser Puppe haben würde und alleine das freute sie.
Die meisten Geschenke der Eltern enthielten Kleidung, aber auch eine wunderschöne Tasche für die Schule war dabei.
„Immerhin kommst du jetzt in ein Gymnasium, da musst du keinen Ranzen mehr auf deinem Rücken tragen. So eine Umhängetasche wird dort vermutlich bald jeder haben."
Stefanie war zu Beginn sprachlos darüber, denn noch nie hatte sie eine so schöne Tasche in den Händen gehalten. Sie schien aus Leder zu sein, aber wirkte nicht altmodisch und unpassend für ihr Alter. Eher zweckmäßig.
Nachdem sie alle Geschenke ausgepackt hatte, auch das Benimmbuch, das ihre Oma ihr geschenkt hatte, zündete ihre Mutter die Kerzen an. Es waren 11, die sie auf der Torte verteilt hatte.
„Blas sie lieber schnell aus, sonst kommt uns noch Wachs auf das Marzipan. Und vergiss nicht dir etwas zu wünschen."
Stefanie nickte und schloss ihre Augen. In ihrem Kopf ging sie alle Dinge durch, die sie gerne hätte und entschied sich schließlich für einen allgemeinen Wunsch: Ich wünsche mir, dass die Schulzeit, die auf mich zukommt, die schönste Zeit meines bisherigen Lebens und etwas wirklich Besonderes wird. Das ich wahre Freunde fürs Leben finde.
Mit diesem Satz im Kopf blies sie kräftig auf die keinen Flämmchen ein und in dem Moment, in dem die letzte der Kerzen ausging, ertönte ein Klopfen an der Türe.
Alle Köpfe fuhren herum und ihr Vater stand mit einem Stirnrunzeln auf. „Na nu, das wird doch nicht unsere Oma sein, oder? Sie sollte lieber das Bett hüten. Gratulieren kann sie dir auch noch, wenn sie wieder gesund ist."
Er ging zur Türe und öffnete sie. Stefanie drehte sich um und reckte den Hals, um etwas sehen zu können. Sie hörte ihren Vater sprechen, aber sie verstand nichts von dem was er sagte. Nach kurzer Zeit kam er zurück und ihm folgte ein Mann, den Stefanie noch nie zu vor gesehen hatte. Er war ein wenig kleiner als ihr Vater, aber genauso schlank, sofern sie es erkennen konnte, denn er trug einen merkwürdigen Umhang, wie man ihn vielleicht im Winter noch akzeptieren könnte. Nun, im Frühjahr, wirkte er seltsam deplatziert.
„Guten Tag", begrüßte der Unbekannte sie und ihre Familie und setzte sich auf den Stuhl, den ihr Vater ihm anbot. Ihre Mutter warf ihrem Mann einen fragenden Blick zu, den er mit einem Achselzucken beantwortete.
„Tut mir Leid, dass ich Sie in diesem Moment unterbreche, aber ich werde Sie nicht allzu lange aufhalten. Lassen Sie mich meine Wenigkeit erst einmal vorstellen und dann werde ich hnen sagen, warum ich hier bin. Mein Name ist Thomas Weider und ich bin ein Mitarbeiter des österreichischen Zaubereiministeriums."
„Des was?!"
„Nun, des Zaubereiministeriums. Wir sind zugegebenermaßen nur ein sehr kleines Ministerium, aber was hat man in diesem Land schon anderes zu erwarten."
Stefanie starrte den Mann fassungslos an. Hatte er gerade etwas von Zauberei gesagt? Von Zauberei?! Ihr Blick heftete sich wieder auf seinen Umhang und sie begann sich zu fragen, ob er etwas damit zu tun hatte.
„Es wird ein Schock für Sie sein, natürlich, aber Sie werden es verkraften müssen, dass es Magie, also Hexerei und Zauberei, tatsächlich gibt, und das Ihre Tochter, die an diesem Tag 11 Jahre alt wird, eine Hexe ist."
Sofern es ging wurde es noch stiller. Alle blickten auf den Mann, der erst seit ein paar Minuten hier war und ihr Leben schon verändert hatte.
„Das müssen Sie uns erklären", begann Stefanies Vater leise zu sagen und ihre Mutter schnitt ein Stück Torte ab und reichte des dem Mann auf einen Teller um irgendetwas mit ihren Händen zu tun, ehe sie sich auf den Schoß ihres Mannes gleiten ließ.
„Magie ist etwas, das es auf der ganzen Welt gibt. Woher glauben Sie stammen all die Märchen von Feen und Elfen? Meerjungfrauen und Trollen? Sie wurden nicht erfunden. Es sind Anlehnungen an die Realität.
Und es gibt Hexen und Zauberer, Menschen, die Magie beherrschen und damit umgehen können. Menschen, durch deren Adern Zauberei fließt."
Er wandte seine Aufmerksamkeit Stefanie zu, die ihn mit großen Augen ansah.
„Ist dir nie etwas passiert, das du dir nicht erklären konntest? Hast du nie etwas bewirkt, dass eigentlich nicht gegangen wäre?"
Sie dachte an die Sache mit dem Pferd und an diverse andere Kleinigkeit und nickte fassungslos, als sie die Gewissheit durchströmte, dass er die Wahrheit sagen könnte.
„Vielleicht ist Ihnen schon aufgefallen, dass Magie nicht gerecht verteilt ist. Die meisten Sagen, die sich um magische Kreaturen ranken, stammen aus dem Norden. Skandinavien mit der Midgardschlange, die eigentlich ein Drache war, oder Großbritannien und Irland, voller Kobolde und Trolle. Der mitteleuropäische Raum hat nicht halb so viele Sagen wie der Norden und das hat auch seinen Grund. In Britannien gibt es so viele Zauberer wie sonst in keinem Land. Auch wenn sie verteilt in Europa und Asien, Afrika, Australien und von mir aus auch in Amerika leben." Er machte eine kurze Pause und ließ seine Worte wirken. „Ich könnte Ihnen natürlich auch etwas vorzaubern, aber ich glaube eine kleine Veranschaulichung reicht auch aus."
Und dann machte er eine kaum wahrnehmbare Handbewegung unterhalb seines Umhangs und die Geburtstagskerzen brannten wieder auf, ehe er sanft mit seiner Handfläche über sie fuhr und sie wieder verlöschten.
Die Münder der Kinder klappten herunter und Stefanie sah den Mann direkt an. „Ich soll also eine Hexe sein? Aber…"
„Ich bin nicht nur hier um dir das zu sagen", warf Thomas ein und hob beschwichtigend seine Hand. „Es geht auch um etwas anderes. Normalerweise werden Zauberer mit 11 Jahren eingeschult, wie auch Muggel."
„Muggel?"
„Nicht magische Menschen."
„Ach", machte ihre Mutter und verstummte gleich wieder.
„Ja. Eingeschult in eine Schule für Hexerei und Zauberei. Es gibt mehrere in Europa und jetzt kommen wir zu unserem ersten Problem. Im deutschsprachigen Raum gibt es keine mehr."
Er brach kurz ab um ein Stück Torte zu essen, das er sofort lobte. „Köstlich, wirklich köstlich." Danach wurde er wieder ernst.
„Tatsächlich gibt es keine mehr, weil es keinen Bedarf mehr gibt. Es gab einmal eine, vor vielen Jahren, aber dann… dann kam der Krieg. Erstens wurde sie dadurch zerstört und zweitens flohen sämtliche Zauberer aus dem Land in die Schweiz oder nach Italien. Wohin auch immer. Dort wo sie eben hinkonnten."
„Warum? Ich dachte im Krieg wären eher politische Gegner verfolgt worden." Das hatte Christoph Stefanie erzählt und er hatte es in der Schule gehört.
„Ja, natürlich, solche und auch andere wurden verfolgt. Jene, die eben anders waren. Natürlich wusste das Nazi-Regime nicht von der Existenz von Zauberern, aber im Gegensatz zu den Kriegen, die davor gewesen waren, betrafen die Weltkriege durch die Größe ihrer Zerstörung erstmals auch Unbeteiligte, wie uns Zauberer. Die Kriege die davor gewesen waren, hatte man auf den Schlachtfeldern ausgetragen, aber die Weltkriege umfassten auch zivile Städte und die Zivilbevölkerung. Im Gegensatz zu Muggeln fällt es uns aber sehr viel einfacher zu verschwinden und uns an einem anderen Ort niederzulassen und genau deshalb haben viele das auch getan. Schon nach dem ersten Weltkrieg hatte sich unsere Zahl im deutschsprachigen Raum vermindert, aber die Schule beispielsweise galt immer noch als sicher. Erst im zweiten Weltkrieg, als sie im Zuge einer Bombardierung einer Eisenbahnstrecke, die die Alliierten als wichtiges Versorgungsglied ansahen, versehentlich zerstört wurde, denn sehen konnten Muggel sie sowieso nicht, da sie für alle außer für Zauberer unsichtbar ist, ging ein Aufschrei durch die Zaubererwelt. Viele Kinder waren dabei umgekommen und das gab uns sozusagen den Rest. Wirklich fast alle haben Österreich und Deutschland verlassen, kaum einer ist geblieben."
„Und als der Krieg vorbei war?" Die Hände ihrer Mutter umfassten den Griff ihrer Kaffeetasse und sie nahm vorsichtig einen Schluck.
„Als der Krieg vorbei war, kehrte keiner zurück. Sie hatten wohl festgestellt dass es in anderen Ländern immer noch besser war als hier. Und deswegen hat man die Schule auch nie wieder aufgebaut."
„Aber heute muss es doch wieder mehr geben…?"
Doch Thomas schüttelte seinen Kopf. „Nein, kaum. Es gibt beinahe niemanden, der hier wirklich freiwillig lebt."
„Und wofür gibt es dann ein eigenes Ministerium?"
„Aus rein… organisatorischen Gründen. Eigentlich ist es nicht nur das österreichische, sondern auch das deutsche und schweizerische Ministerium. Und es gibt nur sehr wenig Angestellte." Er lächelte dünn. „Aber zurück zu meiner Erzählung. In den Jahren nach dem Krieg dachte niemand mehr an diese Länder, die nun so verlassen dalagen und dabei ist uns etwas entgangen: Muggelgeborene. Kinder, deren Eltern keine Magier waren."
„Klingt als wäre Magie erblich." Stefanies Mutter unterbrach ihn dadurch und sah ihn interessiert an.
„Erblich ja, aber es gibt auch immer wieder Kinder, deren Eltern keine Zauberer waren."
„Also ist es vermutlich eine erbliche Mutation." Ihr Mann schüttelte den Kopf, als er seine Frau so wissenschaftlich daherreden hörte. Sie konnte es nicht lassen.
„Eine was?" Thomas schien ihr nicht ganz folgen zu können, aber das konnte Stefanie sehr gut verstehen. Man musste es entweder studiert haben, oder mit einer Frau wie ihrer Mutter aufgewachsen sein, um zu verstehen was sie meinte.
„Sicher kann ich es natürlich nicht sagen, aber es klingt als würde es einfach ein genetischer Defekt sein, der weiter vererbt werden kann, aber auch bei bisher völlig unberührten Stammbäumen auftreten kann, logischerweise."
Nun verstand Thomas anscheinend, denn er nickte. „Oh, ja, so wird es wohl sein."
Er nahm noch einen Bissen Torte und versuchte wohl gerade den Faden wiederzufinden. Stefanie schluckte, dann erhob sie ihre Stimme: „Also gibt es Menschen, die wie Papa oder Mama in der Nachkriegszeit geboren wurden, die nicht wissen, dass sie Zauberer sind?"
„Genau." Er nickte wieder. „Wir haben leider erst Jahre später begriffen, was wir übersehen haben und dann war es für diese Menschen natürlich schon zu spät. Sie waren wie Muggel, nur mit magischen, unterdrückten Kräften."
„Habt ihr diese Menschen je aufgesucht?", erkundigte ihr Vater sich mit etwas belegter Stimme und Thomas schüttelte seinen Kopf.
„Nein. Wir wissen nicht, wer es ist. Aber als wir erkannten, was wir versäumt hatten, haben wir sofort damit begonnen jene 11 Jährigen aufzusuchen, die Zauberer waren. Schule gibt es keine mehr hier, aber es gibt genug andere Schulen. Normalerweise suchen sie sich einfach eine andere aus und gehen dorthin."
„Internate?"
„Was denn sonst." Er schüttelte tadelnd den Kopf über Maries Kommentar und strich ihr dann sanft über das Haar.
„Und woher wisst ihr, ob jemand ein Zauberer ist?", fragte Christoph plötzlich sachlich und Stefanie wurde klar, dass er 13 war, also vermutlich kein Hexer. Sie sah ihn kurz an und versuchte sich vorzustellen wie es wäre er zu sein, zu sehen dass seine kleine Schwester etwas hatte, das er nicht hatte. Aber dann schüttelte sie den Gedanken ab. So war Christoph nicht. Er kannte keinen Neid.
„Normalerweise zeigen Kinder ihre Kräfte im Laufe der Zeit. Diese magischen Schwingungen können wir registrieren und zuordnen. Und dann suchen wir sie auf, wenn die Zeit da ist."
„Du weißt also schon, ob ich eine Hexe bin?", ertönte piepsig Maries Stimme von seiner rechten und er schenkte ihr ein warmes Lächeln, als er ihre großen, erwartungsvoll leuchtenden Augen sah.
„Hast du denn einmal etwas … geschehen lassen?"
Stefanie bemerkte, wie ihre Mutter nach der Hand ihres Vaters tastete und sie sanft drückte, ehe sie ihm einen kurzen Kuss auf die Wange gab.
Marie hingegen schien ernsthaft nachzudenken. „Ich habe… einmal habe ich heimlich im Zimmer von Mama und Papa gespielt und bin gegen den Spiegel gefallen. Er ist kaputt geworden und ich habe furchtbare Angst bekommen, dass sie mit mir schimpfen würden. Als ich mich dann umgedreht habe, war er plötzlich wieder ganz."
Sein Lächeln wurde breiter. „Dann werden wir uns in ein paar Jahren vielleicht wiedersehen…. Aber nun wieder zu deiner Schwester. Stefanie, du bist nun eine Hexe und es wäre dir stark anzuraten eine magische Schule zu besuchen."
Dabei warf er ihren Eltern einen Blick zu. Rasch sagte ihr Vater: „Wir wollen nur ihr Bestes. Querstellen werden wir uns sicher nicht."
Stefanie kam damals kein Gedanke zu dem einfachen Hinnehmen ihrer Eltern. Sie stellten kaum Fragen und schienen alles einfach zu akzeptieren. Doch in diesen Momenten war ihr Kopf erfüllt von ganz anderen Sachen und sie bemerkte es nicht.
„Aber was für Schulen gibt es denn?", erkundigte ihre Mutter sich und Thomas schnalzte mit der Zunge.
„Viel zu viele. Für die eher östlich gelegenen Länder gibt es beispielsweise Durmstrang, aber davon würde ich abraten. Die Schule hat einen eher düsteren Ruf. Man verbindet sie mit schwarzer Magie."
Stefanies Vater zuckte ein wenig zusammen. „Da geht Steffi sicher nicht hin."
„Nein, das würde ich auch niemals vorschlagen. Generell rate ich von östlichen Schulen ab. Es gibt auch eine Schule in Frankreich, Spanien oder in Skandinavien. Und natürlich in Britannien. Zu dieser Schule würde ich ihnen raten."
Er schwieg kurz, ehe er zugab: „Es kommt nur sehr, sehr selten vor, dass solche Besuche wie dieser von Nöten sind, weil es nur wahnsinnig selten Muggelgeborene in dieser Gegend gibt, wie bereits erwähnt. Von diesen wenigen entscheiden die meisten sich für Skandinavien und der Rest für Frankreich. Ich aber würde von beiden abraten. Die Hogwarts-Schule für Hexerei und Zauberei in Britannien ist meiner Meinung nach die mit Abstand beste Schule… und die Sprache sollte man nicht außer Acht lassen. Englisch lässt sich leichter lernen als beispielsweise Französisch."
Daran hatte Stefanie noch gar nicht gedacht und sie nickte heftig.
„Ihr Englisch ist … sie geht noch in die Volksschule."
„Sie wird einen Intensivkurs machen müssen, das ist schon klar… aber es wird kein Problem sein, ich glaube ihre Tochter ist sehr schlau. Oder?"
Wieder nickte Stefanie. „Das schaffe ich." Alles würde sie auf sich nehmen um Zauberei studieren zu dürfen! Und Englisch erschien ihr wesentlich sympathischer als Französisch oder, Gott bewahre, Schwedisch oder was auch immer.
„Wie viele Kinder aus Österreich gehen denn gegenwärtig nach Hogwarts?", erkundigte ihr Vater sich plötzlich und auf den Lippen des Zauberers erschien ein schmales Lächeln.
„Sie werden lachen… einer. Ja, ein Junge, der sogar ganz in der Nähe wohnt. Er kam letztes Jahr in diese Schule. Ich habe ihn nie persönlich kennengelernt, denn eigentlich erledigt jemand anderes diese Aufklärung, aber dieser jemand ist gerade unpässlich…" Er verstummte und aß den Rest seines Tortenstückes auf.
Stefanie wurde klar, dass sie noch nichts von ihrem gegessen hatte, zu gefesselt war sie gewesen von all diesen neuen Aussichten.
„Und wie soll Steffi dann nach … Hogwems? Kommen?"
„Hogwarts. Und das ist das Geringste. Mit einem Portschlüssel. – Einem Gegenstand, den sie nur berühren muss um an einen bestimmten Ort zu kommen. Wir haben letztes Jahr einen installiert… für diesen anderen Jungen. Sie muss also auch nicht alleine dorthin, er kennt sich schon aus. Der einzige Nachteil besteht natürlich darin, dass sie über Weihnachten nicht nach Hause kann. Nur in den Sommerferien. Aber das wäre bei allen Schulen so. In ihrem Fall. Würde sie in England wohnen wäre es natürlich etwas anderes…"
Stefanies Vater nickte nachdenklich. „Was soll man dazu noch sagen?"
„Ich weiß dass sie noch viele Fragen haben, aber das klären wir besser später. Ich werde, wenn ich das richtig verstanden habe, Hogwarts mitteilen, dass Ihre Tochter sich für diese Schule entschieden hat und diese Sachen regeln. Sie wird bald einen Brief bekommen, unter anderem eine Liste mit Dingen, die sie braucht. Wir werden sie gemeinsam in London einkaufen gehen, keine Panik also, wenn Sie sie sehen. Ich werde euch jetzt nicht mehr länger belästigen."
Aber das tat er. Noch eine Stunde lang sprach er mit ihren Eltern, aber im Nebenzimmer. Sie und ihre Geschwister unterhielten sich derweil äußerst angeregt über all das, was sie gerade erfahren hatten. Stefanie und Marie führten einen regelrechten Freudentanz auf bei dem Gedanken bald in Magie unterrichtet zu werden. Christoph hingegen erinnerte Stefanie sachlich daran, dass sie sich jetzt besser auf Englisch konzentrieren sollte.
Und das tat sie auch. Ihre Eltern meldeten sie bei einem Englisch-Intensivkurs an und sie lernte fleißig dafür. Als dann einige Wochen später eine Eule mit einem Brief von ihrer zukünftigen Schule ankam, konnte sie ihn schon eigenständig übersetzen, und das mühelos.
„Sehr geehrte Frau Galen,
wir freuen uns, Ihnen mitteilen zu können, dass sie an der Hogwarts-Schule für Hexerei und Zauberei aufgenommen sind.
Beigelegt finden sie eine Liste aller benötigten Bücher und Ausrüstungsgegenstände.
Das Schuljahr beginnt am 1. September.
Mit freundlichen Grüßen
Minerva McGonagall
Stellvertretende Schulleiterin."
Stefanie blickte auf und zog die beigelegte Liste aus dem Umschlag. Mit gerunzelter Stirn las sie, was dort stand und reichte es dann ihren Eltern.
„Wenig ist es nicht…" Ihr Vater lachte auf. Er las sehr schnell und war schon am Ende des Briefes angelangt. „Und Besen darfst du auch keinen eigenen mitnehmen. Wie ich sehe wirst du also Fliegen lernen."
„Ich will auch fliegen!", piepste Marie und wollte nach dem Zettel greifen, aber ihre Mutter hielt sie zurück. „Lern erst einmal Englisch, sonst sagt dir der Brief sowieso nichts."
In Anbetracht der Tatsache, dass auch Marie eine Hexe sein könnte, hatten ihre Eltern bereits in Erwägung gezogen, ihr Englisch bis zu ihrem 11. Geburtstag bereits so zu schulen, dass sie sich einen Intensivkurs, wie Stefanie ihn nun besuchte, sparen konnte.
Vermutlich hätte Stefanies normale Schulausbildung darunter gelitten, wäre sie sehr anspruchsvoll gewesen, aber das war sie nicht. Natürlich verzichtete sie inzwischen darauf Hausaufgaben zu machen, denn sie war der Meinung, dass sie solche Sachen nie wieder brauchen würde und da ihre Zeugnisse für Hogwarts egal waren, da viele kleine Hexen und Zauberer gar keine Grundschule besuchten, war es ihren Eltern auch gleich. Sie wollten, dass Stefanie sich auf ihr Englisch konzentrierte und das tat sie.
Am schwierigsten war für sie nicht das Lernen, sondern das Geheimhalten. Wie gerne hätte sie ihren Freundinnen davon erzählt, wohin sie zur Schule gehen würde, aber es gelang ihr, sich zurückzuhalten. Und das musste sie auch, das hatte Thomas ihr eingeschärft.
„Wann gehen wir all diese Sachen kaufen?", erkundigte Stefanie sich, nachdem sie den Brief wieder an sich genommen, noch einmal gelesen und dann sorgfältig zusammengefaltet hatte.
„Das weiß ich noch nicht. Dann, wenn Herr Weider wieder kommen wird."
