Das ist meine erste Harry-Potter-Fanfiction. Geplant ist eine längere Erzählung mit vielen einzelnen Kapiteln, die allerdings noch in der frühen Phase ihres Entstehens ist. Vermutlich wird es Monate, eventuell Jahre dauern, bis die Geschichte vollständig erzählt ist.
Mir gehören leider nur die Ideen hinter dieser Fanfiction, alle Rechte an Harry Potter liegen bei J.K. Rowling.
Prolog
"Ich hatte für mein Leben genug Ärger."
Harry wog den Elderstab in seiner linken Hand, fühlte das Prickeln der Macht, das von ihm ausging, und sah Ron und Hermine direkt an.
„Ich will den Elderstab nicht. Er ist zu mächtig für mich. Ich könnte nicht mit ihm umgehen."
„Niemand kann das", schob er nach kurzer Denkpause nach und bemühte sich, jetzt nicht zu Dumbledores Portrait zu sehen, der ihn bereits die ganze Zeit beobachtete. „Er muss weg. Jetzt gleich."
Hermine strahlte ihn an, beeindruckt von Harrys Weisheit, und auch Ron nickte jetzt zustimmend.
„Du hast Recht, Kumpel. Es ist wohl besser so."
„Ist es", bestätigte Harry und trat an ein breites Fenster, von dem er das Schlossgelände gut überblicken konnte.
Die Sonne stand mittlerweile recht hoch am Himmel, es war bereits später Vormittag. Die letzten Stunden waren wie im Fluge vergangen. Gerade eben noch hatten er und Voldemort sich duelliert, war Voldemorts Todesfluch auf ihn zurückgeprallt und hatte den virtuosesten und teuflischsten schwarzen Magier aller Zeiten endgültig vernichtet. Sekunden später ihm waren Hermine, Ron, Ginny, Neville und alle anderen um den Hals gefallen, hatten ihn gedrückt und geherzt und umarmt und beglückwünscht, bis er kaum noch atmen konnte und es ein Wunder war, dass in dem beispiellosen Gedränge nicht Dutzende Zauberstäbe zersplittert waren. Anschließend, als die erste Freudenexplosion zerstoben war, hatten sie alle, so wie sie aus dem jubelnden Menschenhaufen entkommen waren bunt gewürfelt in der großen Halle gesessen und geredet, die Geschehnisse rekapituliert oder einfach nur still dagesessen und den Gedanken freien Lauf gelassen.
Es schien ihm, als sei das Duell erst Minuten her, dabei waren Stunden vergangen. Vom Fenster aus hatte Harry einen wunderbaren Ausblick. Unter ihm erstreckte sich das Hogwarts-Gelände, nun wieder gesichert durch zig Schutzzauber, um eventuell auftauchende Todesser am erneuten Eindringen zu hindern. Es war kaum mehr wiederzuerkennen. Große Brocken waren aus den dicken Mauern des sonst so majestätischen Schlosses herausgesprengt worden und übersäten die Wiesen der näheren Umgebung. Ein Teil des Astronomieturms lag, von einer gewaltigen Explosion zerrissen, am Fuß der Mauern. Die Brücke zum Schloss war teils eingestürzt und die noch stehenden Pfeiler sahen so aus, als würden nicht mehr von ihrer eigenen Statik, sondern nur noch von Magie zusammengehalten. Mancherorts brannten Feuer im Gelände, wo die Flammen etwas Brennbares verschlingen konnten, und die Luft stank nach beißendem Rauch.
Hier und da lagen Leichen von Todessern, die beim hastigen Rückzug umgekommen waren. Neben den Gewächshäusern, deren Fenster fast alle zu Bruch gegangen waren und den Boden mit nun in der Sonne glitzernden Scherben bedeckten, lagen zwei tote Riesen. Aus einem halb eingefallenen Gewächshaus krabbelten einige der magischen Pflanzen zwischen den Ruinen hervor und reckten ihre tentakelartigen Blättern in Richtung der Sonne. Hagrids Hütte war glücklicherweise einigermaßen unversehrt geblieben, doch waren die Beete neben ihr völlig verwüstet. In der Nähe schleppte sich ein verwunderter Zentaur zurück in den verbotenen Wald und zog dabei eine dünne Blutspur hinter sich her.
Ganz im Kontrast zum bedrückenden Bild am Boden stand der Himmel. Die hell leuchtende, warme Mai-Sonne hatte das dunkle Mal vom Himmel verdrängt und schien nun kraftvoll auf die Erde. Im See spiegelte sich das gleißende Licht und ließ die sich im sanften Wind leicht kräuselnde Seeoberfläche glitzern und funkeln. Ein Paar Seevögel erhoben sich von der Wasserfläche und gewannen mit kraftvollen Flügelschlägen schnell an Höhe, während sie gen Horizont davon schwebten. Über dem verbotenen Wald kreiste ein einsamer, herrenloser Phoenix, den Harry zum ersten Mal seit einem Jahr sah, und sang ein glückliches Lied.
Harry legte seinen Kopf in den Nacken und sah in das wolkenfreie Blau.
„Wie friedlich der Himmel aussieht…"
Hermine stellte sich neben ihn und tat es ihm gleich.
„Ja. Als sei nichts geschehen. Surreal."
Ron blieb etwas zurück und schwieg. Er war offensichtlich in Gedanken versunken. Sein Blick verriet, welche Gedanken es waren.
„Ich sollte zurück in die große Halle", sagte er nach einer Weile.
Hermine schritt zu ihm und drückte seine Hand.
„Ich komme mit."
„Ich gehe den Elderstab beerdigen", erklärte Harry. „Je länger ich ihn behalte, desto schwieriger wird es, ihn abzugeben."
„Gute Idee", stimmte ihm Hermine zu. „Wir sehen uns in der Großen Halle?"
Harry nickte.
„Ich hoffe, das Grabmal ist durch keine Schutzzauber gesichert. Sonst dauert es etwas länger…"
„Meinst du?", fragte Ron. „Voldemort konnte auch in das Grab einbrechen."
„Ich bin aber nicht Voldemort, Ron", erinnerte ihn Harry gutmütig. „Siehst du?" Er deute mitten in sein Gesicht. „Meine Nase, keine Schlitze."
Auf Rons Gesicht tauchte für einen kurzen Moment eine Art müdes Lächeln auf, bevor es wieder in seinen traurig-monotonen Ausgangszustand zurückfiel.
„Gut zu wissen", brachte er nur heraus.
„Vielleicht sollte ich mit Harry gehen?", fragte Hermine. Es war offensichtlich, dass sie um seine Erlaubnis bat. Sie wollte Ron in dieser für ihn so schwierigen Situation nicht alleine lassen, sah aber zugleich, dass Harry sie ebenfalls brauchte.
Harry sah Ron an. Nur er konnte die Frage beantworten.
Ron nickte und berührte Hermines Schulter.
„Bringt den Elderstab weg. Ich werde vermutlich noch eine ganze Weile in der Großen Halle sein."
„Sollen wir mit nach unten kommen?", fragte Harry.
Ron schüttelte den Kopf und gab ihnen ein zuversichtliches Lächeln.
„Ich komme klar."
Hermine nickte ihm bestärkend zu, fischte einen widerspenstigen Holzsplitter aus seinen roten Haaren und strich ihm dabei über die Stirn.
„Bis dann, Ron."
„Bis später, Kumpel", sagte auch Harry.
„War das nun wirklich eine gute Idee, Ron so gehen zu lassen?", fragte Hermine keine 30 Sekunden, nachdem Ron gegangen war.
Harry zuckte mit den Achseln, sein Blick war unsicher.
„Ich weiß es nicht, Hermine. Aber unten in der Großen Halle ist seine ganze Familie und trauert um Fred. Ich weiß nicht, ob wir da jetzt dabei sein sollten. Oder dazugehören."
„Er tut mir so leid", schluchzte Hermine plötzlich. „Sie alle! Fred war so ein guter Mensch, so jung, und nun ist er tot!"
„Ich weiß", sagte Harry. „Es ist einfach unfair." Zu mehr war er nicht in der Lage.
Er legte einen Arm um Hermine, der die Tränen über das Gesicht liefen.
„Komm, lass uns gehen."
Harry und Hermine verließen Dumbledores ehemaliges Büro – für Harry war und blieb es Dumbledores Büro, egal wer tatsächlich der Schulleiter von Hogwarts war – stiegen die Spiraltreppe hinab, kletterten an dem ehemals als Türsteher dienenden Gargoyle vorbei, der nun in einem schrecklich mitgenommenem Zustand auf dem Boden lag und mit seinen beiden Augen und apathischem Blick in zwei völlig verschiedenen Richtungen schielte, und machten sich auf den Weg nach unten. Nach ein paar Metern blieb Harry stehen.
„Hermine, warte."
„Was ist?", fragte sie besorgt.
„Ich kann das so nicht mit ansehen. Dumbledore hätte nicht gewollt, dass der Gargoyle, der ihm so viele Jahre treu gedient hat, so übel zugerichtet auf dem Boden liegt."
Harry hob seinen Zauberstab – den Phoenixfederstab, nicht den Elderstab – richtete ihn auf den Gargoyle und rief „Reparo!" Aus dem Umkreis der darniederliegenden Figur erhoben sich Steinbrocken vom Boden, flogen zurück in die Löcher, aus denen sie mit brutaler Gewalt herausgesprengt worden waren, dann tat sich eine Staubwolke auf, die sich mit ihr vereinigte und alle noch existierenden Fugen schloss. Zuletzt erhob sich der Gargoyle wieder auf seine Füße und nahm seinen rechtmäßigen Platz als Türwächter ein. Als sich Harry und Hermine schon wieder umgedreht hatten, rief ihnen die Steinfigur, die sonst so schweigsam war, ein aufrichtiges „Danke schön, Mr. Potter!" hinterher.
Harry sog die Luft tief in seine Lungen und stieß sie kraftvoll wieder aus.
„Das tat gut, Hermine."
Sie nickte ihm lächelnd zu und tätschelte seinen Rücken.
Nach einigen Minuten, die sie schweigend nebeneinander gelaufen waren, zögerten sie beide einen Moment, als sich der Korridor vor ihnen verzweigte. Sie waren noch immer im siebten Stock unterwegs. Vor ihnen lag ein Umweg, der sie etwas mehr Zeit als nötig kosten würde, und der kurze Weg, der über einen Korridor führte, den sie in den vergangenen Stunden bereits mehrfach passiert hatten und in dem nicht nur der zerstörte Raum der Wünsche lag, sondern auch ein riesiges Loch klaffte, das mit seinen in alle Richtungen davonfliegenden Trümmerstücken bereits so viel Schmerz verursacht hatte.
Hermine und Harry sahen sich an. Er wusste genau, was sie dachte. Er dachte das gleiche.
„Hermine, lass uns hier aufräumen. Dieses Chaos muss niemand sehen. Erweisen wir Fred die Ehre."
„Gute Idee, Harry. Ich will nicht, dass Ron und die anderen Weasleys noch einmal diesen Ort so sehen müssen. Es würde ihnen nur noch einmal das Herz brechen", sagte Hermine, wobei sie die letzten Worte fast flüsterte.
Sie zückten die Zauberstäbe.
Harry rief laut „Reparo!" und schickte mit dem Phoenixstab diverse verstreute Balken und Sandsteine zurück in ihren Teil der Mauer, womit das Loch schon wieder etwas kleiner wurde. Hermine ließ ihren Zauberstab jedoch wieder sinken.
„Was ist los, Hermine?"
Hermine verzog das Gesicht und drückte eine Träne weg.
„Es ist dieser blöde Zauberstab, Harry! Ich will nicht mit Bellatrix Zauberstab, der für so viel Leid und Kummer verantwortlich war, zum Wiederaufbau von Hogwarts beitragen. Er gehorcht mir nicht richtig und es…, es wäre einfach nicht richtig. Erstrecht nicht hier, wo Fred gestorben ist. – Ich will meinen Zauberstab zurück, Harry", fügte sie etwas weinerlich an.
Harry verstand.
„Du hast Recht. Das würde Fred nicht wollen. Aber dieses Problem ist lösbar."
Hermine sah ihn fragend an.
„Hier, nimm meinen. Ich habe ja noch den Elderstab. Mit dem geht die ganze Aufräumarbeit vermutlich sogar deutlich schneller."
Harry übergab seinen Phoenixstab, den er erst vor Minuten repariert und wieder funktionsfähig gemacht hatte, an Hermine und griff nach dem Elderstab, den er in einer Hosentasche verstaut hatte.
„Besser?"
„Viel besser!", antworte Hermine, steckte den Walnussstab von Voldemorts glühendster Bewunderin weg und zeigte Harry ein zuversichtliches Lächeln, in dem dieser auch einen Funken von Stolz wahrnahm, dass er ihr seinen über alles geliebten Zauberstab so bedingungslos anvertraute.
„Auf drei, Hermine! Eins, zwei, „Reparo!"
Die Kraft des kombinierten Reparaturzaubers überraschte sowohl Harry als auch Hermine. Nach weniger als 10 Sekunden, in denen vor ihnen ein Sturm aus Holzsplittern, Steinfragmenten, Mörtel und Tapetenreste entbrannte, war das klaffende Loch im Korridor geschlossen. Harrys Elderstab vollbrachte wahre Wunder, aber auch Hermines Zauber war deutlich stärker, als sie es sich ausgemalt hatte.
„Wow Harry!", schrie Hermine nach vollbrachter Tat. „Dein Zauberstab scheint mich zu mögen. Er fühlt sich zwar nicht ganz so gut an wie mein eigener, aber der Unterschied ist lange nicht so groß, wie ich gedacht hätte! Dafür, dass ich nicht seine Meisterin bin, hatte ich wirklich viel Kontrolle und Kraft. Verglichen mit Bellatrix Zauberstab ein Unterschied wie Tag und Nacht!"
„Vielleicht färbt sich ja etwas von Meister auf den Zauberstab ab?" grinste Harry. „Immerhin mag dich der Meister meines Zauberstabes ja auch."
Hermine begann zu schmunzeln.
„Das will ich auch hoffen! Aber es ist gut möglich, Harry. Denk an all die Vorgänge zwischen deinem Zauberstab und V-Voldemorts. Es muss ein Transfer von Gedanken oder Gefühlen zwischen Zauberstab und Zauberer stattfinden. Vielleicht können wir ja Olivander fragen, wenn wir das nächste Mal in der Winkelgasse sind. Ich muss ja eh zu ihm, um mir einen neuen Zauberstab auszusuchen. Leider…"
Harry nickte.
„Ich begleite dich gerne. Nach all dem, was wir für ihn getan haben, wird er dir sicher einen neuen Zauberstab fertigen, der wie dein alter ist. Wenn das jemand kann, dann Olivander. Aber lass uns erst einmal ein paar Tage warten, um zu sehen, ob der Krieg nun wirklich vorbei ist."
„Ich komme darauf zurück, Harry", sagte Hermine. „Darf ich deinen Zauberstab noch einmal benutzen? Ich hatte da gerade eine Idee."
„Klar. Was du willst."
Hermine und Harry liefen zu der Stelle, an der Fred tödlich getroffen zusammengebrochen war. Hermine kniete kurz nieder und blinzelte mehrere Tränen weg, die ihr in die Augen schossen. Dann hob sie den Zauberstab und ließ eine Plakette an der Wand erscheinen, die an Fred erinnerte.
Hier starb Fred Weasley (1978-1998)
Loyaler Freund, unerschütterliche Frohnatur,
Verteidiger von Hogwarts
Möge dein viel zu kurzes Leben so unvergessen bleiben
wie deine Begeisterung bei der Erheiterung deines Umfeldes
Eingerahmt war die Inschrift der Plakette von einem stilisierten Feuerwerk, einem Sumpf und einem Besen, drei Symbole, die – da war sich Harry sicher – in die Annalen von Hogwarts eingehen würden, oder besser, längst eingegangen waren.
„Hermine, das ist wunderschön", sagte Harry leise und tätschelte ihren Arm. Nun wurden auch seine Augen feucht, während Hermine ihren Tränen freien Lauf ließ.
„Danke Harry", schluchzte sie und nahm sich einen Moment. „Aber es ist noch nicht ganz fertig."
„Nicht?"
„Nein", sagte sie, wischte sich die Tränen aus dem Gesicht, räusperte sich, und schwang erneut den Zauberstab, diesmal wortlos.
„Was hast du gemacht", fragte Harry.
„Dauerklebefluch", antwortete Hermine, und ihre Mundwinkel zuckten nach oben. „Das hat Fred sich verdient. Damit weder Filch noch irgendein Lehrer diese Plakette wegnehmen kann, ohne Hogwarts einzureißen."
Harrys eben noch tieftraurige Miene begann sich schlagartig aufzuhellen, bis sie schließlich in einem Lächeln endete.
„Genial, Hermine! Das hätte Fred gefallen."
Hermine nickte. Ihr Gesicht war feucht vor Tränen, ihre Augen gerötet, aber ihre Mundwinkel zeigten wieder nach oben. Jetzt noch die Beerdigung, dann konnte der lange Prozess der emotionalen Heilung beginnen.
Hermine reichte Harry wieder seinen Zauberstab, doch dieser drückte ihn zurück in ihre Hand.
„Behalte ihn noch einmal kurz. Ich habe noch eine Idee."
Harry führte Hermine einige Meter weiter auf dem Korridor und sie verstand. Die Tür mitten in der Wand sah arg mitgenommen aus und das war auch nicht verwunderlich, denn das Feuer war von ungeheurer Zerstörungskraft gewesen. So gewaltig, dass es sogar einen Horkrux vernichten konnte. Harry wusste nicht, ob der Raum der Wünsche noch existierte. Wirklich sicher konnte er nicht sein, aber sein Bauchgefühl sagte ihm, dass der Raum eine solche Katastrophe nicht überstanden haben konnte. Das galt es nun herauszufinden.
„Wieder auf drei, Hermine", sagte er. Mehr war nicht nötig.
„Eins. Zwei. „Reparo!"
Harry fühlte, wie die pure Macht von ihm Besitz ergriff, wie der Elderstab in seiner Hand vibrierte, sich an seinem ganzen Körper Haare aufzustellen begannen, Magie von unvorstellbarer Kraft wirkte und sich schließlich alles normalisierte.
„Wow, das war intensiv", staunte Harry, halb erstaunt, halb schockiert davon, was der Elderstab zu leisten im Stande war.
„Das war es tatsächlich, Harry", pflichtete ihm Hermine bei, die ebenfalls die Macht des Elderstabes gespürt hatte, obwohl sie einen Meter neben Harry stand. „Auch dein Zauberstab hat hart gearbeitet, das habe ich ebenfalls bemerkt. Aber zumindest hast du jetzt den Beweis, dass er wieder wie neu ist. Keinerlei Schäden zurückgeblieben. Merlin sei Dank…", schob sie flüsternd nach.
Harry wusste, dass sie sich immer noch Vorwürfe machte, weil sie indirekt das Zerbrechen seines Zauberstabes verantwortlich war und dachte, nun sei ein guter Zeitpunkt, ihr diese Selbstvorwürfe ein für alle Mal zu nehmen.
„Er ist völlig intakt, Hermine. Du brauchst dir keine Schuldgefühle wegen der Sache an Weihnachten machen. Es ist vorbei, er funktioniert wieder. Sieh her!" Harry dachte kurz an den Moment vor einigen Stunden, als Voldemort gerade tot umgefallen war und Hermine, Ron, Ginny und alle anderen ihm in purer Freude um den Hals gefallen waren, dann rief er laut „Expecto Patronum!", um mit diesem kraftvollen Zauber zu demonstrieren, dass sein Zauberstab tatsächlich vollkommen wiederhergestellt war. Aus dem Phoenixstab stob silberner Nebel, leuchtend wie nie, und setzte sich im Nu zu einem Hirsch zusammen, der wenige Meter neben Harry stehen blieb und triumphal sein prächtiges Geweih präsentierte, das dieses Mal noch zwei Geweihstangen mehr besaß als üblich. Harry wusste nicht, ob es an dem Zauberstab oder an der von ihm gewählten besonders glücklichen und präsenten Erinnerung lag, doch er wusste, dass sein Zauberstab vollständig geheilt war. Und der glückliche Blick, der sein Gesicht zierte, überzeugte auch Hermine.
Nur eine Sache blieb noch zu tun. Harry atmete tief durch, schloss die Augen und wünschte sich mit aller Kraft, dass der Reparaturzauber gewirkt hatte und Raum der Wünsche repariert war. Einige Sekunden lang passierte nichts, doch dann öffnete sich eine Tür in der Wand und gab einen Raum frei. Er war nicht groß, dafür kam er ihm aber sehr bekannt vor. Er war rund, in den Gryffindor-Farben dekoriert und von fünf, nein sechs Himmelbetten dominiert. Es war der Gryffindor-Schlafsaal, den er seit fast einem Jahr nicht mehr betreten hatte, nur dass ein Bett zu viel darin stand.
Warum, das konnte Harry zwar nicht sagen, aber er wusste dafür, dass der Raum der Wünsche wieder funktionierte. Die Reparatur hatte tatsächlich geklappt!
Der Raum hatte nicht nur seinen vordergründigen Hauptwunsch erfüllt, sondern auch seinen unterbewussten Zweitwunsch, den Wunsch nach Ruhe und Schlaf. Am liebsten wäre Harry direkt in sein Bett gefallen und hätte die Augen geschlossen, doch er wusste, dass er zuerst noch eine Mission zu erfüllen hatte.
„Komm Hermine, jetzt bringen wir den Elderstab weg."
Hermine lächelte, und gemeinsam machten sie sich auf zur großen Treppe, um Dumbledores Grabmal aufzusuchen.
Nachdem sie Dumbeldore den Elderstab zurückgegeben, das aus weißem Marmor bestehende Grab wieder verschlossen und alle möglichen Schutzzauber ausgeführt hatten, gedachten sie beide schweigend ihrem früheren Schulleiter und der neuen Toten, bevor sie sich wieder zurück zum Schloss machten. Es war ein beklemmendes Gefühl gewesen, das Grabmal zu öffnen, Dumbledores Grabruhe nun schon zum zweiten Mal binnen kurzer Zeit zu stören, wenn auch diesmal für den richtigen Zweck, und den Zauberstab in seine kalten, fahlen Hände zurückzulegen. Er lag da, als ob er schlief. Die Einbalsamierungszauber hatten zweifellos gewirkt.
Harry konnte immer noch nicht wirklich fassen, dass er tot war; seine erst wenige Stunden vergangene Unterhaltung mit ihm hatte sich so real angefühlt. War sie real gewesen? Oder hatte er sich das Gespräch nur eingebildet? Harry wusste es nicht. War er überhaupt richtig gestorben? Oder nur fast? Nur der Teil Voldemorts in ihm? Auch darauf hatte er keine Antwort. Harry beschloss, dies eines Tages mal mit Hermine und Ron zu bereden, doch das hatte Zeit. Jetzt waren diese Fragen für ihn völlig bedeutungslos.
Auf dem Weg zurück zum Schloss schlug Hermine vor, noch etwas draußen am See in der warmen Sonne zu bleiben. Also änderten sie ihren Plan, in die große Halle zu gehen und setzten sich unter einen ihrer Lieblingsbäume, eine alte Weide mit mehreren horizontal verlaufenden dicken Wurzeln, deren Schatten sie schon in den vergangenen Sommern häufig genossen hatten und die sie gerade an schönen Sommer und Frühlingstagen gerne aufgesucht hatten, um Pläne zu schmieden, Hausaufgaben zu machen oder, in Hermines Fall, zu lesen. Heute saßen sie nur da und starrten stumm auf den See, neben dem Himmel der einzige unversehrt erscheinende Teil des gesamten Hogwarts-Geländes.
„Wir sollten etwas essen, Harry", bemerkte Hermine nach einer ganzen Weile.
Harry schüttelte den Kopf.
„Hab keinen Hunger."
„Ich auch nicht. Aber wir sollten trotzdem. Wir haben seit gestern Abend nichts gegessen, und davor kamen wir wegen des Banküberfalls auch nicht dazu."
Harry wusste, dass sie recht hatte.
„Sollen wir reingehen?"
„Ich will nicht reingehen", sagte sie leise. „Hier ist es schön. Schön friedlich, ruhig. Warm. Lass uns hier bleiben, Harry."
Harry runzelte die Stirn ob Hermines Widersprüchlichkeit. Dann hatte er einen Einfall.
„Ich könnte Kreacher rufen und ihn fragen, ob er uns zwei Sandwiches machen und etwas zu trinken bringen kann. Wenn du nichts dagegen hast, natürlich…", schob er hastig nach, weil er wusste, dass Aufträge für Hauselfen für und mit Hermine ein delikates Thema waren.
Hermine dachte einen Moment nach, stimmte dann aber zu.
„Ok, Harry, einverstanden. Aber nur, wenn er nicht zu beschäftigt ist."
„Abgemacht", versprach Harry. „So sehen wir auch, ob es Kreacher und allen anderen Hauselfen gut geht und sie außer Gefahr sind."
In seinen Augen blitzte eine Erinnerung auf, es schien, als sei sie Jahre alt, dabei waren es nur einige Stunden. „Nein, du musst mich jetzt nicht küssen", lachte er und grinste sie an.
Hermine lief pink an und rammte ihm ihren Ellbogen in die Rippen.
„Mache ich nach dem Spruch auch nicht!"
Harry schmunzelte sie aus den Augenwinkeln an.
„Musst du auch nicht. Bevor Ron noch eifersüchtig wird."
„Harry!", funkelte sie mit bösem Blick, auch wenn ihre Augen sie verrieten.
„Da fällt mir ein, dass ich dir noch gar nicht gedankte habe", sagte sie einige Augenblicke später. „, Für alles heute. Und davor."
„Das ist doch selbstverständlich, Hermine", antwortete Harry. „Es war mein Schicksal. Ich konnte gar nicht anders."
Hermine starrte ihn fassungslos an.
„Selbstverständlich? Harry, nichts von dem heute, oder dem letztes Jahr, oder auch dem der letzten sieben Jahre, nichts von dem war selbstverständlich. Nichts! Ehrlich, was du hier und heute getan hast, das war das genaue Gegenteil von selbstverständlich. Es war ungeheuer mutig, ungeheuer selbstlos, ungeheuer tapfer! Du hast nicht nur gegen überlegene Zauberer gekämpft, du du b-bist sogar in den verbotenen Wald gegangen" stotterte sie, als ihr die volle Tragweite ihrer Gedanken bewusst wurde, „u-um d-dich umbringen zu lassen. U-Um dich für das größere Ganze zu opfern. Was ist daran selbstverständlich?"
„Es war das, was ich tun musste", sagte Harry lapidar.
Hermine schluckte.
„Ja, das war es wohl. Aber es war nicht selbstverständlich! Es war eine der größten und selbstlosesten Taten, die jemals ein Zauberer vollbracht hat! Bitte vergiss das nie, Harry! Und dafür will ich mich jetzt angemessen bedanken", sagte sie voller Stolz, setzte sich auf, nahm sein Gesicht in ihre Hände und gab ihm dann doch einen langen, zärtlichen Kuss auf die Stirn, direkt neben seine Narbe.
„Danke Harry, flüsterte sie. „Für alles. Und dafür, dass du so ein guter Freund bist."
Jetzt wurde Harry etwas rot, auch wenn er innerlich wusste, dass Hermine recht hatte. Gut, zumindest das war nicht so schwer, denn Hermine hatte ja fast immer recht.
„Ohne euch hätte ich das alles aber nie geschafft", sagte er nach einigen Momenten. „Ich habe diesen Krieg nicht alleine gewonnen, nur weil ich am Schluss alleine in den Wald gegangen bin oder ich es war, von dem Voldemorts Zauberspruch zurückgeprallt ist. Als die Horkruxe vernichtet waren, hätte ihn jeder töten können. Dass ich es werden sollte, war nur dieser dämlichen Prophezeiung geschuldet. Was wäre gewesen, wenn es die Prophezeiung nicht gegeben hätte? Wenn niemand von ihr gewusst hätte? Wenn Voldemort nicht so fixiert auf diese Vorhersage gewesen wäre? Was dann, Hermine? Als wir in der Großen Halle waren, wir uns gegenüber standen, wir um uns herum im Kreis getigert sind, er sich erst nicht traute, mich anzugreifen. Das war alles nur, weil er an die Prophezeiung glaubte. Und jeder im Raum meinte, wir beide müssten uns umbringen."
„Was meinst du, Harry?", fragte Hermine.
„In diesem Moment war die Prophezeiung doch längst erfüllt, oder Hermine? Er musste seinen Teil in mir töten, den Horkrux in mir. Aber danach? Jeder andere hätte ihn dann doch töten können, oder? Als wir um uns herumtanzten und er nur auf mich fixiert war, er nichts anderes mehr wahrgenommen hat außer meiner Stimme. Jeder im Raum hätte ihn in den Rücken schießen können. Er war verwundbar. Es hätte nicht ich sein müssen. Hier nicht mehr. Es hätte jeder tun können. Und auch die Geschichte mit dem ihm nicht gehorchenden Elderstab hatte mit mir als Person ja überhaupt nichts zu tun. Hätte Ron Draco entwaffnet und wäre Meister des Elderstabes geworden, und nicht ich, dann hätte nur Ron uns retten können. Ganz entgegen der Prophezeiung. Es war Zufall, Hermine, so wie es ausgegangen ist. Ich war nur deshalb wichtig, weil ich den Horkrux in mir trug, und mich Voldemort deswegen insgeheim fürchtete. Nachdem er den Horkrux in mir getötet hatte, und Neville die Schlange erledigt hatte, war er nur noch ein sehr mächtiger Zauberer mit einem sehr mächtigen Zauberstab, der ihm nicht gehorchte. Schwer zu besiegen, ja, aber nicht umöglich. Es war nur wichtig, dass er den wahren Besitzer des Elderstabes angreift, sodass dieser ihm den Dienst versagte. Das war ich. Aber es hätte auch jeder andere sein können."
Hermine rekapitulierte Harrys Worte.
„Ich schätze, du hast Recht", meinte sie nach einer ganzen Weile. „Aber trotzdem solltest du dein Licht nicht unter den Scheffel stellen. Der Mut, die Tapferkeit, die Selbstlosigkeit, all das mag wohl mit der Prophezeiung zusammenhängen, aber es kam von dir. Aus dir. Von hier", erklärte sie nachdrücklich und legte ihre rechte Hand auf seine Brust. „Das waren deine Tugenden, dein Wille, deine Entschlossenheit, ihn endgültig zu Fall zu bringen. Das hast du alleine vollbracht. Und das hätten nicht viele andere geschafft. Dumbledore vermutlich. McGonagall vielleicht. Eventuell auch Neville, so wie er heute gekämpft hat. Aber das waren mehr als nur der typische Mut und die typische Tapferkeit eines Gryffindor. Das war eine herausragende, ja heroische Leistung, Harry. Deswegen bin ich so stolz auf dich", sagte sie und legte ihren Kopf gegen seine Schulter.
Harry lächelte.
„Danke, Hermine."
„Trotzdem hätte ich es ohne euch nie geschafft. Wir waren – sind! – ein großartiges Team. Ohne dein Wissen z.B. wären wir nie soweit gekommen. Wir hätten nicht rausgefunden, was es mit den Heiligtümern des Todes auf sich hat, hätten nie überhaupt die Chance gehabt, die Horkruxe zu vernichten und Voldemorts Fehler in seinem Plan zu identifizieren. Außerdem hast du mir gefühlt ein Dutzend Mal das Leben gerettet, und das bevor dieses Höllenjahr überhaupt erst begonnen hat! Ohne dich wäre ich jetzt nicht mehr hier. Dafür muss ich mich auch bei dir bedanken."
„Musst du nicht", entgegnete Hermine. „Wir sind Freunde. Gute Freunde. Das gehört zu den Vertragsvereinbarungen einer guten Freundschaft."
„Ich will mich aber bedanken."
„Dann ist es ok", lächelte Hermine, hob den Kopf von seiner Schulter und sah ihm in die Augen.
Harry sah in ihren Augen all das widergespiegelt, was er Hermine gegenüber fühlte, aber nicht in Worte fassen konnte. Unvergängliche Freundschaft. Bedingungsloses Vertrauen. Unerschütterliche Verlässlichkeit. Das wortlose Versprechen, gemeinsam durch dick und dünn zu gehen. Und eine tiefe Liebe, wie sie nur zwei langjährige beste Freunde empfinden konnten, die schon viel gemeinsam erlebt und durchgestanden hatten.
„Danke Hermine. Dafür dass du da bist und da bleibst und dich mit mir notorischem Magnet für alle Formen von Unheil abgibst. Und mir dabei hilfst, aus diesem Schlamassel wieder rauszufinden."
Dann zog Harry Hermine zu sich heran und küsste sie die Wange.
Sie saßen mehrere Minuten schweigend nebeneinander, bis Harrys Magen sich geräuschvoll zu Wort meldete und ihnen einfiel, dass sie doch eigentlich etwas essen wollten.
„Kreacher!", rief Harry und mit einem lauten Plopp erschien der alte Hauself der Familie Black. „Meister hat gerufen", sagte Kreacher und verneigte sich wie immer tief vor seinem Gebieter, was ihm diesmal aber etwas schwerer fiel als sonst.
Harry bemerkte als erster, wieso.
„Kreacher, du bist verletzt!"
Nun sah es auch Hermine. Der Hauself hatte eine tiefe Schnittwunde an einem seiner dürren, knochigen Beine, die er sich notdürftig mit einem Fetzen Stoff verbunden hatte.
„Kreacher, du musst behandelt werden", sagte Hermine. „Die Wunde sieht böse aus."
„Kreacher hat sich schon um seine Verletzung gekümmert", argumentierte der Hauself und wandte sich an Harry. „Wie kann Kreacher Meister behilflich sein?"
„Indem du dich erst einmal behandeln lässt", sagte Harry. „Madam Pomfrey hat sicher ein Mittel, das…"
Hermine unterbrach ihn.
„Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist, Harry. Ich bin mir sehr sicher, dass sie derzeit sehr gut beschäftigt ist. Außerdem…", Hermine kaute auf ihrer Unterlippe herum und sah alles andere als glücklich aus „Hauselfen haben bei der Behandlung keine Priorität. Kreacher müsste wohl lange warten und bekäme bestenfalls eine Notfallbehandlung", ergänzte sie mit unverhohlener Missbilligung dieser etablierten Praxis.
Harry nickte traurig. So mehr er von ihr erfuhr, desto mehr verstand er Hermines Engagement für nicht-menschliche magische Wesen.
„Können wir was tun?", fragte er. „Hermine, hast du noch die Tinktur, mit der du Ron behandelt hast, als er zersplintert ist? Wirkt die auch bei Hauselfen?"
„Ich denke schon", sagte sie. „Kreacher, weißt du von schädlichen Nebenwirkungen von für Zauberer und Hexen bestimmter Medizin auf Hauselfen?"
„Kreacher hat nichts von derartigen Nebenwirkungen gehört. Aber Kreacher wurde noch nie mit Medizin behandelt."
„Dann wird es mal Zeit", sagte Harry bestimmt. „Hermine, wenn du möchtest."
Hermine strahlte.
„Das möchte ich."
Hermine kramte in ihrer Perlenhandtasche, die sie weiterhin bei sich trug, und legte ein Handtuch vor sich in das Gras. Anschließend fischte sie nach der Flasche mit Diptam-Heilelixier und bedeutete Kreacher, sich auf das Handtuch zu setzen. Der Hauself war zunächst sehr schüchtern, gerade so, als hätte er Angst vor dem Handtuch. Nachdem ihm Hermine versichert hatte, dass es keine Kleidung war und Harry ihn mit viel Fingerspitzengefühl darum gebeten hatte, sich behandeln zu lassen – es war Harry wichtig, es ihm nicht zu befehlen – setzte er sich schließlich auf das Handtuch und streckte seinen Fuß in Richtung Hermine.
Hermine entfernte behutsam den Stofffetzen um Kreachers Schenkel; die inneren Schichten waren mit Blut getränkt. Die Wunde darunter war nicht allzu lang, dafür aber tief und sah deshalb ziemlich übel aus. Hermine richtete ihren Zauberstab auf die Wunde und sprache eine Formel, die Harry nicht kannte, worauf hin das verkrustete Blut verschwand. Harry nahm an, dass es ein Zauberspruch war, der zur Wundsäuberung diente. Nachdem sie dafür gesorgt hatte, dass die Wunde steril war, griff sie zu dem Heilelixier und tröpfelte den kleinen Rest, der noch in dem Fläschchen verblieben war, auf Kreachers Schenkel. Der Hauself zuckte beim ersten Kontakt zusammen, ließ sich aber weiter behandeln. Nach einigen Sekunden war die Wunde geschlossen.
„Wie fühlt es sich an, Kreacher?", fragte Harry, als Hermine das nun endgültig leere Fläschchen wieder in ihrer Perlenhandtasche verstaut hatte.
Der Hauself saß immer noch auf dem Handtuch, die in ihm tobende Aufruhe für Harry und Hermine offen fühlbar. Schließlich rappelte er sich auf, bis er so gerade stand wie ihn Harry noch nie hatte stehen sehen, und verbeugte sich dann so tief vor Harry, dass seine Nase nur Millimeter über dem Boden schwebte. Dann drehte er sich um, sah Hermine an, und verbeugte sich, nach anfänglichem Zittern, auch vor ihr, wenn auch nicht ganz so tief wie vor Harry.
„Kreacher ist froh, einen so edelmütigen Gebieter zu haben wie Meister Harry", krächzte der Hauself mit beschlagener Stimme. „Meister Harry und Miss Hermine behandeln Kreacher wirklich vorzüglich. Kreacher ist sehr dankbar dafür."
Harry strahlte den Hauselfen an. Einen solchen Gefühlsausbruch hatte er von ihm noch nie erlebt. Dann wischte er Hermine mit seinem Daumen eine Freudenträne aus dem Gesicht, die sie nicht hatte zurückhalten können.
Eine halbe Stunde später, es war bereits früher Nachmittag, machten sie sich zurück auf dem Weg in die Große Halle. Kreacher hatte ihnen nach seiner Genesung Kürbissaft und Sandwiches gebracht – sowohl Harry und Hermine hatten darauf bestanden, dass er nur eine Kleinigkeit für sie zubereiten und sich anschließend ausruhen würde – die so gut belegt waren, dass wie er es noch nie gesehen hatte. Neben Butter, Schinken, Käse, Ei, Zwiebeln, Oliven, Paprika und zig verschiedenen Formen von Salatblättern hatte Kreacher noch mindestens ein weiteres Dutzend Zutaten verwendet, von denen Harry manche überhaupt gar nicht kannte, die aber den Sandwiches einen derart köstlichen Geschmack verliehen, wie er es sich nicht einmal in seinen kühnsten Träumen hätte vorstellen können. Und das lag nicht nur an der Tatsache, dass kulinarische Leckerbissen im letzten knappen Jahr äußerst rar gesät waren.
Je näher sie dem Schloss kamen, desto langsamer wurden sie. Hogwarts war in einem wirklich bemitleidenswerten Zustand. Die Festung war schwer getroffen worden, schwerer als es Harry in der Nacht noch gedacht hätte. Riesige Löcher klafften in den Mauern, hervorgerufen durch kraftvolle Explosionszauber, der Boden aufgerissen und hier und da blutgetränkt, unzählige steinerne Verteidiger lagen zerschmettert auf dem Boden, der Ravenclaw-Turm war ausgebrannt und nur noch eine rußgeschwärzte Ruine, wie Harry erst jetzt auffiel. Und diese Schäden waren nichts gegenüber den physischen und seelischen Verletzungen, die die Verteidiger erlitten hatten. Harry und Hermine quetschten sich vorbei an einer auf dem Boden liegenden Glocke, die aus dem Uhrenturm gesprengt worden war und nun den Zugang ins Schloss blockierte, stiegen sich gegenseitig Halt gebend über die auf dem Boden des Eingangsbereich verteilten Überresten der Statuen und Rüstungen, die sich auf Geheiß von Minerva McGonagall den Eindringlingen in den Weg gestellt hatten und dabei schwere Verluste erlitten hatten, und bewegten sich in Richtung der Großen Halle.
Die Stimmung war nun eine andere, als noch wenige Stunden zuvor, als Harry, Hermine und Ron sie verlassen hatten, um das Büro des Schulleiters aufzusuchen. Vergangen waren die dröhnenden Gespräche nach der gewonnenen Schlacht, als sich alle Verteidiger in der Halle eingefunden und sich teils euphorisch, teils bedrückt, aber immer lautstark mit ihren Banknachbaren unterhalten hatten. Seit dem war viel passiert. Die Halle hatte sich merklich geleert, nur noch einzelne Familien sowie ein paar versprengte Verteidiger fanden sich in ihr, die nicht wussten, wo sie hingehen sollten und deshalb dort geblieben waren, wo sie bereits waren. Hannah Abbot war so ein Fall, die mit Cho Chang am Hufflepuff-Tisch saß und sich mit ihr um Dennis Creevey kümmerte, der in der Schlacht seinen Bruder verloren hatte. Horace Slughorn, immer noch bekleidet mit seinem Schlafanzug, saß zusammen mit Hagrid an einem anderen Tisch, vor ihm mehrere, meist leere Flaschen Spirituosen, und sah aus, als könne er die Geschehnisse der Nacht immer noch nicht fassen. Immer wieder schüttelte er den Kopf und starrte mit leerem Blick mal Hagrid, mal die Wand und mal die Flaschen vor ihm an. Am Lehrertisch wiederum waren Professor McGonagall und Kingsley Shackelbolt in ein enorm wichtig aussehendes Gespräch verwickelt.
In einer Ecke des Raumes, etwas abseits des Gryffindor-Tisches, standen Mr. und Mrs. Weasley, Bill, Charly, Andromeda Tonks und der kleine Zauberer mit dem büscheligen Haar, der die Begräbniszeremonie für Albus Dumbledore durchgeführt hatte, und besprachen sich leise und mit ernsten Blicken. Harry vermutete, dass sie die Beerdigungen von Fred, Remus und Tonks planten, und verspürte einen qualvollen Stich in seinem Herzen. Und dann sah er den Rest der Weasleys. Sie saßen am Gryffindor-Tisch, in der Mitte George, der mit verschlungenen Armen auf dem Tisch kauerte und sein Gesicht in seinen Armen verborgen hatte. Ginny hatte den Arm um ihn geschlungen und ihr von Tränen nasses Gesicht gegen seinen Rücken gelehnt, während sie immer wieder schluchzte. Ron saß auf der anderen Seite von George, eine Hand auf seinem Rücken, der Blick glasig, die Gedanken weit weg. Percy saß ihnen gegenüber und starrte mit Blutunterlaufenen Augen an die Decke. Neben ihm war Fleur, die Ginnys freie Hand hielt, während Neville ihr beruhigende Worte zusprach, deren Effekt Harry aber bezweifelte.
Harry schluckte. Der Anblick ließ sein Herz bluten. Mit ansehen zu müssen, wie die Weasleys derart litten, die Familie, die ihm am nächsten stand, zu der er mehr oder weniger gehörte, war der schrecklichste Moment in seinem bisherigen Leben, der Tod von Cedric Diggory mit eingeschlossen. Hermine neben ihm ging es kaum anders. Frische Tränen bildeten sich in ihren Augen.
„Wir müssen zu ihnen, Harry", flüsterte sie mit verstockter, gebrochener Stimme. „Für sie da sein. Sie brauchen uns jetzt."
Harry nickte.
„Ich weiß, Hermine. Ich weiß…"
Sie liefen stumm und in bedächtigen, nicht zu schnellen, nicht zu langsamen Schritten zu den Weasleys. Harry trat neben Ginny, die ihn nicht hatte kommen sehen, während sich Hermine neben Ron setzte und dessen Hand ergriff.
„Hey", sagte Harry, und legte seine Hand auf Ginnys Schulter.
Ginny löste sich von George und blickte Harry in die Augen. Sie sah furchtbar aus, ihre Augen blutrot, ihr Gesicht tränenverschmiert, ihre einst so schönen Haare zerzaust und staubig. Harry brach es das Herz, Ginny so zu sehen.
„Ich…, es tut mir so leid, Ginny", stammelte er. Mehr brachte er nicht heraus.
Ginny sah in einen kurzen Moment an, dann warf sie sich in seine Arme und begann zu schluchzen.
„Komm her", flüsterte Harry, und drückte Ginny so fest es ging an sich. Zwei Meter weiter standen Hermine und Ron in einer ähnlichen Haltung, wobei es in diesem Fall Hermine war, die Ron Kraft gab. Für einen kurzen Augenblick sah sich Harry Hermine hilflos in die Augen, bevor Harry sein Gesicht in Ginnys Schulter vergrub und zum ersten Mal seit seinen Kindheitstagen ebenfalls anfing zu weinen.
Einige Zeit später – Harry hätte nicht sagen können, ob es 15 Minuten oder 5 Stunden gewesen waren – kamen die älteren Weasleys an den Tisch, und Mr. Weasley erklärte den Ablauf der nächsten Tage samt den arrangierten Beerdigungen für Fred, Tonks und Remus, während Mrs. Weasley einfach nur aufgelöst am Tisch saß und ab und an in ihr Taschentuch schluchzte. Anschließend verfielen sie wieder in trauerndes Schweigen, in das Harry mit einstimmte. Gleichzeitig machte sich in ihm eine unglaubliche Müdigkeit breit, die Folge nicht nur der Schlacht mit all ihren physischen und psychischen Strapazen und Wunden, sondern auch von inzwischen rund zweieinhalb Tageen ohne Schlaf. Harry hatte massive Mühe, seine Augen offen zu halten, und als es ihm überhaupt nicht mehr zu gelingen schien, verabschiedete er sich von den Weasleys, von denen die meisten ohnehin kaum mehr ansprechbar waren. Hermine schien es nicht anders zu gehen, und nach kurzer Rücksprache mit Ron („Geh ruhig schlafen, ich werde wohl noch eine Weile hier bleiben") verließ sie mit Harry die große Halle.
Den Weg zu den Schlafsälen im Gryffindor verbrachten sie weitgehend schweigend, nur unterbrochen von einem kurzen Gespräch mit Professor Flitwick, der sich im Namen der ganzen Schule bei Harry und Hermine bedankte und ihnen attestierte, wahrhafte Gryffindor-Schüler zu sein. Am Gryffindor-Eingang angekommen, mussten sie feststellen, dass auch dieser Teil des Schlosses von den Kämpfen betroffen war. Zwar waren die Zerstörungen hier nicht ganz so übel ausgefallen wie in anderen Bereichen, doch hatte ein Explosionszauber direkt neben dem Portrait-Loch zum Gemeinschaftsraum eingeschlagen und die Fette Lady durch Splitter schwer verwundet: Sie lag in einem Portrait neben ihren eigenen auf einer Krankentrage und schlief laut schnarchend, ihr mehr als nur fülliger Körper war übersät von Pflastern und Verbänden. Neben ihr stand mit besorgtem Blick ihre Freundin Violet, während im Portrait-Loch Sir Cadogan Dienst tat und zugleich über die Fette Lady und Violet wachte.
Als er Harry und Hermine sah, brachen wahre Elogen aus ihm heraus, in denen er die Tapferkeit und den Mut und die Courage und die Bravour und vieles mehr des Goldenen Trios über den grünen Klee lobte und es sich nicht nehmen ließ, Harry zum tapfersten Gryffindor des ganzen Jahrtausends zu erklären. Nachdem Harry und Hermine genug gehört hatten, baten sie um Einlass und bekamen ihn auch ohne Passwort gewährt („Wie könnte ein Portrait derart tapferen Kriegern wie euch nach erfolgreich geschlagener Schlacht den sehnlichen Wunsch nach der wohlverdienten Ruhe verweigern? Gehabt Euch wohl, ihr edlen Kämpfer für das Gute!").
Im Gemeinschaftraum angekommen, fiel Harry zuerst auf, wie leer es in ihm war. Nur Dean und Seamus saßen auf der Couch in der Nähe des Kaminfeuers, auf der auch Harry, Hermine und Ron so oft Platz genommen hatten, unterhielten sich leise und machten dabei einen sehr glücklichen Eindruck, wieder vereint zu sein. Im Hintergrund nahe der Treppe zu den Mädchen-Gemächern schliefen Harrys ehemalige Quidditch-Teamkameraden Oliver Wood und Katie Bell auf zwei anderen Sofas. An der Treppe angekommen blieb Harry stehen, um sich mit einer Umarmung von Hermine zu verabschieden, doch sie machte überhaupt keine Anstalten ihren eigenen Schlafsaal aufzusuchen.
„Kann ich heute bei euch schlafen?", fragte sie mit etwas Unsicherheit in der Stimme. „Ich möchte jetzt einfach nicht alleine sein."
„Äh, klar", sagte Harry und stapfte die Treppe hoch, worauf ihm Hermine folgte. Im Schlafsaal angekommen sah er, dass Neville inzwischen schlafend in seinem Bett lag, voll angezogen, seine Kleidung strotzte vor Dreck. Vor seinem Bett lag das Schwert von Gryffindor, mit der er Nagini getötet hatte. Harry zog die Vorhänge am Fenster zu, was Neville wohl ganz vergessen hatte (dem Sonnenstand nach war es spätestens 6 Uhr abends), setzte sich auf sein Bett und zog erst die Schuhe aus, dann seinen Pullover. Anschließend nahm er seine Brille ab und legte sie zusammen mit seinen beiden Zauberstäbe, seinen eigenen und den von Malfoy gewonnenen Zauberstab, auf den Nachttisch neben ihm und, und ließ sich auf das Bett fallen, das er so lange vermisst hatte.
Hermine stand zwischen seinem und Rons Bett, offensichtlich unsicher, ob sie sich einfach in Rons Bett legen durfte oder sollte. Nach kurzem Überlegen richtete sie ihren Zauberstab auf einen ebenfalls dort stehenden Stuhl und transfigurierte ihn in ein weiteres Himmelbett, in das sie sich dann, nachdem sie ihren Zauberstab und ihre Perlenhandtasche davor gelegt hatte, bis auf die Schuhe ebenfalls voll angezogen legte.
„Gute Nacht, Harry", flüsterte sie, schloss die Augen und machte es sich bequem.
„Schlaf gut, Hermine", flüsterte Harry zurück. Dann schloss auch er die Augen. Nur Sekunden später verschwand der Schlafsaal mit den sechs Himmelbetten und wurde durch Leere ersetzt. Es war schon fast Mittagszeit, als Harry wieder wach wurde.
