Kapitel 12 Gartengespräche Teil 1
Die vergangenen Stunden waren anstrengend gewesen. Nach der überhasteten Rückkehr aus der Winkelgasse hatten sie zunächst bangend die Rückmeldungen aller DA-Mitglieder abgewartet, dass alle sicher zu Hause angekommen waren. Als jeder Bescheid gegeben hatte, und ihnen damit ein Stein vom Herzen gefallen war, hatten sie eine improvisierte Kleinigkeit gegessen und waren anschließend zu dritt in Harrys Landhaus appariert. Dort hatten sie mit dem Saubermachen und Renovieren angefangen, was sich trotz üppiger Zuhilfenahme von Magie als ziemlich anstrengende und kräftezehrende Angelegenheit erwies, die noch dazu rein optisch betrachtet kaum Wirkung zu zeigen schien. Doch war das wohl in Anbetracht der Menge an Staub und Schmutz auch nicht zu erwarten gewesen.
Nach ihrer Rückkehr hatte es ein umfangreiches Abendessen gegeben, an dem auch Bill und Fleur teilgenommen hatten. Da sich Mr. Weasley wegen der enormen Arbeitsbelastung im Aurorenbüro fast eine Stunde verspätet hatte, hatten Ron, Bill und Harry kurzfristig etwas Dreier-Quidditch gespielt, das darin bestand, dass er und Bill abwechselnd einen von Ron verteidigten Ring unter Beschuss nahmen, den sie nahe des Hauses kurzfristig herbeibeschworen hatten (das improvisierte Quidditch-Feld hinter dem Haus lag außerhalb des Schutzzauber des Fuchsbaus und konnte daher nicht genutzt werden.) Nach dem Essen, bei dem Hermine und Fleur bestimmt eine halbe Stunde über das bald erscheinende Buch geredet hatten – es stellte sich heraus, dass die Historikerin auch Teilzeitprofessorin in Beauxbaton war und Fleur Kurse bei ihr besucht hatte – war Harry alleine in den Garten gegangen und nach dem langen anstrengenden Tag in der warmen Abendluft auch schnell weggedöst.
„Hi. Darf ich dich mal für ein paar Minuten entführen?"
Harry hob den müden Kopf und öffnete langsam blinzelnd die Augen. Er sah Hermine neben ihm stehen, die auf ihrer Unterlippe kaute. Er kannte dieses Zeichen, hatte es oft genug an ihr gesehen. Normal stand es für intensives Nachdenken. Oft auch für Nervosität. Manchmal aber auch für Unsicherheit. Es konnte aber auch alles auf einmal sein.
„Öh..., klar. Was gibt's?"
Harry erhob sich von der Bank neben dem Fuchsbau, streckte sich laut gähnend und folgte Hermine in eine abgelegene Ecke des Gartens, wo sie normal nicht mit Zuhörern rechnen mussten. Die Sonne war kurz vorm Untergehen, und es begann so langsam wieder frisch zu werden.
„Habe ich dich geweckt gerade?", fragte Hermine unsicher.
Harry schüttelte den Kopf.
„Nein, ich hatte nur die Augen zu. Ich bin schon vor eine Weile wieder aufgewacht. Um was geht's?"
Hermine griff in ihre Tasche und gab Harry ein kleines Büchlein zurück.
„Also, ich bin vorhin mal die Anleitung für die Schlösser und die verwendeten Zauber durchgegangen. Ich denke, das sieht alles unbedenklich aus. Wenn du willst, können wir sie morgen installieren."
Harry nickte.
„Sehr gut! Danke!" Doch der weiterhin unsichere, betretene Blick von Hermine irritierte ihn. „Aber das war nicht, weswegen du mich hier her geführt hast, oder?"
Hermine spielte ein paar Sekunden mit ihren Haaren, dann schüttelte sie den Kopf.
„Ich... ich habe noch mal über den Reporter-Typen heute Vormittag nachgedacht", begann sie langsam, bevor sie in einen richtigen Redefluss kam. „Ich fand das eine Unverschämtheit, wie er da aufgetreten ist. Einfach so reinplatzen, ungefragt Fotos machen, kein Nein akzeptieren wollen. So wie er dich bedrängt hat, das war einfach nicht ok! Es gibt eine Privatsphäre, in die niemand eindringen darf. Das hat den einfach nicht interessiert. So wie er da aufgetreten ist, so ist das einfach unfair und nicht akzeptabel! Wenn jemand Nein sagt, dann heißt das auch nein! Gerade wenn es jemand wie du ist, der so viel geleistet und auch durchgemacht hat! Da gibt es einfach eine Grenze!"
Harry konnte nur zustimmen, er empfand das gleiche.
„Danke, Hermine", sagte er, von Dankbarkeit erfüllt. „Die Unterstützung tut wirklich gut."
Hermine lächelte.
„Immer. Und gern geschehen. Ich weiß, ich habe das vorhin schon einmal gesagt, aber ich wollte es trotzdem noch mal erwähnen. Und denk daran: Wenn morgen ein bösartiger Artikel erscheint, dann nimm das bitte nicht persönlich. Nach der Abfuhr erwarte ich sogar, dass morgen ein Schmähartikel kommt..."
Harry nickte zustimmend.
„Auch das hast du vorhin schon erwähnt."
Harry betrachtete sie ein paar Sekunden wortlos, und die Art, wie sie ihn ansah, bzw. eher weg sah, irritierte ihn. Harry beschloss, sein Glück zu versuchen und forsch zu sein.
„Kann es sein, dass du eigentlich über etwas anderes reden willst?"
Hermine seufzte, dann holte sie eine Decke aus ihrer Perlenhandtasche, legte sie zwischen zwei Bäume ins Gras und setzte sich im Schneidersitz darauf, ihren Rücken an einen der Bäume gelehnt. Dann klopfte sie mit einer Hand auf die Decke und bedeutete Harry, sich ebenfalls zu setzen. Harry ließ sich vor ihr nieder, lehnte sich leicht versetzt an den anderen Baum und streckte seine Beine neben Hermine aus.
„Sind dir heute morgen die ganzen Werbeplakate für diese neue Radio-Talkshow aufgefallen, die überall in der Winkelgasse hingen?", fragte Hermine schließlich rundheraus und sah Harry direkt an.
Harry begann sich zu erinnern.
„Das mit diesem einen Typen, der so dämlich dreinschaute?"
Hermines Augen begannen zu funkeln.
„Ja, genau die! Da hingen lauter Plakate, und zwar mehrere Varianten davon. Alle sehr auffällig, gut gemachte, richtige Eyecatcher. Nicht zu übersehen."
„Mir fielen sie auf, als ihr in der Apotheke wart", erklärte Harry. „Was ist mit denen?"
„Ich habe den Talkmaster schon einmal gesehen", sagte Hermine dunkel. „Ich komme aber partout nicht darauf, wo. Ich zermartere mir seit heute Mittag den Kopf, aber es klickt einfach nicht! Mir bekommt das Gesicht bekannt vor, aber ich kann es nicht einordnen. Ich überlege die ganze Zeit, in welchem Kontext es war, aber... nichts. Ich glaube, es war im vierten Jahr, während du die ganzen Prüfungen vor dir hattest und es einiges an Medienberichterstattung gab. Aber ich kann mich einfach nicht konkret erinnern", seufzte sie frustriert über sich selbst.
„Es gab damals so viele Artikel im Tagespropheten, du kannst unmöglich alle im Kopf haben", sagte Harry nüchtern. „Wobei die meisten ja von Kimmkorn waren, der alten Giftspritze."
„Ich glaube nicht, dass es ein Artikel im Tagespropheten war", entgegnete Hermine. „Würde mich wundern."
„Nicht?", fragte Harry verdutzt. „Wo dann?"
Hermine seufzte erneut.
„Ich habe damals nicht nur den Tagespropheten gelesen...", gestand Hermine etwas kleinlaut.
„Was gibt's denn noch?"
Harry sah Hermine perplex an. Er wusste, dass der Tagesprophet nicht das einzige Printprodukt in Großbritannien war, aber eben die einzige große Tageszeitung. Klar gab es noch den Klitterer und ein paar weitere ähnlich obskure Journale, aber den hatte sie ziemlich sicher nicht gemeint. Die Quidditch-Magazine, die er ab und zu mal las, sicher auch nicht. Vielleicht die Hexenwoche?
„Die Hexenwoche nicht", erklärte Hermine resolut, als könne sie seine Gedanken lesen. „Ok, um ehrlich zu sein, habe ich damals Parvati und Lavender gebeten, dass sie mir sofort Bescheid geben sollen, wenn dort ein Artikel über dich auftaucht. Das kam meines Wissens aber nur zwei Mal vor, und beide Male war es informationsleerer Klatsch."
„Was dann?", fragte Harry, nun endgültig mit dem Latein am Ende.
Hermine schnaubte.
„Weißt du Harry, in der Bibliothek gibt es ein Abonnement für Periodika, also regelmäßig erscheinende Publikationen. Das meiste sind Zaubererfachzeitschriften, die eher für Professoren und Zauberer relevant sind, die sich mit höherer Magie deutlich über UTZ-Niveau befassen wollen. Es sind aber auch Zeitungen aus dem Ausland dabei. Die bin ich einmal die Woche durchgegangen, um dort Artikel über dich zu finden. Um herauszufinden, wie du dort dargestellt wurdest."
„Es gab Artikel in ausländischen Zeitungen über mich?", fragte Harry halb verwundert, halb entsetzt.
„Natürlich, Harry!", stöhnte Hermine, und ihr Tonfall machte klar, dass Harry mal wieder einen kapitalen Bock beim Denken geschossen hatte. „Bei Merlin, du warst der Auserwählte! Der Junge, der lebte! Und zugleich der viel zu junge Zauberer, der durch mysteriöse Umstände in einen uralten magischen Wettbewerb gelangte, in dem Teilnehmer aus mehreren Nationen um einen Pokal voller Prestige kämpfen. Da ist doch klar, dass das auch auf internationales Medieninteresse stößt, oder nicht?"
Jetzt merkte Harry, dass er da wirklich etwas Großes übersehen hatte. Diese Erklärung von Hermine ergab natürlich Sinn, so wie fast alles, was sie von sich gab. Trotzdem war er etwas enttäuscht darüber, dass er es so erfuhr, und sie ihm das nicht gleich in seinem vierten Schuljahr mitgeteilt hatte.
„Und das wolltest du mir damals nicht sagen?", fragte Harry, etwas gekränkt.
Hermine sah beschämt zu Boden.
„Ich dachte, du hattest damals mehr als genug um die Ohren, um dir nicht auch noch Sorgen um deinen internationalen Ruf Gedanken zu machen... Außerdem hat dich Dumbledore ohnehin komplett von Presseanfragen aus dem Ausland abgeschirmt und wollte, dass das auch so bleibt..."
Diese Erklärung steigerte Harrys Aufmerksamkeit nur noch.
„Moment. Dumbledore hat dir gesagt, du sollst darüber schweigen?"
Hermine schnitt erneut eine Grimasse.
„Er hat mich nicht unbedingt direkt angewiesen, bloß kein Wort darüber zu verlieren. Aber er hat überzeugende Argumente genannt, warum es wohl besser sei, dir nichts davon zu erzählen, um dich zu schützen."
Harry schnaufte hart.
„Also hast du nichts gesagt..." Doch dann fiel ihm ein, dass er damit eigentlich ganz gut gefahren war. Und er keinen Grund hatte, auf Hermine böse zu sein. Klar hätte sie es ihm sagen können, aber hätte er es wirklich wissen müssen? Hätte es ihn damals wirklich vorangebracht? Wohl eher nicht, gestand er sich nach einigen Sekunden ein.
„Naja, wie auch immer", sagte er, um es dabei bewenden zu lassen. „Ist eh Schnee von gestern. Wie sind wir noch mal darauf gekommen? Also, was wolltest du mir eigentlich damit sagen?"
Hermine setzte sich etwas gerader hin.
„Der Talkmaster", wiederholte Hermine. „Naja, ich glaube, dass ich ihn in einem dieser Zeitungen gesehen habe. Ich glaube gar nicht mal, dass es da um dich ging. Aber er fiel mir auf. Und zwar nicht positiv."
„Inwiefern?", hakte Harry nach. „Hat er dummes Zeug geschrieben? Über was?"
„Das ist es ja gerade", stöhnte Hermine. „Ich weiß es nicht mehr. Ich meine, er war irgendwo im Ausland in einen ordentlichen Medienskandal verwickelt. Australien, USA, Kanada, keine Ahnung. Ich kann es einfach nicht mehr sagen. Ich müsste zurück nach Hogwarts, um es herauszufinden. Aber das ist derzeit wohl keine Option. Zumal ich gar nicht weiß, ob die Bibliothek überhaupt noch steht...", ergänzte sie leise und nahm schlagartig einen schockierten Gesichtsausdruck an, als sie realisierte, welchen Gedanken sie da gerade geäußert hatte.
„Ich habe nicht gehört, dass die Bibliothek etwas abbekommen hat während der Schlacht", erklärte Harry schnell, als ihm klar wurde, über was Hermine gerade nachdachte. Er hoffte tunlichst, damit Recht zu haben, denn er wollte sich nicht ausmalen, wie Hermine auf die Nachricht einer tatsächliche Zerstörung der Bibliothek reagieren würde. Dies überstieg seine Vorstellungskraft bei weitem.
„Ich hoffe, du hast Recht", flüsterte Hermine grüblerisch. Ganz überzeugt schien sie nicht zu sein.
Harry versuchte, sich die Plakate und seinen ersten Eindruck in Erinnerung zu rufen, um das Gespräch wieder in andere Bahnen zu lenken, weg von der Möglichkeit, dass die Bibliothek zerstört wurde.
„Um ehrlich zu sein", sagte er, „ich habe bei der Sendung auch auf Anhieb ein schlechtes Gefühl. Ich weiß nicht, ich kann es nicht beschreiben, aber die Plakate wirkten auf mich seltsam. Düster irgendwie."
„Das auch, ja", bekräftigte Hermine, und Harry war froh, dass Hermine den Faden ergriff. „Was mich aber so stutzig macht, ist der enorme Werbeaufwand für diese Talkshow. Die halbe Winkelgasse war voll mit diesen Plakaten. Und es war kein einzelnes Werbeplakat, sondern eine ganze Serie verschiedener. Alle mit der gleichen Grundaussage. Ich habe mindestens vier verschiedene gezählt und habe keine Ahnung, ob das alle sind oder es noch mehr gibt. Oder wie lange diese Werbekampagne schon läuft. So etwas kostet Geld, Harry, ordentlich Geld. Wer dahinter steckt, muss sich von dieser Talkshow richtig viele Zuhörer versprechen, sonst würde man da nicht so viel Geld reinstecken. Und das, zusammen mit meinem schlechten Gefühl dabei und dem Verdacht, den Mann schon einmal gesehen zu haben, macht mir einfach Bauschmerzen. Wir haben so viel Spaltung erlebt in dieser Gesellschaft. Wir müssen die Gesellschaft zusammenführen, die Kluft überwinden, die zwischen Muggelgeborenen und Reinblütern herrscht. Und Slytherins und allen anderen. Durch die beiden Kriege ist das ohnehin schon extrem schwer. Aber was ist, wenn da jemand ist, der diese Spaltung noch weiter befeuert? So etwas kann richtig böse enden. Was ist, wenn die Talkshow genau diesem Zweck dient?", fragte sie mit sehr hoher Stimme, zunehmend aufgelöst.
Harry sah Hermine nachdenklich an.
„Glaubst du denn, das das das Ziel sein könnte?", fragte er.
Hermine zuckte die Schultern und seufzte schwer.
„Ich weiß es nicht, Harry. Es wäre möglich."
Hermine pausierte eine Sekunde, um eine Erinnerung zurück in ihr Bewusstsein zu holen, bevor sie fortfuhr.
„Weißt du Harry, in den Sommerferien 1994 war ich mit meinen Eltern zwei Wochen in Miami. Ok, genaugenommen Palm Beach, aber das liegt neben an. Wir waren in einem Hotel, das richtig schön war. Meine Eltern waren ganz begeistert und mir hat es auch gefallen. Zumindest vieles. Allerdings, und da sind wir bei dem Teil der mir überhaupt nicht gefallen hat, dort in der Hotellobby lief so eine Talkshow in Dauerschleife. So eine richtig unangenehme, düstere, ja bösartige Sendung, die sich über Stunden hinzog. War natürlich ein Muggel, der da über Muggel-Politik hergezogen ist, allen voran den US-Präsidenten. Ums kurz zu machen, das, was der Typ vom Stapel gelassen hat, da wurde mir regelrecht schlecht. Das war richtig üble Hetze. Da ging es nur darum, die Menschen aufzuwiegeln. Gegen alles. Die Monologe waren vollkommen irrational und faktenfrei, aber dafür mit umso mehr Emotionen vorgetragen. Der Typ wusste ganz genau, welche Knöpfe er drücken musste, um bei seinen Hörern starke Emotionen hervorzurufen. Und vielen Leuten gefiel es. Ich glaube, die merkten gar nicht, wie sie manipuliert wurden. Das war auch kein Lokalprogramm, das man einfach so als unwichtig oder irgendeine lokale Kuriosität abtun konnte. Ja, ich glaube zwar, dass der Typ aus Palm Beach kam, und hoffe, dass er dort deswegen so beliebt war. Aber diese Sendung wurde im ganzen Land ausgestrahlt! Und ich fürchte, der Mann hat dort in den USA Millionen Menschen indoktriniert. Also richtig indoktriniert. Und zwar definitiv nicht zum Guten."
Harry schnaufte hart.
„Und du fürchtest, dass der Typ hier das gleiche machen könnte?"
Hermine nickte traurig.
„Ja. Ja, das fürchte ich."
„Na super", brummte Harry missmutig.
Hermine starrte einen Moment nachdenklich in die Ferne, bevor die fortfuhr.
„Verstehe mich nicht falsch, Harry. Es wäre wirklich gut, wenn wir hier in der britischen Zaubererwelt eine größere Medienvielfalt bekommen. Was haben wir hier denn bisher an Medien? Den qualitativ ziemlich miesen Tagespropheten, einige Radiosender, mehrere Quidditch- und Frauenmagazine und ein paar randständige Spartenmedien. Klar, es gibt ein paar altehrwürdige Ausnahmen, aber wer kennt z.B. schon den WWC?"
Harry runzelte die Stirn und bestätigte damit Hermines Argument.
„Aber es muss auch guter Journalismus sein!", setzte sie ihren Monolog fort. „Nicht einfach nur Medien, die irgendwas äußern, nur weil es die Leute hören wollen. Weil es ihre Meinung – oder noch schlimmer – ihre Vorurteile bestätigt. Oder weil man damit schlicht und einfach Geld verdienen kann. Nur leider ist genau das der derzeitige Trend, allen voran beim Tagespropheten. Und das ist auf lange Sicht fatal für eine Gesellschaft."
„Wie meinst du?", hakte Harry nach.
„Ist das nicht logisch, Harry? Sind wir doch mal ehrlich: Um die Medienkompetenz unter Zauberern und Hexen ist es nicht gerade gut bestellt. Und das ist noch vorsichtig formuliert. Schauen wir uns doch einfach mal um: Luna nimmt jede „Entdeckung" - Hermine malte zwei Anführungszeichen in die Luft - eines neuen magischen Tierwesens für bare Münze. Parvati und Lavender glauben bedingungslos 90 % von dem, was in der Hexenwoche steht, während sie bei 10 % des Contents vielleicht nicht ganz so überzeugt sind. Das gegenteilige Verhältnis wäre wohl deutlich angebrachter. Ron studiert jedes Jahr vor der Quidditch-Saison hingebungsvoll die ganzen Transfer-Gerüchte in den Quidditch-Magazinen. Und wenn die Saison dann beginnt, fällt er aus allen Wolken, dass doch nicht alle Topspieler bei den Chudley Cannons gelandet sind. Und zu den ganzen Artikeln im Tagespropheten über dich, Voldemort usw. muss ich ja wohl nichts mehr sagen. Ich meine das nicht abwertend", rechtfertigte sich Hermine, „ich mag Ron und Luna und Parvati und Lavender! Und sie sind hier wie zig anderer Zauberer und Hexen. Sie haben einfach nicht gelernt, kritisch im Umgang mit Medien zu sein. Seriöse von unseriösen Medien zu unterscheiden. Eine solide Quellenkritik durchzuführen, bevor sie einem Medium oder einer Stimme Glauben schenken. Selbst in der Muggelwelt lernt man das erst so richtig an einer Universität. In der Zaubererwelt oft gar nicht. Dabei ist das eine extrem wichtige Grundkompetenz, die schon in der Schule unbedingt vermittelt werden müsste. Das heißt, Hexen und Zauberer sind noch viel anfälliger für manipulative Berichterstattung oder gar echte Propaganda als Muggel. Oft glauben sie deshalb einfach den Stimmen, die das sagen, was sie ohnehin schon selbst glauben."
„Und damit komme ich wieder zurück zu dieser Talkshow", sagte sie, nachdem sie tief Luft geholt hatte. „Eine Talkshow ist geradezu prädestiniert dafür, Leute davon zu überzeugen, dass ihre tief sitzenden Vorurteile wahr sind. Schlimmer, Talkshows verstärken sie oft noch. Meistens werden in Talkshows nämlich nicht die besten Experten zu einem bestimmten Thema präsentiert. Das gäbe in den meisten Fällen eine ziemlich trockene Sendung, wäre damit langweilig und die Hörer würden abschalten. Daher werden meist besonders kontroverse Leute eingeladen, also oft Menschen, die durch umstrittene Meinungen oder besonders zugespitzte Aussagen auffallen. Das merken die Zuhörer aber meist gar nicht, denn bei den meisten Themen haben normale Menschen doch gar nicht genügend Vorbildung, um beurteilen zu können, ob jemand ein kompetenter Experte ist oder doch eher ein unqualifizierter Meinungsmacher. Und eben weil das kaum jemand beurteilen kann, bleiben die meisten Leute anschließend bei ihrer vorherigen Meinung oder radikalisieren sich, nämlich dann, wenn der „Experte", den sie gut fanden, einen extremeren Standpunkt vertritt als sie selbst. So wird die Gesellschaft immer weiter gespalten. Die Mitte erodiert, die Ränder werden stärker. Besonders schlimm und fatal ist das, wenn zu Themen debattiert wird, bei denen sich praktisch alle echten Experten einig sind. Wenn dann eine Talkshow zwei Leute präsentiert, nämlich einen echten Experte, der sagt, was unter Fachleuten unumstritten ist, und einen Pseudoexperten, der das Gegenteil behauptet, dann vermittelt das den Eindruck, dass die Experten sich uneinig seien. Oder gar, dass beide Positionen gleich valide seien, auch wenn alle Belege für eine Seite sprechen."
Hermine schnaufte hart.
„Muggelabstammung zum Beispiel: Es gibt keinerlei Belege, dass Muggelstämmige in irgendeiner Weise schlechtere Magier sind als Reinblüter. Nichts. Nada. Niente. Das behaupten Reinblüter einfach nur aus rein ideologischen Gründen, ohne dass sie dafür irgendwelche Belege anführen können. Und sind wir mal ehrlich: Über dieses Thema wird ja schon Jahrhunderte gestritten. Daher existieren wirklich unzählige Untersuchungen, die sich genau mit diesem Thema auseinandersetzen. In der Bibliothek in Hogwarts gibt es ein ganzes Regal, in dem nur Bücher und Aufsätze stehen, in denen magische Gelehrte, Heiler usw. die Ergebnisse ihrer vergleichenden Untersuchungen festhalten. Ich habe im Laufe der Jahre einen Großteil dieser Werke durchforstet. Kein einziger dieser Forscher hat irgendeinen Unterschied zwischen Muggelgeborenen oder Reinblütern entdecken können. Wir sind einfach identisch. Doch hindert das irgendeinen Reinblüter daran, das Gegenteil zu behaupten? Nein!", fauchte Hermine. „Es werden immer wieder die gleichen Falschbehauptungen wiederholt. Immer wieder die gleichen Pseudoargumente, für die es keine Evidenz gibt, aber die einfach die politisch motivierten Vorurteile von Reinblütern bestätigen. Und wenn wir nun eine Talkshow bekommen, wo Evidenz einfach nicht mehr zählt, weil es nur darum geht, Meinungen zu transportieren, wo also jeder quasi alles behaupten kann, ohne dass es jemals nachgeprüft wird oder auf seine fachliche Fundiertheit abgeklopft wird, dann ist das politisch desaströs. Dann kriegen die Reinblüter erneut Oberwasser, weil es einfach keine Rolle mehr spielt, dass ihre Meinungen der Beleglage widersprechen. Denn in so einem Umfeld fragt keiner mehr danach, was Fakt ist, sondern es geht nur noch darum, ob man der Meinung zustimmt oder nicht. Leider ist das genau das, was ich bei der neuen Talkshow befürchte...
Harry seufzte. Über all das hatte er noch nie wirklich nachgedacht, doch so wie es Hermine erklärte, ergab das Sinn. Doch noch bevor er antworten konnte, setzte sie ihren Vortrag weiter fort:
„Wenn in so einer Talkshow über Muggelabstammung geredet wird, dann glaubst du doch nicht ernsthaft, dass da dann zig Dutzend fachkompetente magische Gelernte sitzen, die allesamt bestätigen, dass es keine Unterschiede zwischen Muggeln und Reinblütern gibt. Sicher nicht! Am wahrscheinlichsten ist, dass überhaupt kein magischer Gelehrter eingeladen wird, sondern nur zwei Zauberer oder Hexen mit gegensätzlichen Ansichten, die mit nichts anderem bewaffnet sind als mit einer gefestigten politischen Meinung. Über Belege wird dann überhaupt nicht geredet, stattdessen geht es nur um Meinung, und beide widersprechen sich bei nahezu jedem Punkt. Das führt beim Zuhörer meist zu der Wahrnehmung, dass es zwei Meinungen gibt, die beide gleich valide sind und von gleich großen Gruppen vertreten werden. Und zwar oft auch dann, wenn es unter magische Gelehrten keinerlei Streit gibt und sich alle einig sind, dass eine Meinung korrekt ist und die andere falsch. Manchmal werden auch magische Gelehrten eingeladen. Das ist prinzipiell schon mal gut, kann aber auch problematisch sein. Denn leider können viele magische Gelehrte alles andere als gut reden und drücken sich sehr verklausuliert und zurückhaltend aus, sodass viele normale Zuhörer ihnen einfach nicht folgen können. Wenn so jemand dann mit einem rhetorisch gut geschulten Politiker oder Meinungsmacher diskutiert, dann kann man fast sicher sein, dass der magische Gelehrte als gefühlter Verlierer aus der Sendung geht. Und das, obwohl er die Fakten auf seiner Seite hat."
Harry stöhnte laut auf und hob die Hände, als wolle er sich ergeben.
„Hermine! Mein Kopf explodiert! Es klingt alles sehr nachvollziehbar und sinnvoll, was du da gerade erzählst, aber ich bin einfach nicht mehr aufnahmefähig. Ich verstehe das Problem und auch warum du es so wichtig findest, aber können wir es bitte dabei beruhen lassen? Zumindest für heute Abend?"
Hermine wurde rot.
„Entschuldigung, Harry. Ich war einfach im Fluss und dann..."
„...kannst du schlecht aufhören. Ich weiß." Harry dachte einen Moment nach. „Um es jetzt mal ganz kurz zu fassen. Du findest also, wir sollten die Talkshow anhören, um zu wissen, womit wir es zu tun haben?"
Hermine blinzelte zustimmend.
„Es wäre besser, ja."
„Super", brummte Harry missmutig. „Ich hasse das Radio. Spätestens seit Ron das letzte Jahr ständig diesen dummen Sender hörte..."
Hermine lächelte einen Moment.
„Ich mag es auch nicht sonderlich", konstatiert sie schließlich. „Stört oft einfach beim Lesen..."
Harrys Mundwinkel zuckten nach oben.
„Welch Überraschung...", spöttelte er feixend.
Hermine schlug ihm gegen seinen Unterschenkel und funkelte ihn mit einem nicht ernst gemeinten bösen Blick an.
„Aua!", rief er theatralisch und rieb sich die kein bisschen schmerzende Stelle.
„Geschieht dir Recht. Du hast meine Bücher beleidigt..."
Die nächsten Minuten saßen sie schweigend zusammen und genossen einfach die traute Zweisamkeit. Worte waren dabei nicht notwendig, im Gegenteil. So gerne er sich mit Hermine unterhielt oder ihr auch einfach nur zuhörte, so sehr mochte er auch das gemeinsame Schweigen. Es war kein unangenehmes Schweigen, so wie es sich mit Ginny manchmal ergeben hatte, wenn ihnen beiden gerade nichts einfiel, über das zu Reden es sich lohnte. Es war ein Schweigen, das aus dem in Jahren entstandenen Vertrauen erwuchsen war, das Worte nicht notwendig waren, weil sie sich auch ohne perfekt verstanden. Ein Schweigen, das sich gut anfühlte und das kostbar war. Nach einer Weile lehnte Harry seinen Kopf zurück und schloss erneut die Augen, während Hermine in Gedanken versunken war.
„Pssst, Harry", flüsterte Hermine plötzlich.
Harry schlug die Augen auf und realisierte, dass es etwas dunkler war als noch vor einigen Minuten. Hermine signalisierte ihm mit einem unscheinbaren Kopfnicken und zugehörigen Augenbewegungen in Richtung des Hauses zu sehen. Harry drehte seinen Kopf vorsichtig in die gewiesene Richtung. Er brauchte einige Sekunden, dann sah er es. Bzw. besser, sie. Die Katze, die sie auf seinem Anwesen gerettet hatten, schlich nun nach Beginn der Dämmerung in ihre Richtung. Von ihrer Verletzung war nichts mehr zu sehen, im Gegenteil, sie bewegte sich so grazil wie jede andere Katze auch. Offenbar war sie auf der Jagd. Zwar wurde sie mehrfach täglich mehr als ausreichend gefüttert, allerdings äußerte sich das noch nicht in einer Verhaltensänderung. Harry mutmaßte, dass sie wohl auch noch einige Zeit lang weiter jagen würde. Er heilt das nur für nachvollziehbar. Niemand wusste, wie lange sie bis zu ihrer Rettung als Streuner unterwegs gewesen war, da war es nur natürlich, dass ihre Instinkte sie weiterhin antrieben. Selbst er hatte arge Probleme, einige im Krieg antrainierte Verhaltensweise wieder abzulegen, darunter auch eine ganze Menge, bei denen ihm sein Hirn klar sagte, dass sie nun nicht mehr notwendig waren. Und Hermine und den Weasleys ging es kein bisschen anders.
Als die Katze noch etwa fünf Meter entfernt war, stoppte sie mitten in ihrer Bewegung und starrte Harry und Hermine demonstrativ an. Harry warf Hermine einen kurzen Blick aus den Augenwinkeln zu und fokussierte sich dann wieder auf die Katze. Dann kam ihm eine Idee. Ganz langsam hob er seinen Arm und bewegte ihn in Richtung der Katze, während er damit begann, mit seiner Zunge schnalzende Geräusche von sich zu geben. Die Katze duckte sich tiefer ins Gras. Harry ließ sich nicht beeindrucken und setzte das Schnalzen fort. Nach vielleicht 30 Sekunden entspannte sich die Katze etwas und schlicht ganz vorsichtig langsam weiter auf ihn zu. Schritt für Schritt, fast wie in Zeitlupe, setzte sie eine Pfote vor die nächste, bis sie schließlich nur noch einen halben Meter von seiner Hand entfernt war. Dort stoppte sie und starrte Harry, zwischenzeitlich aber auch Hermine, durchdringend an. Es dauerte bestimmt zwei oder drei weitere Minuten, in denen weder Harry noch Hermine einen Ton sagten, bis sie die letzten vorsichtigen Schritte machte und schließlich angespannt und bereit, jederzeit die Flucht zu ergreifen, so nah an Harrys Hand heran gekrochen war, dass sie an ihr schnuppern konnte. Was sie dann auch tat.
Nach einigen Sekunden des intensiven Beschnupperns entspannte sich ihre Körperhaltung und sie kam etwas näher an Harry heran. Als Harry den Eindruck hatte, dass der erste Kontakt gut gelaufen war, bewegte er ganz langsam seinen Arm, um Kontakt zu initiieren. Die Katze beobachtete argwöhnisch seine Hand und zuckte beim ersten Kontakt auch leicht zusammen, ließ sich dann aber nach einigen Sekunden sachte von Harry an der Seite streicheln. Wieder ein paar Sekunden später bewegte sie sich von Harry weg und startete gegenüber Hermine einen zweiten Annäherungsversuch, der genau wie bei Harry ablief. Schließlich ließ sie sich auch von Hermine streicheln und begann dann ganz leise zu schnurren. Nach etwa einer Minute hatte sie genug, entfernte sich von den beiden und setzte ihren ursprünglich begonnenen Weg fort. Der Jagdtrieb war offenbar stärker als der Kuschelbedarf.
„Das war interessant", bemerkte Harry, als die Katze außer Sicht war.
„Finde ich auch, Harry", stimmte Hermine zu. „Hast du gemerkt, wie sie sich fast schlagartig entspannt hat, nachdem sie an dir geschnüffelt hat? Bei mir die gleiche Reaktion. Ich glaube, das ist ein weiterer Beleg für meine Hypothese."
„Du meinst, dass sie ein Halb-Kniesel ist?"
„Kieselmischling", korrigierte ihn Hermine.
Harry erinnerte sich.
„Ach ja, du meintest ja, dass man einen Halbkniesel noch an seinem Aussehen erkennen können würde."
„Genau, Harry. Der Katze sieht man es aber nicht an. Ich denke aber trotzdem, dass sie genug Knieselblut in sich trägt, um noch eine Reihe von Knieseleigenschaften zu zeigen. Das hier gerade war meiner Meinung nach ein ziemlich deutliches Indiz dafür. Ich glaube nicht, dass sich eine Katze nach so kurzer Zeit vom reinen Schnüffeln so schnell entspannen würde. Klar, wir wissen nicht, ob sie von Menschen aufgezogen wurde, vielleicht bis vor kurzem noch unter Menschen gelebt hat. Dann könnte sie durchaus sehr offen für Kontakt mit Menschen sein. Wenn sie dann noch eine sehr anhängliche Katze ist... Ein Kniesel hingegen würde es spüren, wenn Menschen vertrauenswürdig sind."
„Du bist jedenfalls klar vertrauenswürdig", sagte Harry wie aus der Pistole geschossen.
Hermine begann zu lächeln.
„Öh, danke Harry. Das ist nett, dass du das sagst."
Harry runzelte die Stirn, unsicher, was er mit dem Wort „nett" anfangen sollte.
„Du übrigens auch", schob Hermine hastig nach.
„Es ist einfach die Wahrheit", ergänzte er und ließ keinen Zweifel daran, dass er es auch so meinte.
