Kapitel 1

Sie hatte die Schritte, die den Kiesweg zu ihrem Haus hinauf kamen, längst gehört. Schnell, sicher, zielstrebig kamen sie dem Haus immer näher. Eine Person, zwei, drei, vier, vielleicht fünf? Sie lauschte angestrengt. Durch die geöffneten Fenster konnte sie deutliche Wortfetzen verstehen. Hier ist es? Sicher? Eine männliche Stimme, die ihr so merkwürdig vertraut vorkam. Langsam schwang sie sich aus dem Bett, in dem sie schon seit Tagen keinen Schlaf mehr fand und zog sich etwas über. Wie lange hatte sie auf diesen Tag gewartet? Sich darauf vorbereitet? Und doch schien es so anders, so unwirklich. Sollte es wirklich heute sein? Aber wer sollte sie sonst mitten in der Nacht aufsuchen? Hier? So weit weg von allem. Wer sollte den Weg auf sich nehmen, wenn es nicht wirklich wichtig war? Ein lautes Ächzen drang aus dem Erdgeschoss zu ihr empor. Sie hatten die schwere Eingangstür aus den Angeln gesprengt. Auf Ruhe oder Vorsicht schien es ihnen nicht anzukommen, was dafür sehr sprach, dass sie sich sicher fühlten. Sollte er tatsächlich selbst kommen? Nein, das war unmöglich. Dafür war sie in Anbetracht der Situation wohl kaum wichtig genug.

Sie hatte die Gerüchte gehört und ihnen - im Gegensatz zu vielen anderen - sofort Glauben geschenkt. Dieser Junge hatte behauptet ihn gesehen zu haben. Hatte behauptet Zeuge seiner Rückkehr gewesen zu sein. Nur knapp sei er mit dem Leben davon gekommen. Dies klang allerdings auch für sie abwegig. Hätte er wirklich versucht den Jungen zu töten, wäre er mit Sicherheit erfolgreich gewesen, oder? Vielleicht hatte er nur mit ihm gespielt, ihn davon kommen lassen nur um ihn dann in einem glorreichen Moment endlich zu töten. Sich an ihm zu rächen, für die verlorenen Jahre. Natürlich glaubte kaum einer dem Jungen. Wie sollten sie auch? Dazu müssten sie zunächst akzeptieren, dass der wohl mächtigste und gefährlichste Zauberer aller Zeiten nicht so gut wie tot war. Dass er zurück kam und genau da weiter machen würde, wo er vor all den Jahren aufgehört hatte. Für die meisten Menschen stellte dies einen unmöglichen Zustand dar. Vermutlich ließen die Zeitungen sich auch deshalb so über den Jungen aus, zweifelten an seiner geistigen Gesundheit und derer seines größten Beschützers. Wenn es einer mit dem Dunklen Lord hätte aufnehmen können, dann wohl Albus Dumbledore, wobei sie mittlerweile auch daran sehr zweifelte. Aber so war es für das Ministerium natürlich viel einfacher. So mussten sie sich nicht eingestehen in welcher Gefahr sie schwebten. In ihren Augen lag die größte Gefahr darin, dass der immer älter werdende Zauberer nun doch seinen Namen in den Geschichtsbüchern verewigen wollte und nun doch den Posten des Ministers für sich beanspruchte. Dass er mit seinem jungen Schützling einen Plan geschmiedet hatte um sich als großer Retter in der Not aufzuspielen. Einer Not die es gar nicht gab.

Es war eine törichte Einstellung, die nur ein Feigling haben konnte. Jemand, der sich seine eigenen Fehleinschätzungen nicht eingestehen konnte oder wollte. Der Dunkle Lord war nicht tot, zu keiner Zeit, und nun würde er kommen um einzufordern was ohnehin ihm gehörte.

Stimmen drangen zu ihr hinauf. Ein Autsch! und Geh bei Seite! Konnte sie deutlich ausmachen. Sie musste Lächeln. Langsam öffnete sie die Schlafzimmertür um nach zu sehen, wer sie so spät in der Nacht – oder so früh am Morgen - störte. Im Flur herrschte bläuliches Zwielicht, welches offensichtlich von mehreren erhobenen Zauberstäben stammte. Langsam schritt sie zur Galerie, um hinunter in die Eingangshalle zu blicken. Im fahlen Licht der Zauberstäbe konnte sie deutlich einen großgewachsenen Mann mit langem, blonden Haar erkennen, der abschätzig ihre Eingangshalle musterte. Seinen überheblichen Blick hatte scheinbar die Jahre über behalten und sie hatte ihn nicht vergessen. Links von ihm erkannte sie einen weiteren Mann der - ebenfalls sehr interessiert - einen Blick in das dunkle Wohnzimmer riskierte. Es polterte erneut und dicklicher, unförmiger Mann, dicht gefolgt von einem mit den Armen rudernden ebenso plumpen Mann, stolperten über die am Boden liegende Tür herein. Es war ein amüsanter Anblick. Auch den letzten Mann, der aus ihrer Küche zurück in den Flur trat, einen Stapel Briefe in der Hand haltend, erkannte sie sogleich. Es waren Jahre vergangen, gefühlt ein ganzes Leben, doch hatten sie sich kaum verändert.

„Wie ich feststellen muss, kümmert dich das Postgeheimnis wenig?", rief sie ihm dem Mann, der immer noch neugierig ihre Post inspizierte, zu und betrachtete ihn mit leicht zur Seite geneigtem Kopf. „Möchtest du, dass ich das Licht einschalte? Erleichtert das Lesen." Die Männer erschraken und richteten augenblicklich ihre Zauberstäbe auf sie. Sie hob schnell die Hände und wich einen Schritt zurück um ihnen deutlich zu zeigen, dass sie unbewaffnet war und keinerlei Gefahr darstellte.

„Fünf gegen eins? Ist das nicht selbst für euch recht unfair?", fragte sie lachend.

„Lasst die Zauberstäbe sinken! Sofort!" befahl eine kalte, hohe Stimme, wie zerspringendes Eis in einer Winternacht. Sie erkannte ihn sofort. Er war tatsächlich selbst gekommen. Das hatte sie nicht erwartet. Die Männer gehorchten ihm augenblicklich. Der Dunkle Lord hatte ebenfalls ihre Eingangshalle betreten und sah zu ihr empor. Ihre Blicke trafen sich und ihr Herzschlag beschleunigte sich. Der Moment war gekommen, doch musste sie bei seinem Anblick schlucken. Er hatte sich so verändert. Von dem einst so gutaussenden, jungen Mann war nichts mehr übrig. An seine Stelle war ein entstelltes Wesen getreten mit fahler, durchscheinender Haut, das eher Ähnlichkeit mit einer Schlange als mit einem Menschen hatte. Sie hatte sich damit abgefunden, dass von dem Mann, den sie einst kannte nichts mehr übrig war, doch beschlich sie das Gefühl, dass noch mehr verschwunden war, er noch mehr verloren hatte als zuvor. Langsam schritt sie auf ihn zu, Stufe für Stufe die Treppe hinunter. Sie konnte ihren Herzschlag bis in den Hals spüren. Seine Augen fixierten sie, bis sie vor ihm zum Stehen kam. Vorsichtig legte sie ihre Hand auf seine Wange, als müsste sie ihn berühren um sich zu vergewissern dass er real war, dass er tatsächlich vor ihr stand. Er fühlte sich kalt an aber in der Tat real. Sie betrachtete ihn länger als sie es beabsichtig hatte.

„Tom?" flüsterte sie kaum hörbar. Er nickte und deutete ihr mit einer Handbewegung an, ihm hinaus zu folgen. Sie verstand. In weiser Voraussicht hatte sie schon vor Tagen das Nötigste in eine große Reisetasche gepackt, die neben der Haustür platziert hatte. Sie hielt sie dem großen, blonden Mann auffordernd hin, der ihr Gewicht augenscheinlich unterschätzte und beinahe das Gleichgewicht verlor, als er sie ergriff. Langsam schritt sie nach draußen, darauf achtend nicht über die Tür zu stolpern. Hoffentlich würden die Herren sie wieder so platzieren, dass nicht jeder ungefragt hereinspazieren konnte, dachte sie. Die Schutzzauber, die ihr Haus umgaben waren stark aber sie würde wohl kaum zurück kommen um sie regelmäßig zu erneuern.

Die Nachtluft war angenehm kühl. In den Bäumen sangen bereits die ersten Vögel und im Osten zeichnete sich ein blasser Schimmer ab, der den nahenden Morgen ankündigte. Wenn sie die Augen schloss und lauschte, konnte sie entfernt das Meer rauschen hören. Sie hatte ihr Haus geliebt und versuchte es sich genau einzuprägen. Die Geräusche, den Duft des Gartens, des Meeres. Wer konnte schon sagen, wann sie es wieder sehen würde? Sie ging nicht davon aus, schnell wieder zurückkehren zu können. Er hatte vermutlich andere Pläne. Der Dunkle Lord war den Kiesweg hinab gegangen und streckte seine Hand nach ihr aus, die sie sogleich ergriff. Mit einem leisen plopp waren sie verschwunden. Auch Malfoy, Macnair, Avery, Crabbe und Goyle verschwanden sogleich wieder, natürlich nachdem sie die schwere Tür wieder zurück an ihren Platz gehievt hatten.


Ein sehr kurzes, erstes Kapitel, daher folgt morgen vermutlich auch direkt das zweite. Hier passiert ja noch nicht so viel. Ich freue mich natürlich über jedweden Kommentar.