Kapitel 03 - "Wer ist da?"

Kommandant Gendo Ikaris Büro

"Ritsuko, in welchem Zustand befinden sich die EVAs?"

Ritsuko Akagi erschauderte leicht.
Kommandant Ikari nannte sie nur bei ihrem Vornamen, wenn sie unter sich waren.
Die Kälte in seiner Stimme verlieh ihrem Namen einen seltsamen Mißklang. Um dies
zu überspielen, warf sie einen Blick auf ihre Notizen.
"EVA-01 und 02 haben keine Schäden davongetragen, bei EVA-00 müssen verschiedene
Teile der Panzerung ausgewechselt werden, alle anderen Schäden regeneriert die
Einheit selbsttätig.
EVA-04 hat bei dem Aufprall auf den Engel leichte Schäden in den verstärkenden
Gelenk-Hydrauliken davongetragen, die jedoch auch schon fast regeneriert sind.
Allerdings muß ich sagen, daß EVA-04 leichte Konstruktionsfehler aufweist."

"Inwiefern?"

"Der Entry-Plug läßt sich nicht gänzlich entfernen und das Zugangssystem ist leicht
verklemmt. Ich schätze, es liegt an der Eile, in der EVA-04 fertiggestellt wurde.
Vorerst ist es nicht möglich, die Einheit über den Dummy-Plug zu steuern. Eine
Auswertung der Daten hat ferner ergeben, daß die Reaktionszeiten hinter denen der
anderen Einheiten zurückliegen."

"Der Grund?"

"Larsen erfüllt nicht alle Bedingungen für eine vollständige Synchronisation, es ist
überhaupt fast ein Wunder, daß EVA-04 seine Befehle annimmt."

"Wir sind bereits auf der Suche nach Ersatz. Laß die MAGI berechnen, ob die
Konstruktionsunterschiede die Synchronisationsfähigkeit zusätzlich beeinflussen
könnten."


***


EVA-Testzentrum

Shinji betrachtete die tiefschwarze EVA-04-Einheit mit den roten Streifen.

Die Lichter der Deckenbeleuchtung spiegelten sich in der Tri-Polymer-Titanium-
panzerung der Außenhülle, ebenso sein Gesicht, wenn auch nur als verwaschener
Fleck.

EVA-04 war ein gutes Stück kleiner als die anderen EVA-Einheiten, dafür gedrunge-
ner, bulliger, wie ein alter Schwergewichtsboxer in Lauerstellung.

Ob das etwas mit dem Piloten zu tun hat? dachte Shinji, der begonnen hatte,
sich seine eigenen Gedanken über die EVAs zu machen.

Der Einstieg des Entry-Plug stand offen, es war ein ungewohnter Anblick, gewöhnli-
cherweise wurden die Kapseln erst in die Steuernerven der EVAs eingeführt, wenn
die Piloten an Bord waren.- Ein Konstruktionsfehler, wie Shinji aufgeschnappt hatte.

"Worauf wartest du noch?" kam Dr.Akagis Stimme aus dem Lautsprecher.

Er sah auf.
"Sofort. Tut mir leid."

Shinji trug seine Plug-suit, auf dem Programm standen Kreuzsynchronisationstests,
die nun auch auf EVA-04 ausgeweitet wurden. Jeder Pilot sollte im Notfall in der
Lage sein, die anderen EVAs zu steuern - mit Ausnahme Asukas, die ohnehin keinen
anderen Piloten in ihren EVA-02 gelassen hätte.

Eilig kletterte er in die Steuerkapsel, der Boden bestand aus geriffeltem Metall,
um das Treten zu erleichtern. Es war eng in der Kapsel, der Pilotensitz, die Monitore
und die Steuerung füllten sie fast aus.

In den anderen EVA-Steuerkapseln ist mehr Platz... dachte Shinji, während er
sich an der Lehne des starreingebauten Sitzes vorbeiquetschte und hinter der
Steuerung Platz nahm.
Hinter ihm wurde die Kapsel geschlossen.

"Shinji, bereit?" kam Misatos Stimme aus dem Interkom. Sie, Akagi, Rei und Asuka
waren im Steuerungszentrum des Testbereiches.

"Um, ja."

"LCL wird eingeleitet."

Die fast klare Flüssigkeit mit dem leichten Blauschimmer bedeckte rasch den Boden,
stieg auf Knie-, dann auf Brusthöhe.

Shinji wußte mittlerweile im Schlaf, wie er reagieren mußte - einfach die Flüssigkeit,
die ihm das Atmen leichter ermöglichen sollte, einatmen -, doch es war alles andere
als angenehm.
Wie immer stellte sich kurzfristig das Gefühl zu Ertrinken ein, wollte er die Flüssig-
keit instinktiv ausspucken. Dann gewann der Verstand die Oberhand über seine In-
stinkte.

Er streckte die Hände nach den Steuerungselementen aus.

"Synchronisationstest beginnt."

Der EVA reagierte nicht.

Shinji blinzelte. Da war... nichts... Keine Antwort auf seine Gedanken, keine Reak-
tion.

"Shinji, stimmt etwas bei dir nicht?"

"Ah... Ich weiß nicht. Es ist anders, still..."

"Test wird abgebrochen."

Die LCL-Flüssigkeit lief ab.


***


"Warum synchronisiert er nicht?" murmelte Ritsuko und starrte auf den Monitor. Keine
einzige Synapsenverbindung war geschlossen worden.

"Wahrscheinlich hat er Angst", lästerte Asuka. "Es ist ja auch nicht sein EVA-01."

"Mit EVA-00 hatte er keine Probleme", warf Rei sanft ein.

Asuka warf ihr einen funkelnden Blick zu.
"Oh, ja, ich erinnere mich. ´Es riecht nach Ayanami´. Dieser Perverse, wer weiß, was
er jetzt gerade riecht."

"Du kannst es ja herausfinden, Asuka." unterbrach Misato den Rotschopf und
deutete auf die EVA-Einheit auf der anderen Seite der Panzerglasscheibe.

"Ich werde das Ding schon schaukeln."
Asuka stürmte hinaus, dabei Gesten machend, als würde sie sich die Ärmel ihrer
Plug-suit hochkrempeln.


***


Shinji verließ gerade die Steuerkapsel, zwei Techniker hatten ihm bei der verklemm-
ten Zugangluke helfen müssen.

"Was hast du jetzt wieder angestellt?" rief Asuka schon von weitem, sie betrat gera-
de den Laufsteg.

"Nichts, EVA-04 hat einfach nicht reagiert."

"Ah, Dummkopf, laß mich vorbei." Sie stieß ihn zur Seite und kletterte in die
Steuerkapsel.


***


Asuka hatte weitaus weniger Probleme mit der LCL-Flüssigkeit als Shinji.

"Steuerungsprogramm umgeschrieben. Test beginnt."

Sie konzentrierte sich. Ihr EVA-02 reagierte nach all dem Training meistens sofort
auf ihre Kommandos, doch hier... geschah nichts. Es war, als würden ihre Gedanken
in einer unfaßbaren Leere verschwinden. Und das machte sie wütend.

"Dann eben mit Gewalt!"
Sie griff nach den Steuerungselementen.

Die ließen sich keinen Millimeter weit bewegen.

"Verdammte Kiste, beweg dich!"

Warum sollte ich?

Mit einem erschreckten Ausruf ließ sie die Steuerung los und kroch rückwärts in den
Pilotsitz hinein, bis sie meinte, die Rückenlehne stünde kurz davor abzubrechen.

"Was war das?"

"Asuka, ist alles in Ordnung?" fragte Misato über Interkom.

"Mit wem sprichst du?" fragte Dr.Akagi.

Asuka sah sich blitzschnell in der Kapsel um. Sie war allein - natürlich -, die
Kapsel bot zuwenig Platz für eine weitere Person.
Die halten mich noch für verrückt.
"N-Nichts, alles in Ordnung." murmelte sie.

"Eben bestand kurzfristig eine Synchronisation von 5%. Versuch es noch einmal."

"Gut."
Ihr war unwohl. Irgendetwas stimmte mit der EVA-Einheit nicht.
Zaghaft griff sie nach der Steuerung, während sie mit ihren Gedanken den Steuernerv
des EVA zu erreichen versuchte.

"Beweg dich!"

Na gut.

Dieses Mal sprang sie nicht zurück, stieß auch keinen Laut des Erschreckens aus,
als ihr klar wurde, daß es der EVA selbst war, der ihr antwortete. Die Verbindung
war zustandegekommen, wenn auch ganz anders, als sie es sich vorgestellt hatte.

Wer bist du? tasteten ihre Gedanken nach dem anderen.

EVA-04, hergestellt in Hamburg-02, New Germany. Es folgte eine Reihe technischer
Daten, dann der Tag der ersten Inbetriebnahme. Zugewiesen Leutnant Wolf Larsen...
Identifiziere neuen Piloten: Asuka Soryu Langley. Überprüfe Autorisierung.

Das muß eine Art Sicherheitsprotokoll sein. EVA-02 hat nie mit mir gesprochen.

Asuka Soryu Langley, Second Children, Pilotin von EVA-02, NERV-Angehörige.
Beschränkter Zugang.

Was soll das jetzt wieder heißen?

Hardware-Konfiguration unzureichend für erweiterten Zugriff.
Dann schwieg die Stimme des EVA.

Dafür ließ sich die Steuerung bewegen, auf ihre Gedankenbefehle reagierte EVA-04
jedoch immer noch nicht.

EVA-04 erzitterte in den Sicherheitshalterungen. Die linke Hand ballte sich zur
Faust, drei Prog-Klingen schossen aus den Öffnungen zwischen den Knöcheln, raste-
ten ein.
Die Faust öffnete sich wieder, die Klingen wurden eingezogen.
Der Unterarm hob sich, wurde angewinkelt.
Zeige- und Mittelfinger streckten sich, die anderen wurden gekrümmt. Die Hand for-
mte ein V, das Siegeszeichen.

"Ha, geschafft!"

"Asuka, wir beenden den Test."

"Und, wie war ich?"

"Synchronisationsrate zeitweise bei 25%."

Asukas gute Laune verpuffte wieder. 25%, das war gleichbedeutend mit einer Reak-
tionszeit von ´Tut uns leid, der Engel hat den EVA zerlegt, ohne daß er einen Fin-
ger rühren konnte.´

"Laßt mich hier raus."


***


Verblieb noch Rei.

Diese war bereits auf dem Weg zur Kapsel, als Asuka endlich hinausklettern konnte.
In Gedanken verfluchte sie das defekte Zugangsschott der Kapsel, besänftigte sich
aber zugleich wieder, indem sie daran dachte, daß es nicht ihr EVA war und sie mit
dem %!&"(§$-Ding nichts mehr zu tun haben würde.

Rei kam ihr entgegen, den Blick starr geradeaus gerichtet, gerade, als hätte sie ei-
nen Stock verschluckt.

"Versuch´s besser zu machen, Wondergirl." flüsterte Asuka ihr zu, als sie sie pas-
sierte und streckte ihr in Gedanken die Zunge heraus.

"Ich werde mich bemühen."

Warum macht die eigentlich immer fast alles, was man ihr sagt?


***


"Rei, die Steuerung ist jetzt auf dich umgeschrieben."

"Ja."

Rei saß im Pilotensessel und tat nichts.

Die Kapsel riecht nach niemandem... Und es ist so still... EVA-04, antworte mir,
bitte.

Ja?

Die plötzliche Stime in ihrem Kopf überraschte Rei, erschreckte sie aber nicht, sie
war seltsame Dinge gewohnt.

EVA-04?

Einheit EVA-04, hergestellt in Hamburg-02, New Germany. Zugewiesen Leutnant Wolf
Larsen. Identifiziere neuen Piloten: Rei Ayanami, First Children, Pilotin von EVA-
00, NERV-Angehörige. Willkommen, Rei.

Die mentale Stimme besaß einen freundlichen Klang, als würde der EVA sich über
seine neue Bekanntschaft freuen.

Oder als ob er mich erkennen würde...

Voller Zugriff auf Funktionen wird hergestellt.

Ihr EVA-00 hatte noch nie zu ihr gesprochen, jedenfalls nicht mit Worten. Aber es
war ein EVANGELION, in dem sie sich befand, darin war sie ganz sicher - oder fast,
wiegesagt, sie war seltsame Dinge gewohnt.

Im nächsten Moment spürte sie den EVA, wurden ihre Arme zu den Armen von EVA-04,
wurden ihre Beine zu seinen Beinen.

EVA-04 richtete sich auf, soweit die Klammern dies zuließen. Die Augen leuchteten
auf.


***


"EVA-04 einsatzbereit", kam Reis Stimme aus dem Lautsprecher.

"Synchronisationsrate bei 78%" las Misato die Anzeigen ab. "Gut gemacht, Rei."

Asuka unterdrückte einen Schrei.
Und ich habe sie selbst auch noch dazu aufgefordert!
Mit aller Beherrschtheit, die sie noch aufbringen konnte, fragte sie:
"Werde ich noch gebraucht?"

"Nein, der Test ist abgeschlossen." antwortete Ritsuko.

Asuka stampfte hinaus, gefolgt von Shinji.

"Öh, Asuka..."

"Ja?" fauchte sie ihn an.

"Ich denke... ah, daß du nicht auch nicht... äh, schlecht geschlagen hast."

"Nicht schlecht? Nicht schlecht? Du... du..."
Ihr rechte Hand zuckte. Dann ging ihr auf, daß er nur versucht hatte, ihr etwas
Nettes zu sagen, auf seine Art eben. Der Drang, ihm eine zu scheuern, verflog.
"Hm. Aber ich glaube, es ist Zeit, ein paar Fragen zu stellen..."

"Aber... wem?"

"Frag nicht so dumm - unserem neuen Piloten natürlich."