Kapitel 04 - Warum?

Das Informationsuntersystem von MAGI hatte Asuka und Shinji in eine der hydro-
ponischen Anlagen der Geofront geführt, wo sie Wolf Larsen mit geschlossenen
Augen auf einer Bank sitzend fanden. Der deutsche Leutnant trug wieder seine
Fliegerkombination, als wäre er ständig bereit in den Einsatz zu gehen, die
geschlossenen Augen störten diesen Eindruck jedoch leicht.

"Asuka, warte, vielleicht will er nicht gestört werden."

"Dann hätte er sich ein Schild um den Hals hängen müssen!"

Larsen öffnete die Augen einen Spaltbreit, sah, wie die rothaarige Asuka sich
in ihrer roten Plug-suit vor ihm aufbaute, die Hände in die Hüften gestemmt.

Hinter ihr stand Shinji Ikari, dessen Gesicht seine Gedanken wiederzuspiegeln
schien.
Ich glaube nicht, daß das eine gute Idee ist.

Larsen öffnete die Augen vollständig, hob zugleich die Brauen und lächelte
freundlich.
"Sieht so aus, als wären die Tests für euch abgeschlossen. Kann ich euch ir-
gendwie helfen?"

"Allerdings." Asuka beugte sich leicht vor.
"Warum können Sie einen EVA steuern?"

Das Lächeln auf seinen Lippen entgleiste für einen Moment.

Hinter ihr machte Shinji Gesten, als wollte er sie beruhigen, natürlich nahm
sie nichts davon wahr.

Larsen seufzte.
"Die Frage mußte ja früher oder später kommen."

"Allerdings. Und erzählen Sie mir nicht, Sie wären das Fourth Children, dafür
sind Sie definitiv zu alt!"

"Da hast du Recht; ich wurde fünfzehn Jahre vor dem Second Impact geboren..."

"Ha!"

"...jedoch könnte man auch sagen, daß ich nach dem Second Impact wiedergeboren
wurde." vervollständigte er den Satz. "Du willst es wirklich wissen, oder?"

"Genau. Warum gehorcht EVA-04 Ihnen?"

Langsam hob Larsen die Hand, strich stumm an seiner linken Schläfe das tief-
schwarze Haar zur Seite. Darunter war Metall...

"Was... ist das?"
Asuka blinzelte, ihre Haltung verlor einiges von ihrem energischen Auftreten.

"Setzt euch." Er klopfte links und rechts von sich auf die Plastikbank, beugte
dann den Oberkörper nach vorn und stützte die Ellenbogen auf die Knie.
"Ich wurde beim Second Impact schwer verletzt, dabei hatte ich noch Glück, be-
denkt man, daß etwa die Hälfte der Weltbevölkerung dabei umgekommen ist."

Shinji fühlte sich veranlaßt, sein Bedauern auszudrückten, schluckte die Worte
jedoch hinunter und setzte sich.

Asuka setzte sich auf die andere Seite, Larsen immer noch anstarrend.

"Schwere Gehirnschäden... Als sich die Lage einigermaßen normalisiert hatte,
also als die Ärzte in den Krankenhäusern dazu kamen, zwischendurch luftzuholen,
und der Strom der Verletzten endlich zu verebben begann, erinnerte man sich
meiner. Ich hatte über vier Wochen in einem abgedunkelten Zimmer gelegen, ange-
schlossen an alle möglichen Maschinen, wie es der Wille meiner Eltern gewesen
war. Man führte an mir einen experimentellen chirurgischen Eingriff durch, bei
dem ein Teil des Gehirns durch künstlich gezüchtetes Gewebe und kybernetische
Emitter ersetzt wurde. Deshalb kann ich EVA-04 steuern, weil sich zwischen mei-
nem Gehirn und dem Steuernerv des EVA ein Mini-Computer befindet, der meine Ge-
hirnfunktionen überwacht und notfalls anpaßt."
Er tippte mit den Fingerspitzen leicht gegen seinen Schädel.
"Naja, und danach haben sie sich an die Rekonstruktion meines Körpers gemacht."

"Rekonstruktion?" echoete Shinji, schluckte trocken und gab damit ein Stichwort.

Wortlos streckte Larsen den rechten Arm aus, öffnete den Ärmel seiner Kombination
und schob ihn fast zum Ellenbogen hinauf.
Anstatt Haut war da mattschwarzes Metall, ein roter Streifen verlief den Unterarm
herab.

Wie sein EVA... schoß es Shinji durch den Kopf.

"59% meines Körpers wurden so rekonstruiert." flüsterte Larsen.

Asuka atmete heftig ein.
"Okay, Sie sind also ein..." Sie überlegte, suchte nach der richtigen Bezeichnung.

"Ich glaube, das Wort, nach dem du suchst, lautet ´Cyborg´"

"Genau. Danke, jetzt weiß ich, was ich wissen wollte."
Mit diesen Worten stand sie auf und rauschte davon
Noch ein Mutant für die Freak-Show.
Erst Dumpfbacke und Wondergirl und jetzt auch noch der Sechs-Millionen-DM-Mann...
Warum kann nicht einer mal normal sein? schimpfte sie still vor sich hin.


***


"Es tut mir leid."

Larsen krempelte in aller Seelenruhe den Ärmel herab und schloß ihn wieder.
"Was?"

"Wie Asuka sich verhalten hat."

"Ah, das macht nicht, ich bin schlimmeres gewöhnt. Du brauchst dich nicht für sie
zu entschuldigen."

"Tut mir leid."

"Hey, laß das mit den Entschuldigungen." Seine Stimme war freundlich, mitfühlend,
nicht wütend oder aufbrausend. "Also, wie sind die Tests verlaufen?"

"Uhm... Ich konnte EVA-04 nicht steuern..."

"Hast du ihn gefragt?"

"Was?"

"EVA-04 ist recht eigenwillig, das habe ich bei den ersten Testläufen bemerkt.
Wahrscheinlich hat man ihm ein paar Nervenknoten zuviel verpaßt."

"Ah..." Shinji verstand kein Wort.

"Und die anderen?"

"Asuka hat ihn angeschrien, danach konnte sie die Arme bewegen..."

Larsen grinste breit.

"Und Ayanami... Rei... konnte ihn völlig kontrollieren."

Das Grinsen erlosch, für einen Moment huschte, unbemerkt von Shinji, ein Anflug
von Traurigkeit über sein Gesicht.
"Das habe ich fast erwartet."

"Wieso?"

"..."
Larsen seufzte.
"Weil sie das First Children ist, die erste; sie hat die meiste Erfahrung mit EVAs.
Es gibt das Gerücht, sie wäre in einer Steuerkapsel aufgewachsen."

"Da-davon weiß ich nichts."

"Ist Asuka deshalb so wütend, weil Rei besser war als sie?"

"Uhm, ja."

"Und ist das der Grund, weshalb sie den EVA steuert - um sich zu beweisen?"

"Sie will die Beste sein."

"Die Generation, die nach dem Second Impact geboren wurde, ist schon seltsam...
Entschuldige, Junge, das sollte keine Beleidigung sein."

"Ich... ich bin nicht beleidigt, Larsen-san."

"Ah, komm, wir sitzen doch alle im gleichen Boot - oder EVA - , kannst mich Wolf
nennen. Herr Larsen ist mein Vater."

"Ja... Ich bin Shinji..."

"Freut mich." Er lächelte wieder.

"Sie sind also beim Militär?!"

"Ist eine Familientradition, seit sieben Generation stehen Larsens im Dienst ih-
res Landes."

"Oh."

"Weshalb steuerst du einen EVA? Willst du auch allen zeigen, was für ein toller
Kerl du bist?"

"Nein... Ich kann es eben..."

"Fast wie bei mir."

"Warum steuern Sie einen EVA? - Ich meine, ich war im Entry-Plug von EVA-04 und
es war furchtbar eng da drinnen."

"Die Konstrukteure waren der Ansicht, daß man sich dadrinnen nicht wohl fühlen
soll, aber du hast recht, es ist wie in einem verdammten U-Boot - entschuldige,
eigentlich wollte ich mir das Fluchen abgewöhnen."

"Von Asuka höre ich schlimmeres."

"Oh, diese Jugend..."

Shinji sah das Grinsen auf Larsens Gesicht und traute sich zu lächeln.

"Aber das hat deine Frage noch nicht beantwortet - ich steuere EVA-04, damit es
niemand anders tun muß. Und ich tue es, um die beschützen zu können, die ich lie-
be."

"...damit es niemand anders tun muß..."

"Genau. Ich habe mir die Aufzeichnung des Kampfes mit dem Engel noch einmal an-
gesehen. Und ich muß sagen, daß ich dich bewundere."

"Mich?" Shinji sah sich verstohlen um, ob er nicht jemand anderes meinen könnte.

"Natürlich. Du hast deinen EVA sehr gut unter Kontrolle und das ohne zusätzliche
Hilfe, wie ich sie habe."

"Aber ich bin danebengesprungen."

"Ich auch. Wichtig ist nur, daß der Engel gestoppt wurde, und das hast du sehr gut
gemacht."

"Danke." Plötzlich strahlten seine Augen.

"Vielleicht erkennt Fräulein Langley, daß ihr die Fähigkeiten, die ich nur durch
künstliche Hilfsmittel erlangen konnte, angeboren sind, daß sie nur die Konkurrenz
zu fürchten hat, die sie selbst für sich in ihrem Kopf erschafft... Daß man diese
Bürde ein paar Vierzehnjährige tragen läßt... Als ich in deinem Alter war, hätte
ich das nicht gekonnt - sieht man mal davon ab, daß ich zu diesem Zeitpunkt banda-
giert wie eine Mumie im Reha-Zentrum herumlag. Und wenn ich daran denke, daß man
eines Tages meine Tochter in so eine Maschine setzen könnte, wird mir ganz anders."

"Sie haben eine Tochter?"

"Ist das so seltsam? Hey, ich bestehe nur zu 59% aus kybernetischen Ersatzteilen!"

Shinji wurde rot.
"Tut mir leid."

"Ich habe doch schon gesagt, laß das mit den Entschuldigungen. Du kannst schließ-
lich nichts für meinen Zustand, oder den Second Impact."
Vorausgesetzt, man verneint die Theorie der Erbsünde.

"Ja... Wo ist ihre Tochter?"

"In Deutschland, ich konnte sie nicht mitnehmen, hier ist es zu gefährlich."

"Dann sehen Sie sie nicht oft."

"Nein, aber sie weiß, daß ich sie liebe. Sie ist sieben Jahre alt und das Licht
meines Lebens. Für sie steuere ich EVA-04, damit sie ohne Angst aufwachsen kann."

"Aber ohne Vater..."

"Ja... Hey, zieh nicht so ein Gesicht."

"Was?"

"Meine Tochter zieht immer dieselbe Grimasse, wenn sie etwas auf dem Herzen hat."

"Es ist nur..."

"Was? - Aber vielleicht geht es mich auch nichts an."

"Ihre Tochter tut mir leid. Mein Vater hat mich auch verlassen..."

"Kommandant Ikari? Es ist doch dein Vater, oder?"

"Ja, zumindest dem Namen nach. Er hat mich nur nach Tokio-03 und zu NERV ge-
holt, damit ich für ihn EVA-01 steuere, ansonsten existiere ich für ihn nicht."

"Das muß schwer sein. Dein Vater trägt viel Verantwortung, er muß die Welt vor
den Engeln beschützen, vielleicht hat er deshalb sein Herz verschlossen. Aber ich
bin mir sicher, daß auch du dort deinen Platz hast."

"Wenn Sie ihn kennen würden, würden Sie wahrscheinlich anders reden."

"Vielleicht."

"Haben Sie ein Bild Ihrer Tochter?"

"Nein, nur in meinem Herzen, meine Befehle zum Aufbruch kamen etwas überstür-
zend. Ich habe ihr aber versprochen, sie nächste Woche zu Weihnachten anzuru-
fen, wenn alles klappt, bekomme ich über die UN-Satelliten sogar eine Bildver-
bindung. Bis dahin zähle ich die Stunden."
Seine Augen schimmerten feucht.
"Aber das ist der Weg, für den ich mich entschieden habe. Und ich rede mir ein,
daß es auch in ihrem Interesse ist..."


***


Irgendwo

"Agent Seraph konnte vollständig ins Zielgebiet eingeschleust werden", drang eine
von Rauschen verzerrte Stimme aus verborgenen Lautsprechern. Er hat bereits das
Vertrauen des Third Children erringen können."

"Bestätigt. Danke. Fahren Sie fort, wie geplant."

"Bestätigt."

Die Verbindung brach zusammen.